Reihen von Fläschchen mit rötlicher Nährflüssigkeit, aus denen Schläuche zu kleinen Pumpen führen, dazu Messgeräte, Behälter mit Nährlösung und Plättchen aus durchsichtigem Kunststoff mit runden Vertiefungen. Jedes der Plättchen („Chip“) ist etwa so groß wie ein Objektträger für ein Mikroskop. Was aussieht wie eine biochemische Fabrik im Kleinformat, ist eine Versuchsanordnung zum Züchten und Erforschen von Knochengewebe, neudeutsch „bone on a chip“ (Knochen auf dem Chip).
Die mit flüssiger Nahrung und Sauerstoff versorgten Knochenzellen werden in den Vertiefungen auf dem Kunststoff-Chip, Kulturkammern genannt, gehalten. Hier werden sie sorgfältig überwacht, wohl temperiert und mit akkurat jenen Bedingungen versorgt, denen sie auch im Menschen ausgesetzt sind.
Ein Knochen auf einem Chip? Wie passt das zusammen? Und was hat das Ganze für einen Zweck? Wir sind im Labor von Biotechnik-Ingenieur Dr. Frank Schulze am Deutschen Zentrum zum Schutz von Versuchstieren, das zum BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung) am Standort Berlin-Marienfelde gehört. Schulzes Knochen-Miniaturmodell ist von ihm und seinem Team erdacht und gebaut worden. Den von ihnen entworfenen Chip stellt eine spezialisierte Firma in Jena her, weitere Teile des Systems hat das Team mit Hilfe eines 3D-Druckers selbst produziert. Dennoch ist die Technik, um Organe im Kleinen zu züchten – seien es Knochen, Leber, Gehirn oder Nieren – Neuland, das tüftelnd erschlossen werden will.
Kein Schulterblatt auf Bestellung
Von der Vorstellung, dass hier ein kleines Schulterblatt oder Steißbein auf einem Halbleiterchip heranwächst, muss man sich jedoch verabschieden. Die Vorstellung, man könne demnächst – in welcher Größe auch immer – ein ganzes Organ züchten, ist utopisch. Ein Organ- auf-dem-Chip kann immer nur sehr begrenzt Aufbau und Funktion des Originals nachahmen. Deshalb wird es auch als Organoid bezeichnet, was organähnliches Gebilde heißt.
Dennoch bedeuten diese Modelle einen großen Schritt nach vorn. Während Zellen bei einer konventionellen Zellkultur einen flachen Rasen in der Petrischale bilden und somit zweidimensional bleiben, ist das Organoid ein dreidimensionales räumliches Gebilde. Die Forschung floriert weltweit, auch bei Knochen-Organoiden. Knochen auf dem Chip – das klingt zudem so, als ob hier Elektronik und Leben, Zellen und Halbleiter verbunden wären. Dem ist nicht so.
Keimarme Kultur: Die Zellen werden von Frank Schulze und seinem Team in einer sterilen Werkbank überwacht und gezüchtet. Foto: BfR/Norman Ertych
Es handelt sich schließlich nicht um einen Chip aus Silizium, sondern aus Kunststoff. Dieses Design erleichtert es, die Lebensvorgänge im Organ zu simulieren und zu studieren.
Im Knochenmodell von Frank Schulze geht es darum, die Sauerstoffversorgung den natürlichen Bedingungen anzupassen. Zudem werden die Zellen einer festgelegten mechanischen Belastung ausgesetzt, wie es in natura der Fall ist. Auch im wirklichen Leben steht der Knochen „unter Druck“ und wird belastet.
Knochengewebe ist sehr lebendig. Es ist stark durchblutet, besitzt Nerven und hat vielfältige Aufgaben. So ermöglicht der Knochen Bewegung. Er schützt die inneren Organe, ist Teil des Mineralstoffwechsels und der Ort der Blutbildung. Ständig wird altes Knochenmaterial ab- und neues aufgebaut.
Spender-Zellen aus dem Knochenmark
Filigran versorgt: Knochenbildende Zellen in der runden Vertiefung des Plastikchips bekommen über ein feines Leitungssystem Sauerstoff und Nährlösung. Foto: BfR/Norman Ertych
Es gibt verschiedene Arten von Zellen, die in Knochen-Organoiden kultiviert werden können. Frank Schulzes „Knochen-Chips“ sind mit Osteoblasten besiedelt. Deren Aufgabe besteht darin, Osteoid – die weiche Grundsubstanz für neuen Knochen – zu bilden und diesen dann zu mineralisieren, also zu härten.
Schulzes Team bezieht die Zellen aus einem Berliner Krankenhaus. Sie stammen von Spendern, denen bei Operationen Knochenmark entnommen wurde. Es handelt sich um Osteoblasten von Erwachsenen, die sich nur begrenzt teilen und eine eingeschränkte Lebensdauer haben. „Dafür haben wir aufgrund der verschiedenen Spender eine große genetische Bandbreite und Wirklichkeitsnähe“, erläutert Schulze.
Das Team arbeitet daran, die Zellen so lange wie möglich unter realitätsnahen Bedingungen am Leben zu erhalten. Wichtig ist die präzise Steuerung des Sauerstoffgehalts. Um das Modell zu verbessern, sind viele „Bastelarbeiten“ nötig. „Als Ingenieur liebe ich das“, sagt Schulze. „Es ist eine reizvolle Herausforderung, Technik und Biologie zu verbinden.“
Im All schwindet der Knochen
Das Prinzip von Organoid-Systemen besteht darin, das Komplizierte zu vereinfachen, die vielfältigen Aufgaben eines Organs in einem einfachen System nachzuahmen. Schulze interessiert zum Beispiel, wie ein Knochen auf mechanische Belastung reagiert. Allgemein gilt, dass Training die Knochenbildung, Osteogenese genannt, fördert – allerdings nicht in der Schwerelosigkeit. Trotz Trainings baut sich der Knochen von Astronauten ab. Der Knochen-Chip kann helfen, solche Prozesse zu verstehen.
Künftige Verwendungsmöglichkeiten des Systems sieht Schulze im Testen von chemischen Substanzen oder von potenziellen Arzneimitteln. Ein weiteres Thema ist der Abrieb von Implantaten, etwa von künstlichen Hüftgelenken, der mit dem Gewebe reagiert und zu Lockerungen des Implantats führen kann. „Wenn der Chip so funktioniert wie gedacht, können wir in diesem Jahr mit den ersten Substanztests beginnen“, sagt der Forscher. „Wir hoffen, mit diesem Ansatz eine wissenschaftlich sinnvolle Alternative zu Tierversuchen zu bieten.“
Vorteilhaft an den Organoiden ist, dass sie aus menschlichen Zellen bestehen und damit näher an der Realität im Organismus sind. Kein Zweifel: Auf die Knochen-Knirpse warten große Aufgaben.
Dieser Artikel ist zuerst im Wissenschaftsmagazin des Bundesinstituts für Risikobewertung “BfR2GO” (Ausgabe 1/2021) erschienen.
Mehr erfahren:
Schulze, F., M. R. Schneider. 2019. Hoffnung oder Humbug? Organ-on-a-chip in der biomedizinischen Forschung und als Alternative zum Tierversuch. Deutsches Tierärzteblatt (10) 67: 1.402–1.405
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