Teil 2: Vom Religionsgründer zum Bürgerschreck
1908 erschien William Somerset Maughams Roman The Magician. Das Vorbild für die Titelfigur, den Satanisten Oliver Haddo, war Aleister Crowley. Zu Crowleys Leidwesen bemerkte das aber kaum jemand, weil er noch immer ziemlich unbekannt war, obwohl er seit zehn Jahren daran arbeitete, berühmt zu werden. Alles änderte sich, als er als Theaterimpressario auftrat und als Herausgeber einer Zeitschrift verklagt wurde.
Teil 1: Geheime Meister, Scarlet Women und die Goldene Dämmerung - Crowley wird Magier
Als Crowley damit begann, die Welt auf sich aufmerksam zu machen, besaß er etwa 40 000 Pfund. Damals war das ein Vermögen. Sicher angelegt, hätte er davon bis ins hohe Alter bequem leben können. Aber das war nicht seine Art. Das Geld wendete er für Reisen auf, für einen exzentrischen Lebensstil und für schön gestaltete, von ihm selbst finanzierte Bücher, bei denen die Kosten keine Rolle spielten. Am ruinösesten war The Equinox, das offizielle Organ des von Crowley gegründeten okkulten Ordens, des A.A. Es ist zugleich seine größte verlegerische Leistung. Die Halbjahres-Zeitschrift (jeweils über 400 Seiten) erschien von 1909 bis 1913, in einer Auflage von 1 050 Exemplaren (50 davon als besonders edle Subskriptionsausgabe). Der Großteil der Beiträge, meistens von Crowley selbst geschrieben, behandelte Fragen der Magie, informierte über Yoga und ausgewählte mystische Disziplinen. Captain Fuller lieferte Illustrationen und steuerte eine neunteilige "spirituelle Biographie" Crowleys bei, The Temple of Solomon the King. Weil Crowley den künstlerischen Ausdruck als eine Form wahrer geistiger Errungenschaft betrachtete, war The Equinox auch eine Literaturzeitschrift.
Der Magische Krieg
Bei der Aufnahme in den Golden Dawn hatte sich Crowley zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet. Jetzt sah er eine Gelegenheit, den magischen Krieg um die Führung des Ordens für sich zu entscheiden. Ein bisschen erinnert das Ganze aber auch an kleine Kinder, die etwas kaputtmachen, wenn sie es nicht kriegen können. Crowley brach seinen Eid und begann mit der Veröffentlichung der Geheimlehre seines Gegenspielers, S.L. Mathers. Das breite Publikum hätte davon nichts mitbekommen, wenn Mathers nicht versucht hätte, die Auslieferung von The Equinox auf juristischem Wege zu verhindern. Mathers siegte in der ersten, Crowley in der zweiten Instanz (März 1910). The Equinox durfte wieder ausgeliefert werden. Die Presse berichtete unter dicken Überschriften wie "Geheimnisse des Golden Dawn" (Evening News) und lobte Mr. Crowley, dessen Enthüllungen die Rosenkreuzer oder wen auch immer in helle Aufregung versetzt hätten (jeder suchte sich die okkulte Gruppe heraus, die ihm gerade passte). "Zum ersten Mal", schreibt Crowley, "machte ich die Erfahrung, dass ich berühmt und dass mein Werk gefragt war." Er lässt weg, dass beide, er und Mathers, vor Gericht lächerlich gemacht wurden. Sogar Crowleys Anwalt machte sich über seinen Mandanten lustig.
The Equinox: Geheime Meister, Scarlet Women und die Goldene Dämmerung - Crowley wird Magier verkaufte sich gut. Fullers Einschätzung nach hätte man mit dieser Zeitschrift Geld verdienen können. Aber Crowley wollte sich nicht nachsagen lassen, aus dem Okkulten finanzielle Vorteile zu ziehen oder gar niedere Magie zu betreiben. Also setzte er einen Preis fest, der nicht einmal die Herstellungskosten deckte. Das fraß einen beträchtlichen Teil von dem auf, was von seinem Erbe noch geblieben war. Doch die Zeitschrift zog auch eine bunte Schar von Interessierten an und half ihm, eine kleine, bunte Gemeinde um sich zu versammeln. Der Cambridge-Student Victor Neuburg war Freidenker und Poet. G.M. Marston diente im Rang eines Commanders bei der Royal Navy. Die schöne Musikerin Leila Waddell war Australierin mit Maoris als Vorfahren. Auch wenn in vielen Artikeln über Crowley etwas anderes steht: sie war nie seine Scarlet Woman. Man konnte zu seinem Zirkel gehören und Sex mit ihm haben, ohne sich für seine Magie interessieren zu müssen, wurde weder hypnotisiert noch mit Drogen gefügig gemacht.
Crowley hatte eine Idee, wie man doch noch Geld verdienen konnte. Er mietete einen Saal, um dort an sieben aufeinander folgenden Mittwochen die "Eleusinischen Riten" aufzuführen. Jeder Abend war einem Planeten gewidmet. Es gab exotische Düfte und magische Rituale, Gedichte wurden rezitiert, Leila Waddell spielte auf der Geige, Victor Neuburg führte ekstatische Tänze auf. Alle Beteiligten wuchsen über sich hinaus, was Crowley auf seinen magischen Einfluss zurückführte (er soll mit Peyote ein wenig nachgeholfen haben). In manchen, viel später verfassten Darstellungen kann man lesen, dass Crowley zum Gruppensex auf die Bühne bat. Das passt wieder ins Klischee und ist sicher falsch. Es ist kein einziger Fall bekannt, in dem er seine direkte Form der Sexualmagie mit mehr als maximal zwei Partnern praktizierte. Wenn Zuschauer dabei waren, arbeitete er mit Symbolen. Der in sexuellen Dingen äußerst konservative Fuller hat glaubhaft versichert, die Eleusinischen Riten seien so unschuldig gewesen, dass er sogar seine Mutter mitnehmen konnte.
