Wie man sich bettet ...: Ausländerin bei der Arbeit in einem Zürcher Hotel. Foto: Gaëtan Bally (Keystone)
Die Messung der Effekte der Personenfreizügigkeit (PFZ) gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben der ökonomischen Forschung. Wir haben die volle PFZ erst seit 2007, und seither ist so viel anderes passiert, dass es schwierig ist, all die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Konjunktur und das Pro-Kopf-Wachstum klar zu unterscheiden und zu identifizieren.
Besonders rätselhaft scheint mir immer noch das Verhältnis zwischen Konjunktur und PFZ zu sein. Im neusten Observationsbericht heisst es (Quelle):
Der Grund für die hohe Zuwanderung ist in der – trotz erheblicher konjunktureller Turbulenzen und eines zuletzt schwierigen Währungsumfelds – insgesamt günstigen wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz in diesem Zeitraum zu sehen.
Hier wird davon ausgegangen, dass sich die schweizerische Konjunktur unabhängig von der Wanderung entwickelt hat. Das ist nicht plausibel. Konjunktur und Einwanderung sind kaum voneinander zu trennen. Die Einwanderung erzeugt zusätzliche konjunkturelle Effekte und umgekehrt.
Ursache und Wirkung
Der Satz ist auch in sich widersprüchlich. Einerseits ist von konjunkturellen Turbulenzen und einem schwierigen Währungsumfeld die Rede, was in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte immer zu Rezession oder Stagnation geführt hat, anderseits ist die Rede von einer insgesamt günstigen wirtschaftlichen Entwicklung.
Dass das Verhältnis zwischen Konjunktur und PFZ wechselseitig ist, erkennt man sofort, wenn man die Entwicklung des Wanderungssaldos seit den frühen 90er-Jahren betrachtet. Im Jahr 2010/11 wertete sich der Franken massiv auf, trotzdem nahm die Nettowanderung im Jahr 2011 weiter zu und blieb 2012 konstant.
Auch die Beschäftigungsentwicklung zeigt, dass Ursache und Wirkung nicht leicht voneinander zu trennen sind. In der Industrie wurden seit der Finanzkrise netto keine Stellen geschaffen (Quelle). Dies deutet auf eine sektorale Stagnation hin, aber sie hatte kaum Auswirkungen auf das Wachstum der Gesamtbeschäftigung. Der Frankenschock von 2010/11 hat praktisch keine Spuren hinterlassen. All das ist höchst erklärungsbedürftig.
Wahrscheinlich werden wir die ökonomischen Effekte der PFZ erst in zehn Jahren richtig verstehen. Besonders spannend wird es werden, falls in den nächsten paar Jahren die EU-Wirtschaft und die Schweizer Wirtschaft gleichzeitig boomen. Zwei Szenarien sind denkbar:
Der Boom der EU-Wirtschaft führt zu einer Abwanderung aus der Schweiz, weil die Leute wieder zurück in ihr Land gehen, um einen Job anzunehmen. Die Schweiz wird dann unter Arbeitskräfteknappheit leiden.
Die Zuwanderung in die Schweiz nimmt wegen der hohen Nachfrage und der hohen Löhne weiter zu.
Im ersten Fall würde die Arbeitslosigkeit stark abnehmen. Ob sie im zweiten Szenario auch abnehmen würde, ist eine offene Frage. Wenn sie nicht abnimmt, muss man die Frage der Verdrängung neu beurteilen.
Kein Konsens in Sicht
Die politische Debatte wird je nach Szenario ganz unterschiedlich ausfallen. Beim ersten Szenario wird die Debatte vorübergehend ruhiger werden. Beim zweiten Szenario ist damit zu rechnen, dass die Parlamentswahlen von 2019 im Zeichen der Einwanderungsfrage stehen werden – vor allem, wenn die Arbeitslosigkeit trotz Boom nicht abnehmen sollte.
Das letzte Mal, als die Schweiz über die Einwanderungsfrage in einer ähnlichen Intensität diskutierte wie heute, war vor fünfzig Jahren. Es dauerte damals mehr als zehn Jahre, bis sich die Gemüter wieder beruhigten. Entscheidend war die starke Rezession von 1975, die den Bedarf an ausländischen Arbeitskräften bremste. Es dürfte auch diesmal lange dauern, vielleicht sogar länger als zehn Jahre, bis es einen Konsens bezüglich PFZ gibt.