Im "Hope" bekommen Straßenhunde und Obdachlose eine neue Chance

06.05.2019, 08:00 UhrIm

Glenn Greenwald, Anwalt, Enthüllungsjournalist und eine der zentralen Figuren im Fall Edward Snowden, gibt Menschen und Hunden nahe Rio de Janeiro mit dem Shelter "Hope" ein neues Zuhause.

Von Christoph Wöhrle

Mitten ins Konzert der Urwaldzikaden mischt sich Gebell. Wie ein Chor aus hohen Stimmen. Alternierend. Wer durch das Holztor geht, bekommt die volle Ladung Gastfreundschaft ab. Über sechzig Hunde kläffen und bellen aus vollem Hals, springen neben ihren Besuchern in die Luft, an ihnen hinauf, schnüffeln und lecken. Unmittelbare Emotionen.

Glücklich gemacht hat diese Hunde Glenn Greenwald, der 2013 Edward Snowden half, seine brisanten Informationen des NSA-Abhörskandals im britischen "Guardian" aufzubereiten und zu veröffentlichen, wofür die Zeitung den Pulitzerpreis erhielt. Heute lebt Greenwald in Rio de Janeiro, arbeitet immer noch als Journalist. Und als Weltverbesserer: 2016 baute er in der Nähe der Metropole ein Asyl für verstoßene Tiere, vor allem Straßenhunde. Es heißt "Hope", Hoffnung.

Und Greenwald dachte weiter. Seine Vision: Obdachlose sollen sich um die Hunde kümmern und dadurch wieder in ein normales Leben finden. "Sie haben oft einen ganz besonderen Draht zu den Hunden, zu Tieren allgemein. Am Ende profitieren beide Seiten", sagt Greenwald. Herr und Hund, beiden muss es gut gehen. Beide sollen wieder sesshaft werden. Glückliche Hunde machen auch den Menschen glücklicher.

Greenwalds Haus, an einem Hügel nahe Rios größter Favela Rocinha gelegen, ist feudal: Tropenholzmöbel, dunkle Dielen, ein Konzertflügel, ein Grammophon auf dem Sims eines Fensters, das den Blick freigibt auf einen Garten mit Urwaldpflanzen. Das Papier des Buchs, das auf dem Couchtisch liegt, ist vergilbt und furchig wie Zitronenschalen. In einer Ecke steht ein weißer Weihnachtsbaum aus Plastik. Man könnte vermuten, dass Greenwald, 52 Jahre alt, die Feste inzwischen feiert, wie sie fallen. Aber das Hundeasyl beweist, dass er seinem Leben selbst bedeutende Ereignisse hinzufügt – indem er gestaltet. Wenn er etwas herausstellen möchte, gestikuliert er nicht wild, er hebt die Stimme, spricht lauter. Ein geübter Redner. Nur manchmal schweift er ab. Wenn die Hunde kommen. Dann herzt er seinen Zwergpinscher Cane, Rassehund und ein bisschen snobby. Er kam von einem schwulen Paar aus Rios Nobelviertel Leblon, das ihn nicht mehr haben wollte.

24 Fellnasen bietet er Asyl

Greenwald liebt Hunde schon immer. Seinen ersten bekam er im Alter von sechs Jahren vom Vater. Später im Studium und als Anwalt fehlte die Zeit. Umso mehr genießt er es, heute mit 24 Fellnasen zu leben – natürlich könne er sich die Namen merken, sagt er. Die Liebe war es auch, die Greenwald nach Rio trieb. Er hatte seit Längerem, schon vor dem Scoop mit Snowden, das Gefühl, dass etwas fehlte. In Rio fand er Antworten auf die selbst gestellten Lebensfragen. Dort lebt er mit seinem heutigen Ehemann David Miranda, inzwischen Abgeordneter im brasilianischen Parlament. 2013 gründete Greenwald das englischsprachige Newsportal "The Intercept", das er von Brasilien aus betreibt.