Rituale und schwule Hedonisten
Die Zeitungen reagierten freundlich bis verwirrt auf Crowleys Abendveranstaltungen. Aber im Oktober 1910 erschien im Skandalblatt The Looking Glass der erste von vier Artikeln, in denen viel von Blasphemie, Unmoral und Gefahren für junge Frauen und Mütter die Rede war sowie darüber spekuliert wurde, was sich wohl in der Dunkelheit abspielen mochte (es gab nur Kerzenlicht). Einen Aufguss bot Anfang November John Bull. Der Korrespondent dieses Revolverblatts hatte noch beizutragen, dass er im Dunkeln von einem Mann mit Schnurrbart geküsst worden sei. The Looking Glass legte nach und kolportierte allerlei Unvorteilhaftes aus Crowleys Vergangenheit beim Golden Dawn. Es sei, hieß es, zu "unnennbaren Intimitäten" mit anderen Männern gekommen. Im selben Absatz wurde auch Crowleys treuer Weggefährte George Cecil Jones genannt. Die Informationen kamen von Mathers, der auf diese Weise Rache nahm.
Jones war ein ehrbarer Familienvater mit vier Kindern und bürgerlichem Beruf. Jetzt stand indirekt über ihn in der Zeitung, dass auch er schwul sei. In einer homophoben Gesellschaft wie der britischen konnte das schlimme Konsequenzen haben. Sekundiert von Fuller und Neuburg forderte er Crowley auf, The Looking Glass zu verklagen. Alle drei müssen gewusst haben, dass Crowley bisexuell war. Aber Crowley war auch eine Art von Messias für sie. Vermutlich dachten sie, dass er die ganze Angelegenheit vor Gericht auf eine höhere Ebene heben würde, auf der es nicht mehr um sexuelle Präferenzen ging. Crowley lehnte ab. Also klagte Jones.
Beim Prozess wurde in erster Linie über Aleister Crowley verhandelt. Er selbst saß im Publikum. Die Gegenseite hatte ihn aus taktischen Gründen nicht vorgeladen. Jones hoffte auf seine Hilfe, erzwang sie aber nicht. Als Gentleman ließ man einen Freund, der nicht für einen aussagen wollte, nicht vorladen. Das war eine Frage der Ehre. Der heterosexuelle Fuller, der ebenfalls eine bürgerliche Existenz zu verlieren hatte, trat in diesem Prozess um Blasphemie, Pornographie und Sodomie (damals der juristische Fachbegriff für gelebte Homosexualität) für Jones in den Zeugenstand. Das erforderte Mut, half aber nichts. Jones verlor. Die Zeitungen warnten ihre Leser vor Aleister Crowley, dem perversen und gottlosen Führer einer Hedonistensekte. Jetzt war er berüchtigt.
Oscar Wildes Penis: Crowley provoziert
Viele Mitglieder des A.A. waren enttäuscht von Crowley. Einige brachen den Kontakt zu ihm ab. Er und Fuller sahen sich nach dem Prozess nie wieder; damit verlor er seinen wichtigsten Unterstützer. Der A.A. wurde nie formell aufgelöst, man konnte weiter Mitglied werden, aber in einem praktischen Sinn existierte er nicht mehr. Crowley konnte sich anderen Aufgaben widmen. Im November 1911 fuhr er nach Paris. Der Bildhauer Jacob Epstein hatte für das Grab von Oscar Wilde eine umstrittene Statue mit nacktem Penis geschaffen. Die Behörden hatten den Penis mit einem Tuch verhüllt. Crowley kündigte öffentlich an, das Tuch entfernen zu wollen. Als er den Friedhof betrat, war kein Polizist da, um ihn daran zu hindern, aber wenigstens stand er wieder in Pariser und Londoner Zeitungen, die er vorab informiert hatte. Die Aktion überrascht, wenn man bedenkt, mit welcher Vehemenz Crowley früher schwule Intellektuelle attackiert hatte, die nach Wildes Verurteilung dessen Partei ergriffen hatten. Die Scheinheiligkeit der Viktorianer war ihm gut bekannt. (Die Behörden ließen den Penis dann, feigenblattmäßig, mit einem bronzenen Schmetterling bedecken; Crowley entfernte auch den Schmetterling.)
Inzwischen hatte Crowley eine neue Scarlet Woman gefunden. Mary Dempsey war eine Amerikanerin irischer Abstammung, hatte sich aber in den Kopf gesetzt, zum italienischen Adel zu gehören. Ihrer Meinung nach hieß sie in Wirklichkeit d’Este, was sich mit der Zeit zu Dempsey abgeschliffen habe. Mary d’Este kam zu Geld, als sie den Börsenmakler Solomon Sturges heiratete, der auch ihren unehelich geborenen Sohn adaptierte. Mit diesem Sohn ging sie 1911 auf große Europareise, um die Stätten ihrer "Ahnen" zu besuchen. Von den echten d’Estes wurde sie prompt verklagt, worauf sie als Mary Desti weiterreiste. Ihr Sohn, Preston Sturges, drehte später einige der besten Hollywood-Komödien (The Lady Eve, Sullivan’s Travels). Aus seiner Autobiographie:
Crowley hielt den damals 13-jährigen Preston übrigens für einen "gottverlassenen Flegel". In Zusammenarbeit mit Mary Desti entstand eines seiner wichtigsten Bücher. Book Four führt in einer flotten, klaren Sprache in Yoga und zeremonielle Magie ein, wirft die bis dahin üblichen verschwurbelten Frömmeleien über Bord und appelliert an den gesunden Menschenverstand. Auf psychologischer Grundlage wird für eine Magie geworben, die dazu dient, bisher ungenutzte Kapazitäten des eigenen Geistes zu aktivieren und zu entwickeln. In Book Four ersetzt Crowley das Wort magic erstmals durch die ältere, vorromantische Schreibweise: magick. Kurz darauf veröffentlichte er eines seiner besten Bücher, das großteils als Prosagedicht abgefasste Book of Lies. Man muss sich aber erst einlesen, was am Anfang nicht ganz einfach ist.
