Im Schleimfisch-Toxin soll ein neues Schmerzmittel stecken, ein Molekül aus der Mamba hilft bei Nierenproblemen. Doch trotz vielversprechender Forschungsergebnisse hat sich bislang nur eine Handvoll Medikamente aus Tiergiften durchgesetzt. Manch ein Experte macht dafür die Pharma-Industrie verantwortlich, die das Risiko scheut. Dabei belegt eine jüngst veröffentlichte Studie, dass die Wahrscheinlichkeit, im Naturprodukt eine wirksame Substanz zu finden um Größenordnungen über der Erfolgsquote anderer Strategien liegt.
Hörtipp:
"Skorpione produzieren ein Molekül, das an Krebszellen bindet. Wenn also jemand einen Hirntumor hat, kann man es intravenös spritzen, und es findet auf wundersame Weise seinen Weg durch die Blut-Hirn-Schranke und heftet sich an den Tumor.""Die Gifte sind so variabel – ob's vom Skorpion kommt, ob's von den Spinnen kommt, ob's von Schlangen kommt – dass man eine riesige Auswahl hat." "Wir haben das Gift einer Mamba untersucht und ein Eiweiß-Molekül namens Mambaquaretin identifiziert. Bei Mäusen mit Zysten-Nieren hat es das Fortschreiten der Krankheit eingedämmt." "Das ist etwas, wo ich immer wieder sage: Ja, seit 50 Jahren wissen wir, wie toll das eigentlich ist – aber es passiert so wenig."
Heiss und feucht: Leben in der Schlangenfarm
"So und hier sind wir im Raum, wo die Mitarbeiter tatsächlich ihre Arbeitskleidung anlegen. Die ist ganz simpel gestaltet: Weiße Hose, weißes T-Shirt. Und die Stiefelchen hier, durch die uns die Schlange nicht beißen kann." Ein Umkleideraum in der Schlangenfarm des Pharmaunternehmens Nordmark am Rand der Kleinstadt Uetersen bei Hamburg. Petr Kliment, ein großer, grauhaariger Mann mit langem Bart, leitet die Anlage. "Gut, jetzt befinden wir uns tatsächlich im – wir nennen das Biobereich. Also tatsächlich in der Schlangenfarm drin. Das ist jetzt Teil der Tierhaltung." Ein lang gestreckter Flur mit sorgsam abgedichteten Fugen; damit es warm bleibt und feucht. Hinter vier schweren, weißen Türen leben die Schlangen: Malaiische Grubenottern. Etwa 1.000 sind es derzeit.
"Es ist ja kein Zoo, wie sie sehen. Es ist mehr tatsächlich Labortierhaltung. Die Anforderungen an uns sind ganz andere als an einen Zoo. Wir hören die Klimaanlage: Wir haben hier 15-fachen Luftwechsel in der Stunde mit Frischluft jedes Mal. Das alles wird auf 20 Grad und 80 Prozent relative Luftfeuchte gebracht – also jetzt nicht hier, sondern bei den Tieren letztendlich. Und das ist eine Sache, die immens aufwändig ist." Links neben der Schleuse zweigt ein weiterer Flur ab. Ein Fenster in der Wand öffnet den Blick in den angrenzenden Raum: Käfige voller Mäuse; ein wuselnder Vorrat lebender Schlangen-Beute. Noch ein Stück weiter befindet sich die Reinigungsanlage, eine Art überdimensionierte Spülmaschine für Schlangenkäfige. An der Wand stapeln sich schmutzige Kunststoff-Boxen. Es riecht fischig. In einigen der Käfige kleben Exkremente und abgestreifte Häute. Eine ist so vollständig und plastisch, dass es aussieht, als läge ein lebendiges Reptil in der Box."Ich hab' mit Schlangengiften begonnen, mit der Isolierung der einzelnen Bestandteile von Schlangengiften, auch mit der Strukturaufklärung von einzelnen Komponenten davon, auch die Wirksamkeit untersucht. Und bin eigentlich relativ breit auch auf andere Dinge dann übergegangen: Hab Insekten untersucht, Insektengifte."