"Mir sind die vielen Obdachlosen in Rio aufgefallen. Seitdem die wirtschaftliche Krise vor etwa fünf Jahren zurückgekehrt ist, werden es mehr", sagt Glenn Greenwald. Schon lange habe er sich gefragt, ob Obdachlose wohl Hunde hätten, weil sie bei Passanten so mehr Mitleid erregten. "Lange habe ich dieses Vorurteil in mir getragen. Doch irgendwann ist mir klargeworden: Diese Menschen haben keine sozialen Kontakte mehr. Keine Gesprächspartner. Niemand, der sie umarmt." Deshalb bräuchten sie einen Genossen, der mehr Empathie mitbringt, als es Menschen jemals vermögen: einen Hund. Was Greenwald noch auffiel: Diese Beziehung ist so eng, dass die meisten Obdachlosen nicht mal eine Leine für ihre Hunde brauchen – weil die auf ihre Herrchen hören. "Das kann ich von meinen Hunden nicht immer sagen", sagt er lachend.

Für ihn war klar, dass er für alle Beteiligten dieser gegenseitigen Abhängigkeit etwas tun wollte. Also sammelt er heute nicht nur Hunde ein, die von ihren Besitzern ausgesetzt wurden, sondern gibt Obdachlosen die Chance, sich im Projekt um die Tiere zu kümmern, ein wenig Geld damit zu verdienen und in ein Leben als Mensch in Würde zurückzugleiten. "Noch sind unsere Erfolge bei der Resozialisierung bescheiden. Es ist nicht leicht, mit diesen Menschen zu arbeiten." Sie seien oft drogensüchtig, psychisch krank und nicht immer verlässlich, sagt Greenwald. Deshalb sei es sein Ziel, auch Sozialarbeiter einzustellen.

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Zurück im Tierheim, zurück in Marecá, das in Rios Peripherie liegt, fast 50.000 Quadratmeter groß, ein Paradies voller tropischer Bäume. Die Limonen, Orangen und Sternfrüchte sind gerade reif geworden und verströmen ihre Düfte, in der Melange wie ein unwiderstehliches Parfüm. Kolibris küssen die Blüten an den Sträuchern. Hier treffen wir Karollyne Olavo und Marcelo Barros, die sich freuen, wenn Besuch kommt. Sofort bieten sie Kaffee an. Menschen sind sie so gute Gastgeber wie ihren Hunden gegenüber, auf die sie acht geben. Karollyne will sich schminken, um schön zu sein auf den Fotos, die jetzt geschossen werden. Und um zu zeigen, dass ihre Arbeit Früchte trägt, nicht nur der Garten. Auch bei diesen Hunden im Tierheim fällt auf, wie fokussiert sie auf das Jetzt sind. Menschen müssen für so einen Zustand lange meditieren. Ihren Partner Marcelo lernte Karollyne auf der Straße kennen, wo beide jahrelang lebten. Heute sind sie für das Tierheim mitverantwortlich, andere Obdachlose gibt es derzeit nicht in dem Projekt.

"Ich bin mit zwölf von zu Hause abgehauen. In meiner Kindheit wurde ich sexuell missbraucht. Zur Schule bin ich nur fünf Jahre meines Lebens gegangen. Die Straße war für mich mein Zuhause. Teilweise schlief ich unter Brücken", erzählt Karollyne, die eine Transfrau ist. In einem Land des Machismo, das Brasilien immer noch ist, hat es schwer, wer im falschen Körper geboren ist. Menschen wie ihr bleibt in Brasilien nur die Prostitution, oft werden sie Opfer von sogenannten Hate Crimes. Karollyne erzählt keine Details, aber wenn man ihr Gesicht ansieht, meint man, lesen zu können, dass diese Frau schon viel aushalten musste in ihren 40 Lebensjahren. Ihr Lebensgefährte Marcelo ist 36 Jahre alt, wirkt aber viel älter. Er hat einen für Obdachlose typischen Abstieg erlebt: zerbrochene Partnerschaft, Jobverlust, Verarmung. Als er weder den Unterhalt für seine vier Töchter noch seine Miete zahlen konnte, verlor er alles, nahm auf der Straße Heroin und andere Drogen. "Ich habe mich fast kaputtgemacht", sagt er.

