Coronavirus - Der lange Weg zur Normalität

Die Kanzlerin musste sich korrigieren. Dreimal hat sich Angela Merkel binnen neun Tagen dazu geäußert, wie sich die Zahl der Neuinfektionen verhalten sollte, damit man an Lockerungen des öffentlichen Lebens denken könne. Von Mal zu Mal machte sie das Kriterium schwerer erreichbar. Merkel dürfte gewusst haben, warum sie in ihrem Podcast am Wochenende den Satz unterbrachte: "Wir alle, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, lernen in dieser Pandemie, fast jeden Tag."

Am Donnerstag vorvergangener Woche sprach Merkel davon, die Zeit, in der sich die Zahl der Infektionen verdoppele, müsse "in Richtung zehn Tage" gehen. Am vergangenen Mittwoch, nach einer Schaltkonferenz mit den Ministerpräsidenten, taxierte sie diese Zahl schon auf zwölf bis 14 Tage. In ihrem jüngsten Podcast taucht nun gar keine Zahl mehr auf, nur noch das Ziel, dass sich die Kurve abflache. Generell fällt auf, dass Merkel mittlerweile jede konkrete Festlegung vermeidet: "Wir würden unserer Verantwortung nicht gerecht, wenn wir Exit-Stichtage nennen würden, die der Realität nicht standhalten", sagt sie.

Die Botschaft der Bundesregierung hat sich verändert. Konnte man zwischendurch den Eindruck haben, alles hänge an einem Kriterium, so machen Regierungsleute nun allenthalben deutlich, dass eine Mischung aus Kriterien ausschlaggebend dafür sein wird, wann und wie die Ausgangsbeschränkungen gelockert werden können. Merkel formuliert das mit Blick auf die Geltungsdauer der jetzigen Regeln bis zum 19. April inzwischen so: Die Richtung danach hänge davon ab, "an welchem Punkt der Ausbreitung des Virus wir dann in Deutschland stehen und wie sich das in den Krankenhäusern auswirkt". Die sollen auf keinen Fall überfordert werden.

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Für Merkel bleibt bei der Bewertung der Lage das Robert-Koch-Institut (RKI) das Maß aller Dinge - "der virologische Arm der Bundesregierung", wie es im Kanzleramt halb scherzhaft heißt. RKI-Präsident Lothar Wieler hatte am Freitag vier Kriterien genannt, an denen sich ablesen lasse, ob die deutsche Gesellschaft ihren Lockdown wieder langsam aufheben dürfe. Die Verdopplungszahl der Infektionen gehört weiter dazu. Daneben achte seine Seuchenschutzbehörde auch auf die Zahl der Erkrankten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und im Vergleich zu den "Kapazitäten des Gesundheitssystems", so Wieler.

Dieses Verhältnis von verschiedenen Kriterien zueinander lässt sich am Beispiel von Verdopplungsdauer der Infektionen und Krankenhauskapazitäten gut darstellen: Obwohl die Verdopplung sich verlangsamt, kann die Zahl der Krankenhausbetten knapp werden. Das liegt daran, dass in wachsender Zahl ältere Patienten eingeliefert werden, deren Krankheitsverläufe schwerer sind und mehr Behandlungszeit erfordern. "Das ist alles dynamisch", sagt ein Regierungsmann.

Dennoch nannte Wieler als viertes Kriterium auch wieder eine Ziffer, auf die sein Institut nun besonders achte: die Reproduktionsrate. Diese Zahl besagt, wie viele Menschen im Schnitt von einer infizierten Person angesteckt werden. "Wenn diese Zahl unter eins gedrückt wird, dann lässt die Epidemie langsam nach. Das ist unser Ziel", sagte Wieler. Durch die Einschränkungen des öffentlichen Lebens liege die Rate nun bereits bei genau einer Person, während ein Infizierter zuvor teilweise fünf oder gar sieben Menschen angesteckt habe. "Das scheint sich zu stabilisieren", so Wieler. "Aber wir müssen unter eins kommen. Da hoffen wir, dass das in den nächsten Tagen auch gelingt."

Coronavirus - Der lange Weg zur Normalität

Auch Gesundheitsminister Jens Spahn sprach am Freitag von jenem Ansteckungswert, der genau genommen eine Ableitung der Verdopplungszahl ist. Die positive Entwicklung dieser Reproduktionsrate sei "noch kein stabiler Trend" - "den werden wir erst bis Ende nächster Woche tatsächlich ablesen können", sagte Spahn.

Modellrechnungen des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen zeigen, dass die frühen Maßnahmen, vor allem Schulschließungen und Absagen von Großveranstaltungen, bereits Wirkung zeigen. Die Rate neuer Infektionen hat sich demnach um mehr als die Hälfte reduziert. Die verschärften Maßnahmen, die am Wochenende des 22. März in Kraft traten und Schließungen von Geschäften sowie weitgehende Ausgangsbeschränkungen beinhalten, sind dabei noch nicht berücksichtigt. Ihre Wirkung lässt sich erst im Ansatz an den Fallzahlen ablesen, da es durch die Inkubationszeit und das Testverfahren zu Verzögerungen kommt. Trotzdem können die Max-Planck-Forscher ihre Methode auch nutzen, um die Konsequenzen dieser Eingriffe abzuschätzen. "Wenn unser Modell zutrifft, haben die Ausgangsbeschränkungen die Kontakte weiter reduziert, sodass die exponentielle Ausbreitung des Virus inzwischen zum Erliegen gekommen ist", sagt Viola Priesemann, die Leiterin der verantwortlichen Arbeitsgruppe. Das wäre der Fall, sobald die Zahl der genesenen Corona-Patienten die der Neuansteckungen übersteigt. Gewissheit gebe es allerdings erst in einigen Tagen.

