Lettin scheint mir die richtige Wahl, weil eben dort der dörfliche Charakter gewahrt wird, wenn man die Schiepziger Straße als Durchfahrtsstraße ignoriert, die durch den Ort führt. Ich kenne die Geschichte dieses Dörfchens gut, das nun zu einem Teil Halles wurde.
Hier gibt es neben der Porzellanfabrik (seit 1858) am Anfang des Ortes noch fünf Pferdehöfe. Die größte ist die Sea Horse Ranch gegenüber der holländischen Windmühle, die auch eine Kuhherde hat. Der kleinste Hof ist der von Salt Rook Shire Horses, wobei Hof schon eine gewagte Größe ist, denn das Unternehmen besitzt „nur“ fünf Pferde und hat das kleinste Terrain. Drei gehören zur größten Pferderasse der Welt den Shire Horses, die der Firmengründerin gehören. Die zwei Haflinger sind Schulpferde, die ihr Firmenpartner mitbrachte. Dort niste ich mich für einen Tag mal ein, um zu schauen, was alles in dieser Idylle geschieht. Ich muss wohl den falschen Weg gegangen sein, als ich vom Schwedenweg beim Hof ankomme. Ein lautes Hundegebell entlang der Straße empfängt mich. Die Hunde wollen nur ihr ihr Haus beschützen und sehen mich als Eindringling an. Bin ich auch, irgendwie. Über den Schwedenweg las ich, dass er im Dreißigjährigen Krieg den Dorfbewohnern als Fluchtweg nach Schiepzig diente, als General Baners Truppen das Dorf 1636 niederbrannten. Einen stummen Zeugen gibt es noch auf dem Kirchhof, eine uralte Linde, die als solche fast nicht mehr zu erkennen ist. Manche behaupten, sie sei der älteste Baum in Halle und dem Saalekreis. Wenn der doch nur erzählen könnte.
Mit diesen Gedanken bin ich im Hof von Sandy W. angekommen. Die Besitzerin der Shire Horses hat Urlaub heute und ist ganz für ihre Pferde da. Die drei Riesen, davon zwei Stuten mit jeweils ca. 900 kg und einen Widerrist von 1,76 - 1,83 m, muss sie erstmal von der Koppel holen, die außerhalb des Geländes liegt. Der sogenannte Hof ist übersichtlich. Ein kleiner Trainingsplatz für Reiter, die das Reiten erlernen wollen, und einen Unterstand aus Holz. Von Pferden merkt man erst einmal nichts, die stehen nur im Winter unten. Sandy W. will aber zuvor Wasser auf die Koppel bringen. Ihr Firmenpartner gibt Reitstunden und arbeitet noch bei einer Baufirma, die auch auf dem Nebengrundstück ansässig ist. In dem kleinen Ort gibt es so einige Firmen wie eine Imkerei, ein Yogastudio, ein Institut für Bioanalytik & Umwelttoxikologie und besagte vier Reiterhöfe.
Eine ziemliche Doppelbelastung haben sich die beiden aufgeladen, wie ich feststelle. Die junge Frau zuckt mit den Schultern, schließlich arbeitet sie sonst auch in der Stadt bis nach 16:00 Uhr und schafft es, sich um die Tiere zu kümmern. Die Tiere sind dankbar, dankbarer oft als Menschen. Ihr Traum ist es, mal Kutschfahrten durchführen zu können. Vor kurzem hat sie den Kutschführerschein gemacht, aber die Pferde müssen auch ausgebildet werden. Schließlich braucht jeder sein Hobby und das Pferdehobby verschlingt viel Geld. Inzwischen hat sich die junge Frau in den kleinen Lader gesetzt und bringt den riesengroßen Wasserbehälter auf die Koppel.
Ich genieße die Ruhe, die ab und an von bellenden Hunden, von Sägen oder Rasenmähern der Nachbarn unterbrochen wird. Es ist sogar ruhiger als bei mir in Neustadt, obwohl ich schon eine grüne Ecke erwischt habe. Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein, sagte Goethe, hier bin ich Pferd, hier darf ich’s sein verkündet die Internetseite von Salt Rook Shire Horses. Ich ziehe die Luft durch meine „Nüstern“ und fühle mich wohl. Der Zigarettenaschenbecher stört mich, ich schiebe ihn beiseite, so leicht kann ein Problem beseitigt werden. Schon kommt Sandy wieder. „Lohnt sich die Anschaffung eines solch teuren Gerätes für 2-4-mal in der Woche, um Heu und Wasser zu fahren?“, frage ich unbedarft. Sie guckt mich schief an und ich verstehe. Den Wasserbehälter oder die riesigen Heuballen, die außerhalb des Grundstücks lagern, tragen zu wollen, würde wohl auch Herkules in Verlegenheit bringen. Sandy holt ihre Pferde von der Koppel. Ich helfe mit, habe ich doch einige Erfahrungen im Umgang mit den „Tierchen“ schon sammeln dürfen.
