Noch immer herrschen Verwüstung und Chaos: Wie Sinzig ...

In Sinzig in der Gerhardt-Hauptmann-Straße hörte ein Anwohner zehn Minuten, bevor die Flutwelle kam, ihr lautes Grollen. Er hielt seine pflegebedürftige Mutter zwei Stunden auf den Armen, damit sie nicht ertrinkt. Sie wurde durch ein eingeschlagenes Fenster von der Feuerwehr gerettet und ins Krankenhaus gebracht. Der Sohn weiß auch am Samstag noch nicht, ob sie noch lebt, weil er keinen Kontakt zum Krankenhaus bekommt. Freunde und ihm fremde junge Männer helfen, das Haus von Schlamm zu befreien. Meine Nachbarn in Koisdorf rüsten sich, um Freunde aus Bad Bodendorf umzusiedeln. Deren Haus steht wie viele andere unter Wasser. Sie erzählen, dass im Ahrweiler Kanonenwall viele nebeneinanderliegende Leichen gesehen wurden. Die Toten des Friedhofs lägen in den Gärten der Schützenstraße. Dort, wo mein altes Zuhause war.

Die Meldungen, die mich erreichen, erfolgen in immer kürzeren Abständen. So viele Tote. Ich bin gerade am Helenensaal, wo mir Daniela Moravec von der Stadtverwaltung erklärt, dass sie außer Wasser derzeit keine Hilfsmittel mehr annehmen können. Der Helenensaal ist übervoll mit Kleidung, Spielsachen, Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Tierfutter. In der Bad Breisiger Jahnhalle soll es ähnlich aussehen. Auch der Saal der Koisdorfer Wendelinusstraße ist voll mit Hilfsgütern. Bis zum Samstagnachmittag sollen nur rund zehn Hilfsbedürftige gekommen sein, um sich mit dem Notwendigsten einzudecken. „Ich nehme an, in dieser Phase sind die Menschen allein mit den Aufräumarbeiten beschäftigt, wissen noch gar nicht, was sie verloren haben und brauchen – dabei stehen ihnen Hochwassertouristen im Weg. Man könnte heulen“, sagt Daniela Moravec. Dabei ist die Hilfsbereitschaft der Menschen riesig. Aus Ochtendung wollte jemand mit drei Sattelzügen voller Hilfsgütern kommen.

Gerade hält ein Transporter aus Bornheim. Sie haben in ihrem Fitnesscenter gesammelt, doch die Kleidung und Schlafsäcke werden nicht mehr angenommen. Ich nehme ein paar T-Shirts, Pullover und Hosen für meinen Bekannten mit, der seit Donnerstagmorgen bei mir wohnt, weil sein Haus in der Kripper Straße neben der abbruchreifen Caritas-Behindertenwerkstätte unbewohnbar ist. Bedürftige, die nicht selbst kommen können, sollen sich bei der Stadt melden, so Daniela Moravec „Wir bringen die Sachen auch, wenn nötig, vorbei. Es wäre schlimm, wenn wir Lebensmittel wegwerfen müssten, aber ich denke, ab Mittwoch werden die Leute dann eher kommen“, meint sie.

Dann kommt der Anruf. In der Straße „Am Teich“ sollen die Tiefgaragen der großen Häuser mit den Sozialwohnungen überspült sein. Am Kreisel Ausdorfer Straße hat die Polizei den Weg in die Stadt hinunter gesperrt. Ich nehme einen Schleichweg, am Vieux Sinzig parke ich mein Auto und renne in Richtung Brücke in der Kölner Straße. Auf der anderen Seite am „Grünen Weg“ sind Rettungskräfte und unzählige mit Schlamm bedeckte Menschen unterwegs, die die Aufräumarbeiten an den Häusern vornehmen. Es sind auffallend viele junge Personen unter ihnen. Der Unrat türmt sich meterhoch an den Straßenrändern.

In der Straße „Am Teich“ erkundige ich mich beim THW nach dem richtigen Ansprechpartner. Aber ich komme nicht mehr dazu, mit ihm zu sprechen. Und dann sorgt eine bewusst in die Welt gesetzte Falschmeldung für Panik. Der junge Mann vom THW erhält einen Funkspruch. Dann brüllt er: „Der Damm, die Talsperre ist gebrochen! Sofort alle weg hier! Sofort raus hier!“ Ich renne, so schnell ich kann, gebe brüllend die Nachricht weiter an Menschen, die mir entgegenkommen. Dann rufe ich meinen Lebensgefährten an, der in der Gerhardt-Hauptmann-Straße hilft. Er brüllt mich an: „Es kommt eine neue Welle, du musst da weg. Mach, dass du wegkommst! Irgendwohin, wo es hoch ist!“ Hinter mir weinen zwei Mädchen und fragen: „Überleben wir das? Sterben wir jetzt? Überleben wir das?“ Überall sind nur noch rennende Menschen in totaler Panik. Bilder des Tsunami in Thailand geistern mir durch den Kopf.