Der Blick auf den Reproduktionswert ist nicht neu. Bereits im März hatte das Bundesinnenministerium ein Papier mit dem Titel "Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen" diskutiert. Darin wird ein Szenario präferiert, in dem "nach den Osterferien die Kindergärten und Schulen wieder in den Normalbetrieb" gehen. "Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben kehrt weitgehend zurück zur Normalität", heißt es außerdem. Auch bei dieser "vorsichtigen Schätzung" war die Zahl der angesteckten Menschen pro Person der entscheidende Richtwert.

In der Simulation des Innenministeriums würde der Wert nach den strikten Ausgangsbeschränkungen am 20. April bei 0,8 liegen. Anstelle der Kontaktverbote sollen nach diesem Modell anschließend lediglich "intensives Testen", die "Nachverfolgung und Isolation" der Corona-Fälle und gegebenenfalls auch ein Verbot von Großveranstaltungen helfen, das Virus in Schach zu halten.

RKI-Chef Wieler dämpfte aber die Hoffnung, dass mit einem niedrigen Ansteckungswert das Leben sofort weitergehen könne wie vor Corona. "Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass alles gleichzeitig wiedereröffnet wird", sagte er. Für eine schrittweise Exit-Strategie gebe es "noch keine finalen Pläne". Die Kanzlerin hat in einer Art Reihenabfrage inzwischen mehrere Ministerien um Auskunft zu Aspekten der jeweiligen Ressorts gebeten. Die Ergebnisse erwartet sie bis Mittwoch. Dann hat sie einschließlich der Osterfeiertage noch knapp eine Woche Zeit, die nächste Schaltkonferenz mit den Ministerpräsidenten vorzubereiten.

Wie ein Ausstiegsszenario aussehen könnte, darauf gibt ein Papier der Nationalakademie Leopoldina Hinweise, in dem eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern, zu der auch der Berliner Virologe Christian Drosten gehört, Maßnahmen aufzählt, um die strengen Kontaktverbote "im Anschluss an die Osterzeit differenziert lockern zu können". Allerdings müssen auch dafür einige Kriterien erfüllt sein, die freilich weniger mit der konkreten Krankheit als vor allem mit Materialbeschaffung und technischem Fortschritt zu tun haben.

So schlagen die Wissenschaftler vor, neben den bereits geltenden Abstandsregeln, einen Mund-Nasen-Schutz für alle Bürger in Betrieben, Schulen und öffentlichen Verkehrsmitteln einzuführen - vorausgesetzt, solche Schutzmasken seien dann auch flächendeckend verfügbar. Die Masken sind im Augenblick schwer zu bekommen, sie fehlen weltweit in Pflegeheimen und Arztpraxen. Dieser Mangel müsse mit Schals und Tüchern überbrückt werden, schreiben die Forscher.

Für die Bundesregierung wie auch die Ministerpräsidenten wäre es ein bemerkenswerter Strategiewechsel, wenn sie diesen Vorschlag aufgriffen. Denn eine Pflicht zum Tragen solcher einfachen Masken für den Schutz von Mund und Nase hatte man bisher stets abgelehnt. Vor allem im Kanzleramt sorgt man sich, dass die Menschen sich damit in falscher Sicherheit wähnen und an anderer Stelle zu nachlässig würden, vor allem bei Hygiene-Regeln wie dem gründlichen Händewaschen.

Die Wissenschaftler der Leopoldina empfehlen außerdem, "schnellstmöglich" eine App einzurichten, mit der die Bürger freiwillig und für einen begrenzten Zeitraum ihre Handydaten zur Verfügung stellen, damit die Gesundheitsbehörden Kontaktpersonen von Infizierten orten können. Eine entsprechende Technologie hatte eine Forschungsgruppe, an der auch deutsche Behörden beteiligt sind, vergangene Woche vorgestellt.

Kanzleramtschef Helge Braun verspricht sich davon eine schnellere Rückverfolgung gefährdeter Personen: Eine App sei "wesentlich genauer als die Interviews, die wir heute noch führen, bei denen jeder sich an alle erinnern und alle kennen müsste, die er getroffen hat", sagte Braun der

Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

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Laut Leopoldina sollen zudem die Testkapazitäten weiter wachsen, etwa durch neue Schnelltests, aber auch, indem tiermedizinische Labore und wissenschaftliche Institute mithelfen, heißt es im Papier der Wissenschaftler. Nicht nur Verdachtspatienten, sondern die gesamte Bevölkerung müsse repräsentativ untersucht werden, um zu verstehen, wie sehr sich das Coronavirus ausgebreitet hat. Nur durch eingehendere Studien könne auch die Belastung des Gesundheitssystems richtig eingeschätzt werden, schreiben die Forscher.

Das Papier der Leopoldina enthält auch eine Prognose für den Fall, dass die Kontakteinschränkungen schrittweise aufgehoben werden, ohne parallel die von ihr empfohlenen Maßnahmen umzusetzen. Dann wäre schon im Juni mit einem rasanten Wiederanstieg der Fallzahlen zu rechnen, der sogar weit über das aktuelle Niveau hinausgehen könnte.

Die Einschätzungen der Leopoldina dürften für die Bundesregierung ein gewisses Gewicht haben. Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) hatte erklärt, diese Arbeitsgruppe lege "Entscheidungsgrundlagen, auf die wir uns dann auch stützen können". Zugleich sind die Wissenschaftler nicht die einzigen, die sich Gedanken machen. So hat der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet eine interdisziplinäre Kommission berufen, die Ausstiegsszenarien entwerfen soll.