Wir müssen für alle Pferde mehrmals gehen und plaudern über dies und das. Ich erfahre von ihren Jungmädchenträumen mit Pferden, von der oft schweren Arbeit, ausmisten, Reparaturen, aber auch von den schönen Momenten, wenn kleine Kinder stolz auf dem Rücken der Pferde sitzen, an einem Fotoshooting teilnehmen oder bei den geführten Ausritten die Lunze kennenlernen. Für ihren Unternehmenspartner ist es Teil des Lebensunterhaltes, für sie ein Hobby, aus dem mal mehr werden soll.
Damit sind wir wieder bei den Kutschfahrten in die Heide oder in die Umgebung. Die Tiere zu putzen dauert seine Zeit und man kann dabei gemütlich quatschen über Tierarztkosen, über Hufschmiede, Versicherungen und Dinge, die mein Fassungsvermögen übersteigen. Mir ist klar, dass dieses Hobby Zeit und Geld verlangt und auch Hilfe. Die hat sie in Form von vier Reitbeteiligungen, die sich um die Tiere kümmern Vier Mädchen im Alter von 14 - 19 Jahre pflegen und reiten die „Ponys“, wie alle Pferde scherzhaft genannt werden. Sandys Tochter hilft ebenfalls. Eine sinnvolle Freizeitgestaltung wie ich meine. Ich denke an meine Schüler, die auch Hobbys haben, Feten feiern und ähnliches. Nur wenige haben in dieser Zeit sinnvolle Freizeitbeschäftigungen, die immer weniger angeboten werden oder schlimmer noch, nicht angenommen werden. Da lob ich mir so etwas. Unsere Gespräche werden von Gebell und dem Zwitschern der Vögel unterbrochen, ab und an meldet sich ein Pferd mit schnaufen. Das wird aber schon mal von Autos und Hunden übertönt. Nun ja, jeder braucht Kommunikation, ob Mensch oder Tier. So funktioniert nun mal Zusammenleben.
Schon hat Sandy ein paar Stangen auf dem Reitplatz aufgestellt, schließlich müssen die Tiere bewegt werden. Stehende Pferde können schnell verfetten oder schlimmer noch, von allen möglichen Krankheiten befallen werden. Während sie mit den Tieren einzeln übt, kommt Christian von der Baustelle und schneidet die Hufe der Pferde aus. Nicht alle Pferde muss er heute „bearbeiten“. Schwer ist die Arbeit dennoch. Ich schaue ein wenig zu, gucke nach Sandy, die ihre Runde dreht und trinke ein Radler. Irgendwie Urlaub, denke ich und mache mir Notizen. Einer meiner Schüler machte hier Praktikum und lernte viel über Pferde, die er nur vom Sehen kannte. Den Großstadtkindern geht zunehmend Natur verloren und viele Menschen wissen mit dem Begriff Idylle nichts mehr anzufangen. Die stört dann alles, selbst die Fliege an der Wand. Gott sei Dank halten die sich hier trotz der umliegenden Pferdehöfe und Kuhställe in Grenzen. Eine Wespe versucht etwas von meinem Radler zu trinken, das macht mich dann doch etwas sauer. Aber das Tierchen lebt auch nur seine Natur aus. Also vertreibe ich sie sanft und übe mich in vorsichtiger Kommunikation. Sie nimmt’s gelassen und fliegt ihrer Wege. Inzwischen ist Christian mit der Hufbearbeitung fertig und tritt seinen Zweitjob an. Er trainiert Reiteleven. Ruhig gibt er Anweisungen, raucht eine Feierabendzigarette. Sandy ist verschwunden und widmet sich der Buchhaltung. Ihr Lebenspartner trifft ebenfalls ein und mit ihm die Reitbeteiligungen, die erst mal die „Äppel“ des Tages einsammeln. Inzwischen bin ich schon mehrere Stunden hier. Die Zeit vergeht wie im Fluge.
Der Hof wird jeden Tag gesäubert, schließlich wohnt Sandy faktisch auf dem Grundstück, da ist gewisse Hygiene selbstverständlich, Dorfidylle hin oder her. Die anderen Höfe halten es genauso. Dort häufen sich bei den vielen Pferden die Mistberge ganz schön. Hier steht nur ein kleiner Hänger, der regelmäßig geleert wird. Aber Sandy will keinen Reiterhof, sie will einfach nur ihre Tiere betreuen. Ihr Firmenpartner muss seinen Lebensunterhalt verdienen. Persönlich bin ich froh, dies nicht machen zu müssen. Ich verdiene mein Geld mit schreienden Kindern. Dagegen ist dieser Pferdejob wenigstens ohrentechnisch eine Erholung. So geht der Tag zu Ende. Ich habe meine Story und irgendwie auch meine Erholung, also wenigstens gefühlt.
Einen Kalender der Shire Horses und der Haflinger gibt es hier...In ebay kann man den Kalender ebenfalls erwerben.