Meine Hände zittern, ich schließe mein Auto auf und fahre am Vieux Sinzig rechts rein und in Richtung Westumer Straße. Eine junge Frau vom THW, die ein Funkgerät in der Hand hat, ruft mir zu: „Das war eine Falschmeldung, die in Dernau sind schon alle wieder zurück!“ Das ist mir dann egal. Weiß nicht, was stimmt oder nicht, hupe die Autos vor mir an, die nicht fahren wollen. Dann bin ich in Koisdorf an meinem Zuhause.

Mein Lebensgefährte ist mit einem anderen Helfer in Richtung Bad Breisig gefahren und steht nun auf der Brücke am Industriegebiet „Goldene Meile“. Ich versuche, meine Nachbarn zu erreichen, die wohl noch in Bad Bodendorf sind. Vergeblich. Keine der Nummern ist erreichbar. Zwei mit Schlamm überzogene Männer kommen vorbei. Sie waren unter denen, die ich brüllend gewarnt hatte. Der eine hat zwei Häuser in der Straße „Am Teich“ verloren. Eine völlig aufgelöste junge Frau fährt mit ihrem Wagen vor. Sie war aus Polch gekommen, um im „Grünen Weg“ Freunden zu helfen. „Was ist denn jetzt, kommt da jetzt noch Flut oder nicht?“ Wir wissen es nicht. Sie ruft am ganzen Leib zitternd ihre Familie an, die sie anbrüllt, wie unvernünftig sie sei, da überhaupt hinzufahren. „Wir sind gerade evakuiert worden! Da kann man auch mal emotional werden“, brüllt sie zurück. Dann ist das Akku vom Handy leer. Ich hole Tee und Cracker. Wir kommen allmählich runter. So sitzen wir fast zwei Stunden und reden. Der Lebensgefährte kommt. Die Nachbarn kommen zurück. Alle wieder da. Gott sei Dank.

Ich fahre noch zum Rewe, um etwas einzukaufen. In dem Laden nahezu nur mit Schlamm überzogene Menschen. Auf dem Parkplatz begegne ich den Stadtratsmitgliedern Hartmut Tann und Theresa Ueberbach. Während eine ganze Kolonne des Bevölkerungsschutzes Baden-Württemberg an uns vorbeizieht, erzählen wir uns, was wir erlebt haben und was wir wissen. Friedhelm Münch habe weinend angerufen und erzählt, dass eine Frau ihren vierjährigen Sohn in den Fluten nicht mehr habe festhalten können. Dann erfahre ich, dass ein alter Freund ertrunken ist, ein Arzt aus der Kreisstadt. Ein Bekannter ruft an, der bei der Feuerwehr in Dernau im Dauereinsatz war. Sein uraltes Haus ist wie so viele durch die Flut unbewohnbar. Er hat an diesem Tag alles hingeworfen und ist zu seinen Kindern gefahren, weil er es nach den Dauereinsätzen nicht mehr aushielt. „Da wirft das Enkelchen einem dann einfach so ein Lächeln ins Gesicht ...“, sagt er.

Am Sonntag treffe ich Bürgermeister Andreas Geron an der Jahnwiese, wo sich der Müll stapelt. „Jetzt haben wir so lange überlegt, wie wir die Jahnwiese nutzen können. Jetzt haben wir die Lösung: eine Müllhalde“, meint er sarkastisch und weist auf die andere Sammelstelle auf dem Kompostiergelände des Bauhofs am Ende der Kölner Straße hin.

Geron hat durch die Katastrophe eine erste Erkenntnis gewonnen: „Wie gut, dass wir mit dem Bau des Feuerwehrgerätehauses gewartet haben. Der Platz hat sich als ungeeignet erwiesen.“ Eine gute Nachricht hat er auch: Die Sozialbauten in der Straße „Am Teich“ seien laut einem ersten Statiker sicher. Es soll aber noch ein zweiter durchgehen, wie der Bürgermeister berichtet.