Im Mai 1912 bekam Crowley Besuch von Theodor Reuß, dem Führer des sich auf die Templer berufenden Ordo Templi Orientis (O.T.O.). Reuß warf ihm vor, im Book of Lies die geheimsten Geheimnisse des Ordens verraten zu haben, was Crowley noch gar nicht wusste und auch den Leser seiner Bekenntnisse überrascht, weil das Buch erst 1913 erschien. Jedenfalls begeisterte sich Crowley nun für diesen Orden und wurde von Reuß auch gleich in dessen höchsten Rang aufgenommen. Auf Bitten von Reuß tat er das, was Mathers für den Golden Dawn geleistet hatte: Er schrieb für den O.T.O. neue Rituale. Dabei wollte er den O.T.O. so umbauen, dass er mit seiner eigenen Religion vereinbar (um nicht zu sagen: von dieser geschluckt) wurde. Als seinen magischen Namen wählte er "Baphomet". Herkunft und Bedeutung des Wortes sind umstritten. Der Legende nach war Baphomet eine von den Templern angebetete Götzenfigur. Nach Ansicht der Inquisition stand er für Mohammed oder für den Teufel. Crowley war seinem Satanisten-Image ein Stück nähergekommen.
Die ironische Übertreibung war Crowley immer lieber als das humorlose Dementi. Bei seinen Gegnern setzte er ein Ironieverständnis voraus, das diesen meistens fehlte. Als er jetzt begann, von sich als "der Dämon Crowley" zu sprechen, nahmen das viele wörtlich. Band 10 von The Equinox enthielt ein berühmtes Frontispiz. Das Photo zeigt Crowley mit starrem Blick und kahlrasiertem Schädel. Seine Feinde nahmen das Geschenk dankbar an. Das Photo wird seither immer wieder reproduziert, wenn der Crowley, der Unhold gezeigt werden soll.
Vaterlandsverrat mit Kaiser Wilhelm: Crowley in Amerika
Bei Kriegsausbruch wollte Crowley seinem Land dienen; das Land lehnte dankend ab. Er reagierte auf die für ihn charakteristische Weise. In Deutschland sah er jetzt den Garanten einer Wiederbelebung der keltischen Kultur (er selbst hatte keltische Wurzeln), den Befreier Irlands und Schottlands von englischer Knechtschaft. Mit diesem Gefühl scheint er Ende 1914 nach Amerika gefahren zu sein. Dort angekommen, inszenierte er am Fuße der Freiheitsstatue etwas, das man später als Happening bezeichnet hätte: er rief die Republik Irland aus und verbrannte einen Umschlag, in dem sich angeblich sein britischer Reisepass befand. Leila Waddell spielte dazu auf der Violine.
In den USA erfuhr Crowley, was Armut heißt. Er hatte kein Geld und fand kaum Leute, die er anpumpen konnte. Zu Geld kam er, weil er Artikel für die von Deutschland subventionierte Zeitschrift The Fatherland schrieb. Das Blatt machte Propaganda für Deutschland und Stimmung gegen den von den Briten erhofften Kriegseintritt der USA. Crowley trug Abfälliges über England bei. Bis heute ist die Frage nicht geklärt, ob er ein Verräter war oder nicht. Seiner Version nach verfolgte er diesen Plan: Er wollte Deutschland so sehr mit Lob überschütten, dass The Fatherland alle Glaubwürdigkeit verlieren würde. Wer ihm das nicht abnimmt, lese seinen Essay "The New Parsifal: A Study of Wilhelm II", in dem er den Kaiser der Reihe nach mit Lohengrin, Siegfried, Parzival, Castor und Pollux, einem Engel, Miltons Satan, Christus, Adonis, Mohammed und Napoleon vergleicht, um mit einem emphatischen "Ave, Guglielme, rex, imperator!" zu schließen. Andere Artikel sind einfach nur England-feindlich, ganz ohne Ironiesignale. Crowleys Begründung: Er musste auch solche Texte liefern, weil man ihm sonst auf die Schliche gekommen wäre.
Jahre danach meldete sich ein Agent, der bestätigte, dass sich Crowley 1916 dem britischen Geheimdienst als Spion angeboten habe. Sicher ist, dass The Beast nicht belangt wurde, als er Ende 1919 nach London zurückkehrte. Crowley litt an Asthma. Wegen einer Bronchitis suchte er einen Arzt in der Harley Street auf. Der verschrieb ihm zur Linderung Heroin. Crowley experimentierte seit Jahren mit allen möglichen Drogen, auch mit Heroin. Aber jetzt wurde er abhängig. Das war demütigend für den Mann, der immer versichert hatte, nur ein Schwächling könne drogensüchtig werden. Im Januar 1920 erschien im Skandalblatt John Bull ein hasserfüllter Artikel, in dem Crowley als "Abschaum" bezeichnet und die Regierung aufgefordert wurde, ihn wegen Landesverrats ins Gefängnis zu werfen. Diesmal wollte er klagen, doch er hatte nicht das nötige Geld. Auch das empfand er als Demütigung.
Orgien in der Abtei: Crowley wird Sizilianer
Der im Zusammenhang mit Crowley am meisten zitierte Satz, "Do what thou wilt" (Tu was du willst), findet sich bereits in François Rabelais’ Roman Gargantua et Pantagruel: "Fay ce que voudras." Crowley führte das darauf zurück, dass er die Reinkarnation von Rabelais sei (und außerdem noch von Buddha, Madame Blavatsky und einigen anderen). Im Roman dient der Satz als Motto der Abtei Thelema. Sie ist ein Zufluchtsort für alle Vergnügungen und alle Kulturen. Dort diskutieren die Damen und Herren über Philosophie und Poesie, kultivieren sie ebenso weise wie vergnügt die Schönheit des Geistes und des Körpers. Etwas Vergleichbares wollte auch Crowley auf die Beine stellen, nur eben unter dem Zeichen der Sexualmagie. Dabei war hilfreich, dass ihm ein paar Tanten 3 000 Pfund vererbten.