Gefährliche Forschung auf eigene Faust
Dietrich Mebs linst über sein schwarzes Brillengestell und fährt sich mit der Hand über den kahlen Kopf. Seit zehn Jahren ist er Professor im Ruhestand, arbeitet aber noch regelmäßig am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Frankfurt am Main. Die Leidenschaft für Tiergifte hegt er seit seiner Jugend. 1964, als Student, wäre sie ihm einmal fast zum Verhängnis geworden. Damals beschloss er, das Gift der nordamerikanischen Gila-Krustenechse auf eigene Faust zu untersuchen. Per Luftfracht besorgte er sich ein Exemplar aus den USA.
Prof. Dietrich Mebs (Deutschlandradio/ Lennart Pyritz)
"Die habe ich schön zu Hause in einem Terrarium gehalten. Und hab natürlich versucht – die hat ihre Giftdrüse im Unterkiefer – wie kriege ich das Gift jetzt da raus. Hab versucht das abzusaugen und so weiter. Und bei einer dieser Gelegenheiten hat die sich 'rumgedreht und hat mir in den Handrücken gebissen. Und nach gut fünf Minuten bin ich praktisch bewusstlos geworden." Im Krankenhaus erhielt Mebs von den Ärzten Adrenalin und Infusionen – was genau das Gift der Krustenechse im Körper anrichtet, war damals noch unbekannt. "Gott sei Dank war meine Mutter in der Nähe. Und wenn die nicht gewesen wäre, hätte ich also einen Kreislaufzusammenbruch bekommen. Denn das Gift geht ganz spezifisch auf Herz-Kreislauf." Die Gila-Krustenechse musste nach dem Zwischenfall ausziehen. "Die wurde dann auf Intervention meiner Mutter dem Frankfurter Zoo übereignet." Später sammelte Dietrich Mebs Kegelschnecken auf den Philippinen und Molche in Nordamerika. Ein halbes Jahrhundert hat er der Untersuchung von Tiergiften gewidmet. Und ebenso lange glaubt er daran, dass sie der Medizin große Dienste erweisen können – zumal es unzählige giftige Arten gibt. "Man kann fast sagen, dass in jeder Tierklasse und in jeder Tierordnung Vertreter sind, die Gift produzieren." Besonders viele finden sich bei Quallen, Insekten, Spinnen und Schlangen – aber auch unter den Säugetieren: Männliche Schnabeltiere tragen einen Gift-Sporn an den Hinterbeinen; asiatische Plumploris bilden ein toxisches Sekret, das sie auf ihr Fell lecken.
Schleimfischtoxin, Feuerameisen- und Skorpion-Gift
Das Nervensystem blockieren, rote Blutkörperchen auflösen, die Atem-Muskulatur lähmen – Tiergifte haben sich über Jahrmillionen entwickelt, um schnell und spezifisch zu wirken. Gerade deswegen können sie alle möglichen Knöpfe im Körper drücken. Den Schatz gilt es zu heben, findet Dietrich Mebs. Und tatsächlich wecken einzelne Studien immer wieder Hoffnung: Ein Bestandteil aus dem Gift von Feuerameisen könnte Hautkrankheiten lindern. Schleimfisch-Toxin soll als Grundlage für neue Schmerzmittel dienen. Wirkstoffe aus Skorpion-Gift könnten zur Tumor-Markierung eingesetzt werden. Auch Demenz-Erkrankungen stehen auf der Liste. "Wir wissen ja, dass viele Gifte Wirkstoffe enthalten, ob's Peptide sind, ob's Alkaloide sind, die spezifisch aufs Nervensystem einwirken. Und dort haben wir zahlreiche Erkrankungen – auch chronische, degenerative Erkrankungen – wo wir immer noch Rumrätseln: Lässt sich da irgendwas behandeln."
Schätzungen zufolge gibt es etwa 200.000 toxische Arten. Jede davon hat ein spezifisches Sekret, teils aus hunderten Komponenten. Die meisten sind Eiweiß-Moleküle. Viele davon sind klein, bestehen nur aus einer Kette von bis zu 100 Aminosäuren, und werden Peptide genannt. Darüber hinaus enthält zum Beispiel Schlangengift auch Lipide, Zuckermoleküle und Metall-Ionen. Trotz dieser Fülle fallen Dietrich Mebs nur fünf Wirkstoffe aus Tiergiften ein, die es bis in die Apotheke geschafft haben.
