Was ist Ihrer Meinung nach der größte Erfolg des FAH-Projekts?
Delemotte: Die größte Leistung ist sicherlich, so viele über die ganze Welt verteilte Leute in ein derart großes Forschungsvorhaben einzubeziehen, das neue Erkenntnisse über zahlreiche medizinische und pharmakologische Systeme bringt. Die Art von Berechnungen, die wir im Zuge unserer Forschung vornehmen, erlauben uns, neue Medikamente und Wirkstoffe zu entwickeln, indem sie uns bildlich zeigen, wo sich Wirkstoffe mit ihren Zielmolekülen verbinden und wie sie funktionieren. Allerdings sind solche Berechnungen sehr aufwendig.
Vereinfacht gesagt ist die Idee hinter FAH, die ungenutzte Rechenleistung vieler Computer überall auf der Welt zu nutzen, um Proteindynamik zu simulieren. Bildlich gesprochen ist jede Simulation eine Art Entdecker. Indem wir Tausende von ihnen in alle möglichen Richtungen aussenden, können wir Aufgaben in Angriff nehmen, die auf einem einzelnen Rechner unlösbar sind.
Die biomedizinischen Anwendungen der FAH-Technik sind sehr breit und umfassen Erkrankungen wie Alzheimer, Krebs und Infektionsbekämpfung. Aktuell konzentrieren wir uns darauf, SARS-CoV-2 besser zu verstehen. Mit dem COVID-Moonshot-Projekt sind wir aktiv an der Entwicklung antiviraler Wirkstoffe beteiligt und haben bereits erste Kandidaten ermittelt. Die Tests mit Modellen, die auf Tieren basieren, werden gerade finalisiert. Derzeit arbeiten wir an der Anwendbarkeit beim Menschen. Ziel ist die Entwicklung und Produktion eines patentfreien antiviralen Medikaments zur oralen Einnahme. Das würde weltweit den Schutz gegen neue Varianten von SARS-CoV-2 stärken.
Was ist der wichtigste Meilenstein des vergangenen Jahres?
Delemotte: Ich würde sagen, dass die Wissenschaftler hinter FAH an "COVID Moonshot" teilnehmen. Die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs gegen Covid-19 stützt sich auf Beiträge vieler Forscherteams auf der ganzen Welt. FAH hat dazu mit zahlreichen Berechnungen und Simulationen beigetragen, andere Gruppen führen darauf aufbauend Laborexperimente durch. Es gibt bereits vielversprechende Wirkstoffkandidaten, von denen wir hoffen, dass sie in die Entwicklung und Erprobung gehen.
Was ist die größte Herausforderung an einem verteilten Rechenprojekt wie diesem?
Delemotte: Abgesehen von den technischen Herausforderungen, bei denen ich mich auf andere Mitglieder des FAH-Konsortiums verlasse, ist es wohl dies: den Rechenzeitspendern (und der Allgemeinheit) zu erklären, dass unsere Forschung ein langwieriges, vom Zufall abhängiges Unterfangen ist. Ein Großteil des Fortschritts bleibt für Außenstehende unsichtbar und wäre auch schwer zu erklären, ist für uns aber unverzichtbar. Nicht auf ein konkretes Medikament zeigen und sagen zu können, "Das haben wir entwickelt, und jetzt rettet es Leben!" macht es schwer, das Interesse über längere Zeit aufrecht zu halten.
Haben die von FAH erzielten Erkenntnisse Ihres Wissens zur Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffs beigetragen?
Delemotte: Nein, denn FAH nimmt nicht an der Impfstoffforschung teil; dafür sind unsere Methoden auch nicht besonders geeignet. Die Impfstoffentwicklung und -optimierung zielt darauf ab, das körpereigene Immunsystem anzuregen, das Virus möglichst schnell zu bekämpfen, damit es Zellen nicht infiziert.
Wir konzentrieren uns stattdessen auf ein einzelnes Protein des Virus, das Zielmolekül (Target), und versuchen mit Wirkstoffen seine Funktion gezielt zu stören. Das können kleine Moleküle oder Peptide sein, die eine selektive, starke Bindung mit dem Target eingehen. Beispielsweise helfen sie, die Vermehrung des Virus zu stoppen – das ist der Fall beim Angriff auf die Virus-Protease, also beim Projekt COVID Moonshot. Oder sie richten sich gegen das Spike-Protein des Virus und stören seine Bindung an menschliche Zellen und damit seinen Eintritt in die Zellen. Mit unserer Methode visualisieren wir, ob und wie stark Wirkstoffkandidaten an ein bestimmtes Virusprotein ankoppeln und ob sie tatsächlich seine Funktion unterbinden. So erlangen wir Hinweise darauf, wie wir den Wirkstoff verbessern können.