"Hunde waren für mich immer bessere Freunde als Menschen"

Dann traf er Karollyne. Sie lebten eine Zeit lang in einem verlassenen Haus in Rio mit anderen Obdachlosen. Dort nahmen sie auch etwa 25 Straßenhunde auf, zudem versorgten sie etliche Katzen. Karollyne war die Chefin der Gruppe. "Hunde waren für mich immer bessere Freunde als Menschen", sagt sie. In ihrem Haus lernten sie eines Tages Glenn Greenwald kennen, der wegen der vielen Hunde, die da herumliefen, auf die Wohngemeinschaft aufmerksam geworden und schnell fasziniert war. Das ging so weit, dass er einen Film über Karollynes Leben drehte. Es war der Anfang ihrer Zusammenarbeit. Die Drogen habe er nun hinter sich, sagt Marcelo und lächelt mit klaffenden Zahnlücken. Karollyne und er leben in einem kleinen Haus neben der eingezäunten Auslauffläche, zwischen Pool und Zitrusfrüchten. "Uns geht es jetzt besser", sagt Karollyne.

Es gibt Schätzungen, dass in Brasilien mehrere Millionen herrenlose Hunde auf der Straße leben. Wie überall auf der Welt lassen ihre Halter sie einfach irgendwo angebunden zurück, bevorzugt in der freien Natur. Wenn der Hund nicht mehr zur Lebensplanung passt, wird er abgeschoben. Zugleich wächst die Zahl der Obdachlosen stetig. Allein in São Paulo sollen es weit über 15.000 Menschen sein. In Rio waren es bei der letzten Zählung 2013 über 5000. In einem Land, das kaum Sozialsysteme kennt, ist der Abstieg schnell Realität. Als reiche das nicht, nimmt die Polizei den Obdachlosen manchmal sogar noch das einzige Bezugswesen weg und kassiert die Hunde ein, so erzählen es zumindest Obdachlose am Strand von Copacabana.

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Wer auf wen acht gibt, der Mensch auf den Hund oder eher umgekehrt, ist häufig nicht genau festzumachen, auch im Projekt von Glenn Greenwald nicht. Manchmal übernehmen jedoch ganz klar die Hunde die Aufsicht. Einmal fing der Kühlschrank nachts nach einem Kurzschluss an zu brennen. Einer ihrer Lieblingshunde sprang auf das Bett und biss Karollyne und Marcelo in die Füße, damit sie aufwachten, und rettete ihnen so das Leben. Wenn sie das erzählen, wirken sie wie stolze Eltern. Der angekokelte Kühlschrank steht noch heute wie ein Mahnmal in der Küche. Der Hund heißt seither Rosira Bombeira, "bombeira" bedeutet auf Deutsch Feuerwehrfrau. Das Weibchen gehört zu den wenigen Hunden, die immer um Karollyne und Marcelo herumstromern dürfen.

Für die Tiere da zu sein, sei für sie ihr Leben

Eine Hierarchie im Rudel gibt es auch im Tierheim. Die Feuerwehrfrau hat seit dem Vorfall an Selbstvertrauen gewonnen. Ganz im Gegensatz zur schwarzen Mischlingshündin, die sie hier "die Dicke" nennen. "Sie muss ein bisschen Diät halten", sagt Karollyne. Die Hunde bekommen zweimal am Tag zu fressen, nicht nur Fleisch, sondern auch Reis und Gemüse. Es geht den Tieren gut im Asyl, das spürt man, wenn man dort ist. Greenwald selbst sagt über seine Mitarbeiterin Karollyne: Für die Tiere da zu sein, sei für sie ihr Leben.

Und das stimmt. Ein Wort von ihr genügt, und das Rudel hört. Sie ist die Hundeflüsterin. Sie nimmt die Hunde, wie sie sind, mit ihrem ganzen Wesen. Jedes Tier hat seine Rolle: Die älteren Hunde beruhigen die Gemüter bei Streit im Rudel, die jüngeren dürfen auf der großen Auslaufstrecke voller Verve spielen. Wenn eine Straßenhündin dazukommt und ein paar Tage später sechs Welpen gebiert, dann ist das eben so. Man hat das Gefühl, dass diese Tiere auf die schwachen Mitglieder aufpassen. Manche der Neuankömmlinge leiden an Verletzungen wie lahmen Beinen, einer Hüftgelenkdysplasie, an Krankheiten wie einer Pilzinfektionen oder Ungeziefer. "Wir bekommen die Medikamente, die die Hunde brauchen, und man erklärt uns, was sie wie und wann einnehmen sollen. Geimpft werden sie auch", sagt Karollyne, die zusammen mit Marcelo auch auf giftige Kobras gefasst sein muss, wenn die sich hier über die gemähten Wiesen schlängeln.Im