"Das ist einmal ein Wirkstoff, der den Blutdruck senkt. Dann – in den letzten zehn Jahren erst – hat man auch Wirkstoffe gefunden, die die Blutgerinnung beeinträchtigen. Und dann hat man neuerdings auch etwas gefunden aus einem Echsengift, dem sogenannten Gila-Monster, Heloderma suspectum, das etwa der Insulinwirkung vergleichbar ist."
Steckbrief Gila-Monster
Gila-Monster: stämmig gebaute, schwarz und rosa gefärbte Echsen; fressen bevorzugt Eier von Vögeln und Reptilien.
Vorkommen: Wüstengebiete in Mexiko und dem Südwesten der USA Gift: Wird aus dem Unterkiefer abgegeben; verursacht starke Schmerzen und Kreislaufschwäche; potenziell tödlich für Menschen "Und aus dem Gift der Kegelschnecke einen Wirkstoff, der für die Schmerzbehandlung in Frage kommt."
Steckbrief Kegelschnecken
Kegelschnecken: fleischfressende Weichtiere; nutzen zur Jagd eine Art körpereigene Harpune, Gehäuse oft bunt gemustert Vorkommen: tropische Meere, unter anderem auf Korallenriffen Gift: Mix aus mehreren hundert Komponenten; wirkt aufs Nervensystem; potenziell tödlich für Menschen
"Auf diesen internationalen Kongressen, wo es ja um diese Wirkstoffe geht, lässt sich aber auch kein einziger Vertreter der Pharmaindustrie blicken, was ja eigentlich ein Zeichen dafür ist: Da ist gar kein Interesse da." Der Notfallraum der Schlangenfarm in Uetersen: Petr Kliment weist auf eine Liege an der Wand. In einem Kühlschrank stapeln sich 70 Ampullen Antiserum in kleinen, orangenen Pappschachteln mit thailändischer Beschriftung und dem Foto einer zusammengerollten Schlange.
"Ja, die Philosophie dahinter ist die: Wir sind hier vier Mitarbeiter. Wenn heute jemandem etwas passiert, kann sein, dass er bei einem schweren Biss tatsächlich 20 Ampullen verbraucht. Aber wir müssen morgen weiter arbeiten. Also wir müssen nochmal genug haben, um gegebenenfalls nochmal auf einen unmittelbaren zweiten Unfall reagieren zu können." Zurück im Hauptflur. Petr Kliment öffnet eine hermetisch abgedichtete Tür. Der Blick fällt in einen fensterlosen, hell erleuchteten Raum. Feuchte Wärme macht das Atmen schwer. "Sie merken schon, dass es gemütlich ist. Ja, und das ist unsere Schlangenhaltung. Die Schlangen werden einzeln gehalten. Besonders ästhetisch sieht das in der Tat nicht aus. Aber das ist tatsächlich dem geschuldet, was wir hier betreiben."
Forschung in der Schlangenfarm
Links und rechts entlang der Wand: rollbare Metallgestelle; auf jedem dicht an dicht 20 systematisch beschriftete Kunststoff-Boxen mit Gitterdeckel. In jeder der Boxen liegt eine Malaiische Grubenotter: Mal zusammengerollt, den Kopf auf dem Körper abgelegt. Mal ausgestreckt entlang der Plastikwand. Die Tiere sind gelb und braun gemustert; etwa so lang wie ein Arm; der Kopf dreieckig und klar vom Körper abgesetzt. Einige Schlangen sind deutlich größer als ihre Nachbarn – das sind die Weibchen.
Malaiische Grubenotter (Kreutz)
"Diese Art kommt in Südostasien vor: Thailand, Kambodscha, Vietnam, Malaysia, bis auf die großen Sunda-Inseln. Unsere Tiere stammen aus Malaysia. Der größte Teil davon ist allerdings schon über Generationen in der Gefangenschaft nachgezogen worden." Vom Schlüpfen aus dem Ei bis zu ihrem natürlichen Tod nach etwa zehn Jahren bleiben die Tiere in der Schlangenfarm – und produzieren lebenslang Gift, sagt Petr Kliment. Es kann zu inneren Blutungen führen und zum Absterben ganzer Gliedmaßen.
Gute Kontakte zur Gift-Tier-Szene
"Die Giftwirkung ist durchaus auch für Menschen tödlich, ja."