Nach Befragung des I Ching entschied er sich für Cefalù, einen kleinen Hafen im Norden von Sizilien. Als "Sir Alastor de Kerval" mietete er in den Bergen außerhalb des Ortes ein heruntergekommenes Bauernhaus. Mit von der Partie waren Leah Hirsig (die aktuelle Scarlet Woman) und Ninette Shumway, die je ein Kind von früheren Liebhabern mitbrachten. Bald würde ein drittes hinzukommen, weil Leah von Crowley schwanger war. Der zentrale Raum des Hauses wurde zum Tempel geweiht und mit einem Altar ausgestattet. Das Glanzstück war Crowleys Schlafzimmer. Seine Gegner sehen in den Wandmalereien nur Blasphemie und pornographische Darstellungen, aber es war wohl doch mehr. Man kann wenigstens einen Eindruck davon gewinnen, weil Kenneth Anger das, was in den 1950ern noch übrig war, photographiert hat. Der weltfremde Crowley schrieb sogar einen erklärenden Text für eine Broschüre, die Touristen anlocken sollte.
Obwohl Crowley die niedere Magie ablehnte, hätte er bestimmt Geld herbeigezaubert, wenn er es gekonnt hätte. Alle Versuche, wie sein Opa als Unternehmer reich zu werden, gingen sowieso daneben. Wer Jünger in der Abtei Thelema werden wollte, musste vorab eine Gebühr von knapp 30 Pfund zahlen. Für einen geschätzten Aufenthalt von drei Monaten war das schon sehr günstig. Aber Crowley empfing auch Gäste und schickte grundsätzlich keinen weg, nur weil er kein Geld hatte. Gewinne ließen sich mit diesem Geschäftsmodell nicht erzielen.
Der Tag in Thelema begann mit einem kabbalistischen Gebet und der Anrufung der Sonne. Am Mittag, am Abend und um Mitternacht wurde das Ganze, leicht abgewandelt, wiederholt. Dazwischen wurden Crowleys Schriften studiert, gab es Yoga- und Magie-Übungen, wurden körperliche Arbeiten erledigt. Auf dem Stundenplan standen auch Lektionen im Bergsteigen. Bei besonderen Anlässen wurde die von Crowley geschriebene Gnostische Messe zelebriert. Soweit die Theorie. In der Praxis wohnten in Thelema Menschen mit eigenen Sorgen und Nöten. Das Leben mit der Scarlet Woman und der Nebenfrau Ninette war begleitet von Eifersuchts- und Tobsuchtsanfällen der beiden Damen. Ninettes Schwester kam zu Besuch, zankte sich mit Crowley, wurde vor die Tür gesetzt und fuhr wutentbrannt nach Palermo. Dort berichtete sie dem britischen Konsul über fürchterliche Rituale und über die Drogen, die allen in Thelema zur freien Verfügung standen: Kokain, Heroin, Laudanum, Äther ...
In Großbritannien waren Besitz und Gebrauch von Drogen wie Heroin oder Kokain bis 1920 völlig legal. Dann wurden sie durch ein neues Gesetz unter Strafe gestellt. Crowley schrieb in Artikeln gegen den Dangerous Drugs Act an und versicherte in seiner Eigenschaft als "Spezialist aus New York" oder "Londoner Arzt", dass ein willensstarker Mensch nicht süchtig werden könne. Diese Meinung war weit verbreitet. Drogenabhängigkeit galt allgemein nicht als Krankheit, sondern als ein Zeichen von Charakterschwäche und mangelnder moralischer Festigung. Crowley musste es eigentlich besser wissen. Seine tägliche Heroindosis wurde immer größer.
Der Verlag Collins akzeptierte ein Buch mit dem Titel The Diary of a Drug Fiend. Sir Peter Pendragon, der drogenabhängige Held des Schlüsselromans, wird geheilt, weil er in der Abtei von Thelema des wohltätigen King Lamus eine "Tu was du willst"-Behandlung erhält. Der Wohltäter ist natürlich Crowley, der hier ziemlich schamlos Eigenwerbung betreibt. Einige Kritiker sahen in dem Buch eine Warnung vor dem Gebrauch von Heroin, und dafür gab es Lob. Aber dann erschien im Sunday Express ein böser Verriss von James Douglas ("Ein Buch zum Verbrennen"). Douglas hatte schon James Joyce und Aldous Huxley verdammt und so deren Verkaufszahlen gesteigert. Crowley war ein solches Glück nicht vergönnt.
Eine Woche nach dem Verriss, am 26. Oktober 1922, steigerte der Express seine Auflage mit einer Titelgeschichte über Crowley. Auf Seite 1 war das Crowley-Photo mit kahlem Schädel abgedruckt. Die Leser wurden an seine bisherigen Verfehlungen erinnert und erfuhren Schockierendes über "heidnische Orgien" in einem sizilianischen Dorf. Die Informationen stammten aus dem Archiv und von einigen Bekannten Crowleys, die sich in unsympathischen Figuren des Romans wiedererkannten. Der Express forderte, Drug Fiend aus dem Verkehr zu ziehen. Collins kam dem nicht direkt nach, stellte aber die Werbung für das Buch ein und druckte keine zweite Auflage. Das war das Ende von Crowleys Hoffnungen, als Autor seinen Lebensunterhalt verdienen zu können.