Das Tierheim lebt von Spenden

Ein großes Ziel von Glenn Greenwalds Shelter ist es, dass jeder Hund irgendwann wieder ein Zuhause bekommt. Tierfreunde, die sich einen Hund anschaffen möchten, können sich bei "Hope" melden. Öffentliche Gelder bekommt Greenwald nicht für sein Projekt, sein Tierheim kann nur dank Spenden überleben. Eine Crowdfunding-Kampagne läuft schon seit 2017 auf www.gofundme.com. Sie hat bislang 105.000 US-Dollar eingebracht. "Die Brasilianer halten sich zurück. Für Tiere etwas zu spenden, ist hier nicht üblich. Unsere Geldgeber kommen eher aus den Vereinigten Staaten und Kanada", sagt Greenwald. Er möchte im nächsten Schritt die Zahl der aufgenommenen Hunde erhöhen. Und, wenn das möglich ist, auch andere öffentliche Persönlichkeiten zur Hilfe inspirieren. Sein Ehemann David Miranda will sich als Politiker verstärkt für Tierrechte und Tiergesundheit einsetzen.

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Wie reagiert Greenwald, wenn er manchmal zu hören bekommt, er solle sich lieber um die Menschen sorgen und weniger um die Tiere? Jetzt redet Greenwald lauter und man merkt, wie sehr er sich über diese Stimmen ärgert. "Erstens tun wir etwas für Obdachlose, das sind auch Menschen. Und zweitens hat ein Tier genauso Fürsorge verdient. Die Hauptsache ist doch, überhaupt etwas zu bewirken." Eine Gesellschaft, die nicht gut zu Tieren ist, ist nicht gut zu sich selbst, das lässt sich in Brasilien ablesen.

Einen Tag später. Ein junger Mann liegt zwischen einem Baum und einem geparkten Auto in einer Parallelstraße zu Rios Strandmeile von Leme und herzt seine Mischlingshündin. Auf dem freien Oberkörper prangt eine Tätowierung, das Vereinswappen des Fußballclubs River Plate aus Buenos Aires. Der Obdachlose Daniel Lula, 29 Jahre alt, kommt aus Argentinien, weshalb ihn die anderen auf der Straße nur Gringo nennen. Maluca nennt er seine Hündin, was so viel wie Verrückte heißt. "Deshalb passen wir so gut zusammen", sagt Daniel. Er sammelte die junge Hündin am zwölften Dezember vergangenen Jahres irgendwo im Bundesstaat São Paulo auf, nachdem sie ein Auto überfahren hatte. Und sie blieb bei ihm. Als spräche Greenwald durch ihn, sagt Daniel: "Ich habe auf der Straße zu niemandem Vertrauen, außer zu meinem Hund. Es gibt kein treueres Wesen. Und keine engere Freundschaft." Er nehme keine Drogen, wolle wieder auf die Beine kommen. Man könnte sagen: Maluca ist Daniels Antidepressivum. Sie macht die Straße erträglicher. Der Argentinier verdient die Nahrung für sich und seinen Hund, indem er Wasser und Bier am Strand von Copacabana verkauft. Seine Familie zu Hause wisse nicht, wie es ihm gehe. Als er seinen Job als Gabelstaplerfahrer verloren habe, sei er zu stolz gewesen, wollte nicht um Hilfe bitten. Er wolle bald nach Hause Richtung Mendoza ziehen, heim nach Argentinien, seinen Vater einweihen und es noch mal versuchen mit der Sesshaftigkeit.

Daniel hat noch nie von Glenn Greenwald gehört. Aber er sagt, es sei nie zu spät, für sich zu hoffen.

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