"Schlangen-Gift wirkt vor allem auf das Herz-Kreislauf-System. Darüber wussten wir schon früher Bescheid als über das Nervensystem. Deshalb war es für Wissenschaftler einfacher, mit Schlangen-Gift Herz-Kreislauf-Medikamente zu entwickeln. Inzwischen können wir aber auch mit kleineren Tieren arbeiten. Deren Gift wirkt oft auf das Nervensystem ihrer Beute. Spinnen, Skorpione, Raubwanzen, See-Anemonen, Quallen: Die meisten dieser Tiere produzieren Neurotoxine." Bugs and drugs – Krabbel-Getier und Arzneimittel: Der Ausdruck prangt groß auf der Internetseite von Glenn King – dahinter ein Foto von den Giftklauen einer Spinne. Und das ist genau der Ort, an dem er nach neuen Arzneistoffen sucht: im Nervengift von Spinnentieren. "Wir haben eine Sammlung mit mehr als 600 Nervengiften von Spinnen, Hundertfüßern, Skorpionen, Raubwanzen und ein paar anderen Tieren." Verantwortlich für die Sammlung an der University of Queensland in Brisbane ist ein deutscher Mitarbeiter. "Volker hat sehr gute Kontakte in die europäische Gift-Tier-Szene. In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es viele Leute, die es lieben, giftige Spinnen und Skorpione zu sammeln. Also schicken wir ihn einmal im Jahr rüber, er besucht die Halter zu Hause und melkt ihre Haustiere. So kommen wir an die meisten unserer Gifte."
Das Nervengift von Krabbel- und Spinnentieren
In der Membran von Nervenzellen spielen Schleusen eine wichtige Rolle, sogenannte Ionen-Kanäle, an denen sich entscheidet, welche Stoffe in eine Zelle gelangen und welche nicht. Ob eine Pore offen oder versperrt ist, wird wiederum durch andere Moleküle beeinflusst, die sich an die Poren anlagern und so deren Form verändern. Nach eben solchen Molekülen sucht Glenn King im Nervengift seiner Krabbeltiere. Glenn King: "Wenn wir einen Ionen-Kanal identifiziert haben, der uns interessiert, testen wir unsere Gift-Sammlung daran. Von welchem Tier das Gift stammt, ist uns dabei ziemlich egal. Wir suchen einfach ein Molekül, das spezifisch gegen einen Ionen-Kanal wirkt, der an einer Krankheit beteiligt ist." "Zeigt sich, dass ein Gift den untersuchten Ionen-Kanal erfolgreich verschließt, zerlegen es Glenn King und seine Kollegen in die einzelnen Komponenten. So wird in mehreren Schritten das entscheidende Molekül isoliert. Dann wird dessen Aufbau analysiert, um es später mit gentechnischen Methoden im Labor nachzubauen. Tatsächlich hat Glenn King auf diese Weise schon einige vielversprechende Gift-Komponenten entdeckt." "Wir haben ein wirklich interessantes Molekül aus einem Spinnengift, über das wir 2017 im Fachmagazin PNAS berichtet haben. Es ist der stärkste bekannte Blocker für einen Ionen-Kanal namens ASIC1a. Und dieser Kanal wiederum spielt eine wichtige Rolle beim Absterben von Nervenzellen nach einem Schlaganfall. "
Durch die Durchblutungsstörung nach einem Schlaganfall wird das Milieu um die Nervenzellen saurer, was den Ionen-Kanal ASIC1a stark aktiviert. Genau das scheint für den Tod von Neuronen und damit massivere Spätfolgen eines Schlaganfalls verantwortlich zu sein. "Und wir haben gezeigt, dass sich mit diesem Spinnengift-Molekül das Gehirn vor Schäden nach einem Schlaganfall schützen lässt – sogar wenn der Wirkstoff erst lange Zeit danach verabreicht wird." Derzeit wird das Molekül im Tierversuch getestet. Es hätten auch schon mehrere Unternehmen Interesse gezeigt", erzählt Glenn King mit verhaltener Hoffnung in der Stimme.