Der Mann, den wir gern aufhängen würden
Anfangs dachte er noch, der Enthüllungsbericht im Express sei eine gute Reklame für Thelema. Doch es kamen nur wenige Interessenten. Einer war der Oxford-Student Raoul Loveday, begleitet von seiner Gattin Betty May. Loveday war begeistert von Thelema, und Crowley war begeistert von Loveday. Zwischen ihm und Betty May scheint das zu einem Kampf um die Seele des jungen Raoul geführt zu haben. Mrs. Loveday war eine Heldin der Londoner Bohème, seit sie Jacob Epstein für dessen Büste "The Savage" Modell gesessen hatte. Wenn nur ein Bruchteil von dem stimmt, was in ihrer Autobiographie steht (Tiger-Woman, 1929), dann war sie eine recht erfahrene Frau, als sie nach Cefalù kam. In Paris war sie angeblich Mitglied einer gefürchteten Gangsterbande gewesen. Diese Verbrecher hatten ihr den Spitznamen "Tigerfrau" gegeben. Betty May war bereits mit einem brutalen Macho und mit einem Drogenabhängigen verheiratet gewesen, der auch sie süchtig gemacht hatte. Die Liebe zu Raoul, versichert der Ghostwriter ihrer Memoiren, hatte sie von der Sucht geheilt.
Crowley war sehr für körperliche Ertüchtigung. Raoul und Betty May entschlossen sich zu einer Wanderung. Dann nahm das Unheil seinen Lauf. Obwohl Crowley ihn gewarnt hatte, trank Loveday aus einer Bergquelle. Er erkrankte an Typhus. Das sind die Fakten. Der behandelnde Arzt hat sie mehrfach bestätigt. Raoul Loveday starb am 16. Februar 1923. Als Betty May nach London zurückkam, erzählte sie dem Sunday Express von Crowleys hypnotischen Fähigkeiten, von einer geopferten Katze und von deren Blut, das Raoul habe trinken müssen und woran er vermutlich gestorben sei. Das verdiente eine neue Titelgeschichte (25.2.1923). Es war die Geschichte von der jungen Unschuld, die mit ihrem jungen und unschuldigen Mann "in ein Inferno, einen Maelstrom aus Schmutz und Obszönität" gelockt worden war und die es irgendwie geschafft hatte, aus Blaubarts Burg zu entfliehen.
Das ließ auch John Bull nicht ruhen. In einer sechsteiligen Artikelserie legte das Blatt "Beweise" für schier unaussprechliche Verbrechen vor, darunter Sexorgien und Mädchenhandel. In großen Lettern wurde Crowley zum "bösesten Mann von der Welt" erklärt ("The Wickedest Man in the World"), zum "König der Verderbtheit" und zum "Mann, den wir gern aufhängen würden". John Bull hatte sogar erfahren, dass er bei einer Himalaya-Expedition zwei seiner Träger getötet und aufgegessen hatte, weil ihm der Proviant ausgegangen war. Damit war der Gipfel der Absurdität erreicht. Unmittelbare Konsequenz für Crowley: Collins annullierte endgültig den Vertrag über die geplante Veröffentlichung seiner Bekenntnisse. Aus Italien wurde er ausgewiesen, weil Mussolini Angst vor Geheimgesellschaften hatte, oder weil er um den Ruf seines Landes fürchtete. Das war das Ende der Abtei von Thelema.
Über Tunesien führte Crowley der Weg nach Frankreich. Er versuchte, vom Heroin loszukommen und bekämpfte die Entzugserscheinungen mit Kokain. Dann nahm er wieder Heroin, in erhöhter Dosis. Er litt an Schlaflosigkeit und Atemnot, Lustlosigkeit und Depressionen. Aus seinen Tagebüchern geht hervor, dass er an Selbstmord dachte. Im Oktober 1923 starb Theodor Reuß, nachdem er Crowley zum neuen Chef des O.T.O. ernannt hatte. Es war nur etwas schwierig, diesen Anspruch durchzusetzen, weil Crowley den Brief nicht vorweisen konnte, in dem Reuß das getan hatte. Das führte zu Streitereien wie beim Golden Dawn.
Von den Nazis zum Ritualmord: Magick in Theory and Practice
Eine von Crowleys engsten Verbündeten wurde Martha Küntzel. Zur Verbreitung seiner Schriften in Deutschland gründete sie den Thelema Verlag. Küntzel war auch eine glühende Verehrerin von Adolf Hitler. Crowleys Haltung gegenüber den Nazis war widersprüchlich. 1936 versuchte er, Hitler seine Hilfe anzubieten, aber das versuchte er auch bei der britischen Regierung und sogar bei Stalin. Es ging wohl darum, irgendeinen Staat nach den Prinzipien von Thelema umzugestalten. Crowley war, wie gesagt, ziemlich weltfremd. Zeitzeugen, die ihn im Zweiten Weltkrieg erlebten, sahen einen britischen Patrioten.
Im Sommer 1928 verfilmte Rex Ingram in Nizza Maughams Roman The Magician. Den Hexer Oliver Haddo spielte Paul Wegener, bekannt als Darsteller der Titelfigur in Der Golem, wie er in die Welt kam. Crowley, das Vorbild für den Magier, überlegte, ob er die Produktionsfirma M-G-M auf Schadenersatz verklagen sollte. Den Plan gab er bald auf. Doch in seinem Kopf setzte sich der Gedanke fest, dass er durch eine solche Klage Geld verdienen könnte. Das sollte ihn noch teuer zu stehen kommen.
Eines seiner Hauptwerke ist Magick in Theory and Practice. Weil sich kein Verleger die Finger damit verbrennen wollte, ließ er es in Paris wieder auf eigene Kosten herstellen. Das lief in etwa ab wie folgt: Crowley forderte seine Leser zur Subskription auf. Nach einem Jahr waren sieben Vorbestellungen zusammengekommen. "Drucken wir 3 000 Exemplare", sagte Crowley. "Die verkaufen wir bestimmt." Der Erscheinungstermin verzögerte sich um ein weiteres Jahr, weil er nur eine Anzahlung leisten konnte und die Druckerei die 3 000 Bücher in Geiselhaft hielt, bis der Autor den Rest des Geldes zusammengekratzt hatte. Kann so jemand ein durch und durch verdorbener Mensch gewesen sein?