Schon vor dem COVID-Projekt nutzte FAH die von den Teilnehmern bereitgestellte Rechenzeit, um andere Krankheiten wie Alzheimer, Huntington oder Krebs zu erforschen. Gab es dabei Erfolge?
Delemotte: Ja, sogar einige, etwa beim Ebola-Virus. Darüber hinaus entdeckten Forscher beispielsweise an diversen Bakterien neue empfindliche Stellen für Medikamente, sogenannte "druggable sites" – wichtig im Kampf gegen Antibiotikaresistenz. Ein Problem der Wirkstoffentwicklung ist, dass häufig nur ein einziger Schnappschuss vom Aussehen eines Proteins vorliegt. Aber Proteine sind nicht statisch, sie haben viele bewegliche Teile. Wir versuchen mithilfe der FAH-Simulationen, diese zu entdecken und mit den Erkenntnissen neue Methoden zu entwickeln, bestimmte Proteine mit Wirkstoffen ins Visier zu nehmen.
Antibiotikaresistenz ist ein zunehmendes medizinisches Problem, das jedes Jahr mehrere zehntausend Leben kostet und unfassbar viel Geld verschlingt. Eine der häufigsten Resistenzen besteht darin, dass infektiöse Bakterien -Lactamase produzieren. Dieses Protein zerlegt das Antibiotikum und schützt so die Bakterien.
Unsere Simulationen der -Lactamase zeigten, dass sich bei üblichen Proteinbewegungen ein Teil öffnet und eine verdeckte Tasche freilegt (Cryptic Pocket), die zuvor unbekannt war. In anschließenden Experimenten konnten wir belegen, dass Moleküle, die Arzneimitteln sehr ähnlich sind, genau in diese Tasche gleiten, dort festklemmen und so die -Lactamase hemmen. Diese Methode wollen wir künftig auf Moleküle anwenden, die bislang als nicht behandelbar gelten. [Anmerkung der Redaktion: Eine Open-Access-Version dieser Arbeit finden ist frei einsehbar.]
Wie sehen Sie AlphaFold, den Algorithmus zur Vorhersage von Proteinstrukturen der Google-Tochter DeepMind? Ist er eher ein Konkurrent oder ein weiteres Werkzeug, das Wissenschaftlern zur Verfügung steht?
Delemotte: DeepMind ist mit dem AlphaFold-Algorithmus ein gewaltiger Fortschritt bei der Vorhersage von Proteinstrukturen gelungen; sie haben sich damit an die Spitze des Feldes gesetzt. Dazu möchte ich dem Team gratulieren! Allerdings erklärt AlphaFold nicht, wie sich Proteine falten – das ist nach wie vor ein ungelöstes Phänomen. Der Algorithmus beantwortet auch keine der anderen Fragen, die direkt oder peripher mit Proteinfaltung zusammenhängen.
Demgegenüber konzentrierte sich FAH ursprünglich genau auf diese Frage: Wie falten sich Proteine, um ihre dominante Struktur anzunehmen. Inzwischen bezieht das Projekt aber auch andere verwandte Fragen in seine Forschung ein, da alle diese Phänomene den gleichen physikalischen Prinzipien unterliegen. Synergien zwischen AlphaFold und Folding@home könnten uns in diesen Punkten voranbringen.
Wird es neue Projekte bei Folding@home geben?
Delemotte: Es sind stets neue Projekte in Entwicklung. Dabei geht es nicht nur um Covid-19, sondern auch um andere Bereiche wie neurodegenerative Störungen, Herzrhythmusstörungen, andere virale Krankheiten oder Muskeldystrophie. Mit mehr Rechenleistung können wir schlicht mehr Forschung in allen möglichen Gebieten des Gesundheitswesens und der Biotechnologie vorantreiben.
GPUs liefern inzwischen weit mehr Rechenleistung als CPUs. Können klassische Prozessoren trotzdem noch einen sinnvollen Beitrag in den FAH-Simulationen leisten?
Delemotte: Auf jeden Fall! Für die von uns eingesetzte Simulationstechnik gibt es zwei Engines: OpenMM läuft auf GPUs, GROMACS auf CPUs. Sie decken unterschiedliche Teilbereiche ab, liefern also beide hilfreiche Daten.
Welche Kenngröße verspricht den höchsten Durchsatz beim Falten – hohe FP32-/FP64-Rechenleistung, Speicherbandbreite, Cache (Größe, Durchsatz, Latenz) oder etwas anderes?
Delemotte: Moderne, schnelle Prozessoren und Grafikchips liefern die beste Leistung. Wichtiger ist aber aus unserer Sicht, dass uns möglichst viele Teilnehmer Rechenzeit spenden, auch wenn sie nicht die optimale Hardware besitzen. Wir können unsere Berechnungen auf viele Rechner verteilen und die Ergebnisse dann zusammensetzen.