Und der Molekularbiologe hat noch mehr Pfeile im Köcher. Ein weiteres in seinem Labor entdecktes Spinnengift-Molekül wirkt gegen eine spezielle Form der Epilepsie; wieder ein anderes gegen Schmerzen. Doch trotz aller Anfangserfolge – ob irgendwann einer dieser Wirkstoffe tatsächlich in einer klinischen Studie am Menschen getestet wird, ist ungewiss. "Wenn Sie kein Unternehmen finden, das interessiert ist, enden Sie in einem schwarzen Loch, dem Tal des Todes. Dann können Sie nichts mit ihrem Molekül anfangen. Das ist für uns alle sehr frustrierend."Nicolas Gilles arbeitet seit mehr als 20 Jahren am CEA Saclay, einem breit aufgestellten, staatlichen Forschungszentrum südwestlich von Paris."Ah, hier haben wir Mamba-Gift. Damit arbeite ich viel."
Mamba-Gift gegen Nieren-Systen
Zuletzt durchkämmten Gilles und sein Team das Gift der Gewöhnlichen Mamba – eine grüne, schmale, etwa zwei Meter lange Schlange. Im Visier hatten sie einen Rezeptor, der die Bildung von Zysten-Nieren unterstützt – ein genetisch bedingtes Krankheitsbild, bei dem unzählige flüssigkeitsgefüllte Bläschen die Filterfunktion der Nieren stören. "Wir haben die Wirkung des Mamba-Gifts auf diesen Rezeptor untersucht und ein Eiweiß-Molekül namens Mambaquaretin identifiziert. Das blockiert den Rezeptor. Und Versuche mit Mäusen, die unter Zysten-Nieren litten, haben gezeigt, dass sich dadurch das Fortschreiten der Krankheit eindämmen ließ." Rezeptoren sind wichtige Strukturen der Zellen. Hier können Signalmoleküle andocken. Das Mambaquaretin blockiert einen solchen Rezeptor und stoppt damit eine ganze Signalkette. Das abnorme Wachstum der Nierenzellen und die Flüssigkeitsabgabe in die Zysten kommt zum Erliegen. Nicolas Gilles ließ das Mamba-Molekül patentieren und schloss einen Vertrag mit einem Pharma-Unternehmen. "Leider hat das Unternehmen das Projekt gestoppt. Es war ihnen wohl zu kompliziert. Jetzt sind wir in Gesprächen mit anderen Pharma-Firmen, um die therapeutische Nutzung des Gift-Moleküls voranzubringen."Wie Glenn King spricht auch er vom Tal des Todes zwischen einer Entdeckung im Labor und der Entwicklung eines Medikaments. "Wir brauchen jemanden mit mindestens einer halben Million Euro, der den ersten Test macht und entscheidet: Ja oder nein."
Kein neues Medikament ohne Pharma-Industrie
Nicolas Gilles baut inzwischen auf eine neue Strategie, um die Pharma-Industrie zu überzeugen. Statt jedes Gift einzeln auf Rezeptoren loszulassen und dann die eine aktive Komponente aufwendig zu identifizieren, geht er jetzt den umgekehrten Weg. Dabei konzentriert sich Nicolas Gilles auf Peptide – also die kleinen Eiweiß-Moleküle, die einen Großteil vieler Gifte ausmachen."Die Idee war, Peptide aus Tiergiften im Hochdurchsatz-Verfahren für die Industrie verfügbar zu machen."
Die Hoffnungen waren groß – ebenso wie der Aufwand. 2011 startete das von der EU geförderte Venomics-Projekt: Knapp zehn Millionen Euro Budget; unter den Projektpartnern: wissenschaftliche Institute und private Unternehmen aus fünf Ländern; Gifte: von mehr als 200 Tierarten – darunter Kegelschnecke, Oktopus und Waran.
"Sobald wir den Aufbau der Peptide bestimmt hatten, wählten wir tausende davon aus, die uns besonders interessant und vielfältig erschienen und von giftigen Tieren stammten, die noch nie untersucht worden waren."
Im zweiten Schritt bauten die Wissenschaftler die Peptide nach und vervielfältigten sie. 2015 endete das Projekt offiziell. Das Ergebnis liegt bis heute in einem Eisschrank im Labor von Nicolas Gilles: Mikrotiter-Platten mit jeweils 96 Näpfchen; in jedem davon ein anderes Gift-Peptid in kleiner Menge, 3.600 insgesamt. So aufbereitet und verwahrt lassen sich viele Peptide gleichzeitig in automatisierten Verfahren weiter untersuchen. "Der letzte Teil des Venomics-Projekts war dann zu validieren, wie gut unsere Peptid-Sammlung als Quelle neuer Moleküle für therapeutische Zwecke taugt. Also haben wir vier Rezeptoren ausgewählt, die bei Entzündungen und Stoffwechselstörungen eine Rolle spielen, und die Peptid-Bank daran getestet. Und wir hatten eine Trefferquote von drei Prozent."