Das berüchtigste Kapitel von Magick behandelt die "Blutopfer". Man erfährt, dass ein "männliches Kind von völliger Unschuld und hoher Intelligenz" das geeignete Opfer sei. Das führte prompt zu neuen Enthüllungsberichten über Ritualmorde. Der Angeschuldigte ließ wissen, man habe etwas Wichtiges übersehen: die Kinder müssten schön sein und von edler Geburt. Wahrscheinlich hätte sich Crowley in Teufels Küche gebracht, wenn er auch noch auf die entsprechende Fußnote im Magick-Kapitel hingewiesen hätte. Dort teilt er mit, dass er zwischen 1912 und 1928 durchschnittlich 150 solcher Kinder pro Jahr getötet habe. Bei genauer Lektüre erschließt sich, dass das Opfer beim sexualmagischen Akt von Magier und Scarlet Woman dargebracht wird. Gemeint ist das Sperma. Crowley hatte immer Schwierigkeiten mit Ritualen, die ein Tieropfer verlangten und dachte sich lieber eine symbolische Entsprechung aus. Es gibt nur einen einzigen, mit glaubwürdigen Zeugenaussagen belegten Fall, in dem er bei einem Ritual ein Tier tötete (einen Frosch). Das raubte ihm den Schlaf.
Als das stilistisch anspruchsvolle Buch (literaturhistorisch gehört es zum Modernismus) gerade in der Herstellung war, am 17. Januar 1929, erschien ein Polizeibeamter in Crowleys Pariser Wohnung. Bei der Durchsuchung wurde nichts Verdächtigeres als eine Kaffeemaschine gefunden, die der Inspektor zuerst für ein Drogendestilliergerät hielt. Im März wurde Crowley trotzdem ausgewiesen. Das hatte er offenbar der Schwester seines amerikanischen Sekretärs Israel Regardie zu verdanken, die in den USA bei der französischen Botschaft vorgesprochen hatte, um den Bruder aus den Klauen der Bestie zu retten. Vielleicht hielt man ihn wegen seiner Rolle beim O.T.O. auch für einen deutschen Spion. Im April 1929 kehrte er - begleitet von vielen Schlagzeilen - nach England zurück.
Kindermörder in Oxford
In London fand Crowley einen neuen Verlag, Edward Goldstons Mandrake Press. Goldstons Teilhaber, der Australier Percy Reginald Stephensen, mochte Provokantes, hasste jede Art von Zensur und war überzeugt von Crowleys schriftstellerischem Talent. Goldston behauptete später, Stephensen sei von Crowley hypnotisiert worden und habe den Erzählband The Stratagem nur deshalb angenommen. Bald darauf erschien der okkulte Roman Moonchild. Anderes, darunter die ersten beiden Bände der Bekenntnisse, sollten folgen. Aber im Oktober 1929 stellte Goldston den Betrieb ein, weil die Mandrake Press zuviel Verlust machte.
Titelblatt "Banned Lecture"
In Oxford hatten Studenten die Poetry Society gegründet, die bisher eher vor sich hin dümpelte. Um auf sich aufmerksam zu machen, luden sie Crowley zu einem Vortrag ein. Da Crowley aber Crowley war, wollte er als Gast der Poetry Society natürlich keine Gedichte rezitieren. Er entschied sich zu einem Referat über Gilles de Rais, und zugleich in eigener Sache. Schließlich hatte man auch ihn, genauso wie den einstigen Marschall von Frankreich, schon mit Blaubart verwechselt. Dass er sich dabei mit einem steinreichen Baron verglich, der einer der vornehmsten Familien Frankreichs entstammte, ist typisch für ihn. Am vereinbarten Termin, dem 3. Februar 1930, wollte er darlegen, wie schwer vorstellbar es doch sei, dass Gilles de Rais es geschafft haben sollte, tatsächlich 800 Kinder zu opfern, wie ihm zur Last gelegt. Er wollte darauf hinweisen, dass bei der Beurteilung einer Person berücksichtigt werden sollte, wer die Meinungshoheit besitzt und von welchen Interessen er getrieben ist und dass er, Crowley, wegen der ihm zugeschriebenen Verbrechen nie strafrechtlich belangt wurde. Letzteres lässt sich nicht bestreiten.
Der katholische Kaplan der Universität übte so viel Druck auf die Studenten aus, dass sie den Gast am 30. Januar wieder ausluden. Crowley fügte daraufhin eine neue Passage in sein Manuskript ein (über Priester, die Menschen und Ideen unterdrücken) und veröffentlichte es als 16-seitiges Pamphlet: The Banned Lecture. Bereits an dem Abend, an dem der Vortrag hätte stattfinden sollen, konnte man es in Oxford kaufen. Bald wurde eine zweite Auflage erforderlich. The Banned Lecture war Crowleys und Stephensens größter verlegerischer Erfolg. Als einen Erfolg kann man auch werten, dass einige Jahre später, in den USA, eine Comicfigur das Licht der Welt erblickte, die Crowleys Zusammenarbeit mit der Mandrake Press den Namen und die Existenz verdankt: Mandrake the Magician.
1933 ging Crowley in London spazieren und entdeckte in einem Schaufenster ein Exemplar seines Romans Moonchild. Der Buchhändler hatte eine Karte daneben gestellt, auf der es hieß, Drug Fiend, der erste Roman des Autors, sei nach Angriffen der Sensationspresse aus dem Verkehr gezogen worden. Damit paraphrasierte er einen Werbetext der Mandrake Press. Crowley verklagte die Buchhandlung trotzdem wegen Verleumdung und bekam wegen Rufschädigung 50 Pfund zugesprochen (Collins hatte das Buch nicht zurückgezogen, sondern auf eine zweite Auflage verzichtet). Bisher hatte Crowley sich immer davor gehütet, ein ordentliches Gericht anzurufen. Jetzt war alles anders.
