„Einer der großen Vorteile der Technologie ist, dass sie unabhängig von der Krebsart eingesetzt werden kann. Ob es sich um Brust- oder Lungenkrebs handelt ist unerheblich, solange es möglich ist, die Mutationen zu identifizieren“, erklärt Van Morris, Mediziner und Assistenzprofessor für Magen-Darm-Krebsmedizin am MD Anderson Cancer Center der University of Texas in Houston. Er leitet eine in Phase II befindliche klinische Studie, in der individualisierte mRNA-Impfstoffe bei Dickdarmkrebs-Patienten eingesetzt werden, die sich im zweiten oder dritten Stadium befinden. „Ein besonders aufregender Aspekt ist die Anpassungsfähigkeit der Technologie an den Krebs und seine grundlegende Biologie.“
Molly Cassidy wurden über einen Zeitraum von 27 Wochen neun Injektionen eines individualisierten mRNA-Impfstoffs verabreicht. Begleitend dazu erhielt sie intravenöse Infusionen des immuntherapeutischen Arzneistoffs Pembrolizumab. Ihre Ärztin, Julie E. Bauman, stellvertretende Leiterin des Krebszentrums der University of Arizona, überwachte die Behandlung. Sie untersuchte Molly Cassidy zunächst einmal in der Woche, später alle drei Wochen, auch unter dem Einsatz von Computertomographie. Nach jeder Verabreichung des Impfstoffs bekam Molly Cassidy Fieber, fühlte sich müde und hatte körperliche Schmerzen. Die Nebenwirkungen hielten jedes Mal etwa 24 Stunden an. „Mein Immunsystem lief auf Hochtouren – und das war genau der Effekt, den wir erreichen wollten, damit es den Krebs bekämpfen konnte“, erklärt sie.
Als die Behandlung im Oktober 2020 beendet war, zeigte die Computertomographie keine Spuren von Krebs mehr in ihrem Körper.
Impfstoff hilft dem Immunsystem auf die Sprünge
Einfach ausgedrückt ist es das Ziel, mit dem mRNA-Vakzin das Immunsystem in Alarmbereitschaft zu versetzen, sodass es den Tumor im System bemerkt und ihn angreift. „Man muss sich das wie biologische Software vorstellen“, erklärt John Cooke, medizinischer Leiter des Zentrums für RNA-Therapie am Houston Methodist Hospital. „Impfstoffe werden aktuell für die Krebsarten entwickelt, für die es derzeit keine guten Behandlungsmöglichkeiten gibt, oder bei denen sehr wahrscheinlich Metastasen gebildet werden.“
Manche mRNA-Impfstoffe haben eine standardisierte Herangehensweise. Sie sind Allrounder und so programmiert, dass sie nach bestimmten Targetproteinen auf der Oberfläche von Krebstumoren suchen. Darüber, wie zuverlässig diese Herangehensweise ist, kann nur spekuliert werden. Einige Experten haben jedenfalls Bedenken. „Die Frage ist doch: Was genau ist das Angriffsziel? Damit der Impfstoff wirken kann, muss er die Antwort darauf kennen“, sagt David Braun, Onkologe am Dana-Faber Cancer Institute der Harvard Medical School, spezialisiert auf Immuntherapien. Einen klar umrissenen Angriffspunkt wie das Spike-Protein bei COVID-19 sucht man beim Krebs vergebens und die DNA-Mutationen der Krebszellen gestalten sich von Patient zu Patient unterschiedlich.
An dieser Stelle kommen die individualisierten mRNA-Krebsimpfstoffe ins Spiel, die laut Experten um einiges vielversprechender sind. Für ihre Herstellung wird eine Gewebeprobe des Tumors entnommen und gemeinsam mit der DNA des Patienten analysiert. So werden Mutationen identifiziert, die die Krebszellen von gesunden Zellen unterscheiden. Darauf aufbauend wird im nächsten Schritt ein individuelles mRNA-Molekül hergestellt und zu Impfstoff verarbeitet. Der Prozess dauert im Schnitt vier bis acht Wochen. „Es ist ein technischer Kraftakt”, sagt Robert A. Seder, Leiter der Zellimmunologie-Abteilung des Impfforschungsinstituts des National Institute of Allergy and Infectious Diseases in Maryland.