Hohes Potential bei Peptiden
Trefferquote von drei Prozent bedeutet: Drei von 100 Peptiden haben mit einem der vier untersuchten Rezeptoren reagiert – sie könnten Kandidaten für einen medizinischen Wirkstoff sein. Die Trefferquote der Pharmaindustrie mit künstlich hergestellten Molekülen liege klassischerweise bei 0,03 Prozent, sagt Nicolas Gilles. Die natürlichen Gift-Peptide hätten also eine 100 Mal höhere Quote geliefert.
Jetzt, wo wir das Potenzial der Peptid-Bank bestätigt haben, interessieren sich viele Pharma-Unternehmen dafür – zum Beispiel Sanofi.
Sanofi zählt zu den größten Pharmakonzernen der Welt. Daneben hätten auch drei weitere Unternehmen Angebote auf den Tisch gelegt. Noch in diesem Jahr will Nicolas Gilles die Peptid-Datenbank verkaufen. Es wäre ein Triumph für das Venomics-Projekt. Wenn es dazu kommt.
Nicht zu viel von den Giften erwarten
Auch Glenn King blickt vorsichtig optimistisch in die Zukunft. Nicht nur weil er selbst vielversprechende Moleküle entdeckt hat. Andere Arbeitsgruppen stehen mit einzelnen Wirkstoffen aus Tiergiften schon kurz vor der Anwendung beim Menschen: Ein Peptid aus einer See-Anemone könnte bald gegen Autoimmun-Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Hautflechten eingesetzt werden. Und Krebs-Forscher aus Seattle haben im Gift eines Skorpions ein Peptid namens Chlorotoxin gefunden. Kombiniert mit einem fluoreszierenden Stoff könnte es bei einer Operation die Grenzen von Tumoren oder Metastasen sichtbar machen.
"Wenn also jemand einen Hirntumor hat, kann man dieses Eiweiß intravenös spritzen, und es findet auf wundersame Weise seinen Weg durch die Blut-Hirn-Schranke und heftet sich an den Tumor."
Glenn King erzählt begeistert. Doch gleichzeitig warnt er davor, Tiergifte mit Hoffnungen zu überfrachten.
"Tiergifte sind eine Sammlung von Molekülen wie jede andere auch. Ich denke, da gibt es ein großes Potenzial. Aber ich bin auch realistisch und denke, die meisten davon werden scheitern – so wie die meisten Moleküle anderen Ursprungs auch."Zurück in der Schlangenfarm, in einen Raum mit hundert Malaiischen Grubenottern und einem roten Nottaster - um Alarm zu schlagen, falls jemand gebissen wird. "Generell mit den Giftschlangen oder in der Schlangenfarm arbeiten wir immer mindestens zu zweit. Wir haben so eine schöne weiche Unterlage." Petr Kliment nimmt eine Schaumstoff-Unterlage aus einer der Schubladen und legt sie auf die Arbeitsfläche. Dann greift er einen Schlangenhaken – groß wie ein Golfschläger. "Die Schlange wird von dem Instrument da auf die weiche Matte gelegt. Dann wird sie mit dem Instrument fixiert, so dass sie sich nicht weh tut, deswegen auch die weiche Unterlage. Dann – wenn man den Kopf damit fixiert hat, kann man sie in die Hand nehmen. Hat man sie dann in der Hand, kann man sie dann an die Kristallinschale bringen, die Zähne frei machen, und dann mit mäßigem Druck auf die Giftdrüsen, ja, extrahiert man das Gift der Schlange dann." Durch das regelmäßige Melken und die gute Futterversorgung produzieren die Labortiere doppelt so viel Gift wie ihre freilebenden Artgenossen. "Das macht die Sache auch ein bisschen gefährlicher für die Leute, weil man weiß: Wenn man hier von einer Schlange gebissen wird – die hat auch was drauf!" Ein Vertreter der Pharma-Industrie, der sich nicht scheut, mit einem tierischen Gift zu hantieren, ist Jörn Tonne. Der Chemiker ist einer der Geschäftsführer des Unternehmens Nordmark, das die Schlangenfarm in Uetersen unterhält. In einem mit dickem Teppich ausgelegten Konferenzraum verrät er, was mit dem frisch gemolkenen Gift der Malaiischen Grubenottern geschieht.