Laughing Torso: Crowley prozessiert
Lugosi und Karloff in "The Black Cat"
In Laughing Torso, den 1932 bei Constable erschienenen Memoiren der Künstlerin Nina Hamnett, sind Crowley einige durchaus freundliche Seiten gewidmet. Die Autorin erwähnt, dass er verdächtigt wurde, auf Sizilien Schwarze Magie betrieben zu haben. Crowley mochte Nina Hamnett; der in der Banned Lecture mit Hohn bedachte George Bernard Shaw dagegen, einer der größten Anteilseigner bei Constable, stand auf seiner Feindesliste fast so weit oben wie der Alpenverein. Crowley verklagte den Verlag. Der Prozess dauerte mehrere Tage. Betty May, ehemalige Tigerfrau und jetzige Mrs. Sedgwick, gab zu, dass sie für ihre Interviews mit der Skandalpresse bezahlt worden war. An einem Sieg Crowleys konnte sie aber nicht interessiert sein, weil er als nächstes sie und ihren Verlag verklagt hätte (wegen Tiger-Woman). Zum Glück erinnerte sie sich noch an geopferte Katzen und freie Liebe in der Abtei Thelema. Die Juroren waren angewidert. Crowley verlor, ging in Berufung, wurde abgewiesen und musste die Prozesskosten nur deshalb nicht bezahlen, weil er sich für bankrott erklärte. Beim Zivilverfahren war herausgekommen, dass er jemandem den Auftrag erteilt hatte, Briefe Mrs. Sedgwicks zu stehlen, um beweisen zu können, dass sie von Constable Geld für ihre Aussage gefordert hatte. Deshalb wurde er im Juli 1934 doch noch in einem Strafprozess verurteilt (zwei Jahre auf Bewährung, 50 Pfund Geldstrafe).
Die Verleumdungsklage sorgte auch in Amerika für viel Aufsehen. Das führte dazu, dass Edgar G. Ulmer 1934 für die Universal den Film The Black Cat drehte. Crowley alias Hjalmar Poelzig alias Boris Karloff hat im Krieg seine Kameraden verraten (einer ist Bela Lugosi), bewahrt tote Frauen in einem Glaskasten auf und will die Heldin in einer Schwarzen Messe opfern. Wenn man gehässig sein will, kann man sagen, dass Crowleys bedeutendster Beitrag zu Horror und Okkultismus darin besteht, dass er das Vorbild für diverse Bösewichte im Horrorfilm abgab und sich damit sogar Verdienste um einige Meisterwerke des Genres erwarb. The Black Cat ist eines davon. Ein anderes ist Night of the Demon, Jacques Tourneurs kongeniale Verfilmung von M.R. James’ Gruselgeschichte "Casting the Runes" (Crowley heißt "Dr. Karswell" und wird von Niall MacGinnis gespielt).
Jack Pierce schminkt Karloff
Crowley trifft James Bond
Dennis Wheatley war vor einem halben Jahrhundert ein enorm populärer Autor von Horrorromanen. Bei seinen Recherchen nahm er an von Crowley durchgeführten Ritualen teil. Zur Sicherheit kam er in Begleitung von Maxwell Knight, dem Chef der Gegenspionage beim Geheimdienst M.I.5. Knights Neffe, Harry Smith, beeilte sich später zu versichern, dass das Interesse der beiden Herren rein akademisch gewesen sei. In Wheatleys The Devil Rides Out (1934) steht Crowley alias Mocata einem Satanistenkult vor. In der Hammer-Verfilmung wird er von Christopher Lee bekämpft, der in To the Devil a Daughter (nach dem Wheatley-Roman gleichen Titels) selbst Crowley (bzw. "Canon Copley-Syle") sein durfte.
Beim Geheimdienst war auch Ian Fleming, der Schöpfer von James Bond. Zur Desinformation der Nazis arbeitete er folgenden, von Knight abgesegneten Plan aus: Da der Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess an Astrologie glaubte, sollte in seinen Zirkel ein Astrologe eingeschleust werden und Hess mit Hilfe eines falschen Horoskops davon überzeugen, dass es in Großbritannien eine pro-deutsche Gruppe gab, mit deren Hilfe er, Hess, Curchills Regierung stürzen konnte, um dann Friedensverhandlungen aufzunehmen. Crowley war als der Astrologe im Gespräch, was aber verworfen wurde, weil ihn Flemings Vorgesetzte zu exzentrisch fanden. Er sollte dann wenigstens in England bei den Vorbereitungen helfen, was hinfällig wurde, als Hess im Mai 1941 mit dem Fallschirm in Schottland landete. Fleming schlug vor, Crowley als Befrager einzusetzen, der von Hess herausfinden sollte, welchen Einfluss die Astrologie auf führende Nazis hatte. Das wurde genauso abgelehnt wie Crowleys Idee, okkulte Literatur über Deutschland abzuwerfen.
Cover "The Devil Rides Out"
Maxwell Knight war das Vorbild für M, den Chef von James Bond. Der erste Superverbrecher, mit dem sich Bond herumschlagen muss, Le Chiffre in Flemings Roman Casino Royale (1953), ist von Crowley inspiriert. Daher ist es nur passend, dass auch die Satanisten in The Devil Rides Out und in The Mephisto Waltz von Darstellern verkörpert werden, die in Bond-Filmen den Schurken gespielt haben, von Charles Gray und Curd Jürgens. Zu erwähnen ist noch Orson Welles, der in der ersten Verfilmung von Casino Royale Le Chiffre war.
