von Solvejg Hoffmann
Die Seuche aus dem Eis - es klingt wie ein Filmtitel und könnte doch zur Realität werden. Denn tauende Permafrostböden setzen schon heute Erreger frei, die Jahrtausende tiefgefroren überdauert haben. Das könnte zu bösen Überraschungen führen
Von der Beulenpest über die Spanische Grippe bis hin zu Pocken – im Laufe der Menschheitsgeschichte hatten unsere Vorfahren immer wieder mit gefährlichen Bakterien und Viren zu kämpfen, die mitunter ganze Epidemien und Pandemien auslösten. Doch sie wurden überstanden, manche Krankheiten gelten heute sogar als ausgelöscht.
Seit Alexander Fleming 1928 durch einen günstigen Zufall das Penicillin entdeckte, haben wir Menschen mit Antibiotika eine starke Waffe gegen gefährliche Bakterien und Krankheitserreger gefunden. Allerdings finden die Keime ihrerseits immer neue Wege, um den Menschen zu infizieren. Um weiterhin überleben zu können, entwickeln Bakterien beispielsweise als Antwort auf die Antibiotika zunehmend wirkungsvolle Antibiotikaresistenzen, die Behandlungen zunehmend erschweren. Ein endloser Kampf.
Im Permafrost können Bakterien Jahrtausende überdauern
Trotzdem: Viele historische Krankheiten gelten heute als ausgestorben. Doch stimmt das wirklich? Wir könnten es bald herausfinden – ob wir wollen oder nicht. Denn eine neue potenzielle Gesundheitsbedrohung lauert nicht in Tiermärkten oder Laboren, sondern im Eis.
Über der Erde mögen viele Krankheitserreger ausgestorben sein. Doch in den Tiefen des Permafrosts – gefrorene Dauerfrostböden, wie sie in Sibirien, Alaska und Kanada zu finden sind – liegen historische Viren und Bakterien seit Jahrtausenden im Winterschlaf. Permafrostböden sind ideale Konservatoren für solche Krankheitserreger. Kein Sauerstoff, eiskalt und dunkel – genau diese Umgebung brauchen Mikroben, um zu überdauern.
Forscher warnen seit Jahren davor, dass der Klimawandel womöglich Gefahren ungeahnten Ausmaßes freilegen könnte. So beschrieben bereits im Jahr 2017 belgische Biologen in einer Studie, welche Gefahr von im Permafrost eingefrorenen Mikroben ausgehen kann. Die Wissenschaftler hatten in 700 Jahre altem Karibu-Kot zwei Viren gefunden, die sie im Labor wiederbeleben konnten. Ähnliches geschah 2014 in Frankreich. Dort erweckten französische Forscher ein seit 30.000 Jahren eingefrorenes Riesenvirus im Labor wieder zum Leben.
Und wie schnell ein Virus, gegen das niemand eine Immunität besitzt, die ganze Welt ergreifen und auch weitentwickelte Nationen in Atem halten kann, hat die Corona-Pandemie jüngst gezeigt.
Auf der sibirischen Jamal-Halbinsel ziehen viele Rentierzüchter mit ihren Herden durch die sibirische Tundra
© evgenii mitroshin - Shutterstock
Ein brisanter Fall ereignete sich bereits 2016 im Nordosten Sibiriens. Dort starb im August ein zwölfjähriger Junge auf der Jamal-Halbinsel an Milzbrand, weitere siebzig Infizierte mussten im Krankenhaus behandelt werden. Es war der erste Anthrax-Ausbruch in Russland seit 75 Jahren, der Milzbrand-Erreger galt hier eigentlich als ausgelöscht. Was also war passiert?
Der plötzliche Milzbrandausbruch verblüffte die Forschung. Heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass sich der Junge durch das Essen vom Fleisch eines erkrankten Rentiers infizierte.
Im Sommer 2016 erfasste Sibirien eine starke Hitzewelle, bedingt durch die Temperaturanstiege des Klimawandels. Dadurch tauten die oberen Schichten des Permafrostbodens auf und der bis dahin im Boden eingefrorene Kadaver eines an Milzbrand gestorbenen Rentiers gelangte an die Oberfläche - und mit ihm das gefährliche Bakterium.
Bacillus anthracis fand von dort seinen Weg in die Umwelt und damit in die Nahrungsmittelkette. Mehr als 2000 Rentiere, die in der Nähe der betroffenen Stelle weideten, infizierten sich nachweislich mit dem Erreger. Wenig später häuften sich auch die Krankheitsfälle unter den dort lebenden Menschen. Viele Rentierherden werden heute vorsorglich gegen Anthrax geimpft.
Tibet
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In Tibet haben Forschende uralte Viren im Gletschereis entdeckt. Ihre Funde zeigen, dass die Gletscherschmelze noch ungeahnte Folgen mit sich bringen könnte.
Ein weiterer Fall trat im Jahr 2007 auf, als Wissenschaftler des Nationalen US-Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten das Virus der Spanischen Grippe in der Leiche einer Frau nachweisen konnten, die in einem über zwei Meter tiefen Massengrab in einem ablegenen Inuit-Dorf im US-Bundesstaat Alaska lag. Der Grippevirus hatte zwischen 1918 und 1919 Millionen Menschen auf der ganzen Welt getötet.
Durch den Klimawandel taut der Permafrost immer weiter auf
Fachleute schätzen, dass mit dem Abschmelzen der Permafrostböden weitere Bakterien und Viren zum Vorschein kommen könnten. Nicht alle werden für den Menschen gefährlich sein - viele Viren sterben schnell, sobald sie nicht mehr vom Eis konserviert und stattdessen den Umwelteinflüssen ausgesetzt sind. Eine direkte Übertragung auf den Menschen scheint unwahrscheinlich.
Widerstandsfähiger - und damit gefährlicher - sind Bakterien. Ein großes Problem könnte entstehen, wenn lang eingefrorene und heutige Bakterien aufeinandertreffen und Erbgut austauschen. Dann könnten auch vermeintlich harmlose Mikroben zu gefährlichen Erregern werden.
Im September 2020 meldete das europäische Erdbeobachtungsprogramm Copernicus, der Monat sei weltweit der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1979 gewesen. Die höchsten Temperaturen wurden in Regionen mit Dauerfrostböden gemessen. In Teilen Sibiriens, aber auch in Alaska und in der Antarktis sei es deutlich wärmer gewesen als im Mittel, hier wirkt sich der Klimawandel stärker aus als in anderen Erdteilen.
Nach Angaben des Weltklimarats IPCC sind die gemessenen Temperaturen im Permafrost in den letzten 40 Jahren auf Rekordwerte gestiegen - nach Millionen von Jahren mit Temperaturen wie in einer Kühltruhe. Vielerorts taut der Permafrostboden Schicht für Schicht auf.
Bei global weiterhin steigenden Temperaturen gilt ein weiterer Permafrostrückgang als sicher. Bis zum Ende des Jahrhunderts wird für den oberflächennahen Permafrost (in bis zu 3,5 Meter Tiefe) in Abhängigkeit vom jeweiligen Emissionsszenario ein Flächenrückgang zwischen 37 und 81 Prozent erwartet.
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Was die Zukunft bringt und welche Geheimnisse die gefrorenen Böden bergen, bleibt ungewiss. Forscher hoffen, dass künftige Funde im Permafrost einen gewissen Nutzen haben werden - zum Beispiel im medizinischen oder biotechnologischen Bereich. Und dass uns eine Pandemie aus dem Eis erspart bleibt.
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