"Das Rohgift besteht ja aus unheimlich vielen verschiedenen Komponenten. Wir arbeiten nur mit genau einem einzigen Molekül: der Fibrinogenase, auch genannt Ancrod." Der Wirkstoff Ancrod war schon einmal registriert, auch in Deutschland, vor etwa 25 Jahren. "Und zwar war es registriert für periphere Durchblutungsstörungen oder auch genannt Schaufensterkrankheit. Es ist verwendet worden – quasi off-Label – für Erfrierungserscheinungen von Skifahrern in Österreich; vom kanadischen Militär. Also es gab viele Anwendungen davon."
Dann habe der damalige Hersteller mit dem Wirkstoff ein Medikament gegen Hirn-Infarkte entwickeln wollen und das bestehende Produkt vom Markt genommen. Es kam aber nicht zur Zulassung, so dass Ancrod ganz vom Markt verschwand. Über Umwege kam es schließlich dazu, dass die Firma Nordmark die Schlangenfarm aufbaute und die Rechte an Ancrod erwarb. "Insgesamt sind wir absolut überzeugt davon, dass Ancrod ein unglaublicher und einzigartiger Wirkstoff ist, von dem wir auch fest glauben, dass er rekombinant, also biotechnologisch so, in der Form auch nicht herstellbar ist."
Schlangen werden gemolken
Das Enzym ist zu komplex, um es im Labor nachzubauen. Also müssen Schlangen gemolken werden. Gleichzeitig gibt es mindestens acht Krankheitsbilder, bei denen es zum Einsatz kommen könnte. Für besonders vielversprechend halten Jörn Tonne und seine Mitarbeiter den plötzlichen Hörsturz. Denn dahinter stehen offenbar arterielle Gerinnsel, die die Blutversorgung im Ohr behindern.
"Wir wissen, dass Ancrod stark in die Gerinnung eingreift, und vor allem in die Bildung und das Wachstum von diesen Thromben. Und wir wissen, dass – wenn man Ancrod gibt – die Viskosität von Blut dramatisch reduziert wird, und damit – denken wir – können wir die Versorgung des Ohrs im Prinzip mit den ganzen Nährstoffen, die es braucht, auch gewährleisten."
Gift stellt Hörvermögen von Meerschweinchen wieder her
In Versuchen regenerierte Ancrod das Hörvermögen von Meerschweinchen mit fast komplettem Hörverlust innerhalb von zwei Stunden. Inzwischen befindet sich das Medikament in einer klinischen Phase-2-Studie, in der es an Menschen getestet wird. 50 Patienten müssen mindestens daran teilnehmen. Doch die Rekrutierung laufe schleppend, sagt Jörn Tonne. Bleibe es bei der derzeitigen Geschwindigkeit, müsste die Nordmark noch etwa 30 Jahre weiter rekrutieren. Das sei schon finanziell nicht möglich.
"Wir werden vielleicht irgendwann demnächst mal an den Zeitpunkt kommen, wo wir – obwohl wir noch nicht genug Patienten haben – die Studie mal schließen, um die Daten, die wir bisher generiert haben, dann mal richtig auswerten zu können.
So ließen sich vielleicht mehr Patienten davon überzeugen, dass das Schlangen-Enzym tatsächlich heilen kann. "Es besteht offensichtlich, positiv formuliert, ein erheblicher Respekt davor, sich mit was behandeln zu lassen, was aus einem giftigen - Schrägstrich - tödlichen Tier kommt."
Im Gift von Schlangen, Spinnen und Kegelschnecken steckt viel Potenzial für neue Arzneistoffe. Darin scheinen sich alle einig zu sein. Doch es stellt sich die Frage, wie dieser Schatz zu heben ist. Bremst die Pharmaindustrie? Oder sind wir – die potenziellen Patienten – es am Ende selbst, die das Gute im Gift nicht von seiner tödlichen Wirkung trennen können?