Wheatleys To the Devil a Daughter bedient sich sehr ungeniert bei Crowleys eigenem Moonchild, gibt aber genauso den Teufel dazu wie Ira Levin in seinem Roman Rosemary’s Baby. Bei Levin heißt Crowley "Adrian Marcato". Als Roman Polanski den Roman verfilmte, beschäftigte er Anton LaVey als Experten für Okkultismus und als Darsteller des Teufels. LaVey, Gründer der "Church of Satan" und Autor der Satanic Bible, gab zu Protokoll, dass Crowley höchstens als Literat und Bergsteiger irgendwie wichtig gewesen sei, konnte dadurch aber nicht verbergen, dass er mehr als nur den kahlen Schädel von ihm übernommen hatte. Als dann Polanskis hochschwangere Frau Sharon Tate im Auftrag von Charles Manson ermordet wurde, sorgte das für die wildesten Gerüchte (auch über Sharon Tates ungeborenes Baby). Seitdem wird kein Buch über Satans- oder sonstige Kulte in Amerika mehr geschrieben, dessen Autor nicht Aleister Crowley erwähnen würde.
L. Ron Hubbard besiegt den Satanismus
Crowleys tatsächliche Beziehungen zu Amerika konzentrierten sich in seinen letzten Lebensjahren auf die Loge des O.T.O. in Kalifornien (er wollte die USA auch mit einer neuen Nationalhymne beschenken, woraus aber nichts wurde). Von dort wurde er finanziell unterstützt, wofür er sich per Post mit magischen wie weltlichen Ratschlägen revanchierte. Jack Parsons, ein Experte für Raketetreibstoff, war der Chef der Loge. Im Sommer 1945 lernte er L. Ron Hubbard kennen, den späteren Gründer von Scientology. Parsons war so begeistert von Hubbard (er glaubte, großes magisches Potential in ihm zu erkennen), dass er ihn einlud, bei ihm in seinem Haus in Pasadena zu wohnen und ihm geheime Rituale des O.T.O. verriet, obwohl er damit seinen Eid brach. Crowley warnte Parsons vor dem neuen Freund.
Hier der weitere Verlauf der Ereignisse, wie ihn der Crowley-Biograph Lawrence Sutin erzählt: Parsons führte mit seiner Frau Betty, bisher eher theoretisch, eine offene Ehe, um nicht gegen die Prinzipien von Thelema zu verstoßen. Er lernte, dass das keine gute Idee gewesen war, als Hubbard Bettys Liebhaber wurde. Im Januar 1946 begann er mit der Bearbeitung von Ritualen, die ihm eine "magische Partnerin" und dann, mit deren Hilfe, ein "Moonchild" verschaffen sollten (was man sich darunter vorzustellen hat, kann man in Crowleys Roman nachlesen). In der prosaischen Alltagswelt gründeten Parsons, Hubbard und Betty die Firma "Allied Enterprises", in die Parsons fast seine gesamten Ersparnisse steckte. Die drei Partner wollten an der Ostküste Segelyachten kaufen, sie nach Kalifornien bringen und dort mit Gewinn wieder verkaufen. Dann lernte Parsons seine nächste Lektion: Mit der Verwandtschaft und mit Freunden soll man keine Geschäfte machen. Im Juli 1946 verklagte er Hubbard und Betty. Nachdem man sich mehr oder weniger gütlich geeinigt hatte, verschwanden die beiden aus Parsons’ Leben.
Kurz vor Crowleys Tod brach Parsons auch mit ihm. 1949 veröffentlichte er The Book of Antichrist. In Teil 2 des schmalen Bandes, "The Manifesto of the Antichrist", heißt es, dass sich innerhalb von sieben Jahren die "Große Hure Babylon" manifestieren werde. Parsons konnte das nicht mehr persönlich überprüfen. Er starb am 20. Juni 1952, als das Labor in die Luft flog, das er sich in einer Garage eingerichtet hatte. Wahrscheinlich war es ein Unfall; er soll eine Phiole mit Quecksilber-Fulminat fallengelassen haben. Parsons’ Mutter beging Selbstmord, als sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr. Natürlich gab es Gerüchte, dass Crowley Parsons verflucht hätte. Solche Gerüchte gab es oft, wenn jemand starb, der ihn gekannt hatte.
Crowley, Hubbard, Manson, Satanismus, Sex, Drogen, Raketen und Geheimdienste: wenn man das miteinander verrührt, erhält man eine giftige Mischung. Die "Church of Scientology" sah sich zu einem offenen Brief genötigt, der im Dezember 1969 in der Sunday Times (London) abgedruckt wurde. Daraus ging hervor, dass L. Ron Hubbard die Schwarze Magie in Amerika besiegt hatte:
Gnostische Messe in Brighton
Der echte Crowley starb am 1. Dezember 1947, mit 72, in einem Pflegeheim in Hastings. Die Presse, die ihn in den letzten Jahren in Ruhe gelassen hatte, brachte sein Photo auf den Titelseiten und berichtete in großen Lettern, dass "der böseste Mann von der Welt" tot war. Das hätte ihm bestimmt gefallen. Am 5. Dezember wurde er in Brighton eingeäschert. Louis Wilkinson, ein alter Freund, las Crowleys "Hymne an Pan", Auszüge aus The Book of the Law, Teile der Gnostischen Messe und das "Gnostic Anthem". Hinterher stand in der Zeitung, an Crowleys Grab sei eine Schwarze Messe zelebriert worden. Die Stadtväter von Brighton waren schockiert und versicherten, dass sich so etwas nie wiederholen würde. Die Honoratioren hätten sich keine Sorgen machen müssen. Es konnte nur einen Aleister Crowley geben.
Gilles de Rais - The Banned Lecture von Aleister Crowley erscheint im Oktober beim Verlag belleville Zweisprachig, mit einem Crowley-Interview, einem Essay und einem Hörspiel auf CD. (Hans Schmid)