Traditionen können einengen, auch wenn es um Verlust, Abschied und Trauer geht. Jeder ist anders – wieso sollte da nicht auch jeder anders trauern? Warum feste Regeln dennoch sinnvoll sein können.
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Von Lydia Rieß
Ich erinnere mich nicht daran, als Kind bewusst den Tod eines anderen Menschen oder Trauer meiner Eltern erlebt zu haben. Einerseits war es gewiss positiv, dass diese schwere Seite des Lebens meine Kindheit nicht geprägt hat. Andererseits traf mich daher in meiner Jugendzeit der Tod meiner Großmutter wohl umso härter, zumal sie der einzige Teil meiner Großeltern war, den ich noch kennengelernt hatte. Ich wusste kaum mit dem Verlust umzugehen, wusste nicht, wie das überhaupt funktioniert mit dem Trauern. War es in Ordnung, mitten im Alltag mal plötzlich in Tränen auszubrechen, oder sollte ich mich eher beherrschen und zurückziehen? Sollte ich mich gegen den Willen meines Vaters stellen, der mich gleich am nächsten Tag wieder in die Schule schicken wollte, oder war es besser für mich, ganz normal weiterzumachen, um wieder im Leben anzukommen? Ich wünschte mir beinahe so etwas wie eine Anleitung zum richtigen Trauern. Etwas, das mir dabei half, diesen schmerzhaften Einschnitt in mein Leben angemessen zu würdigen und zu verarbeiten, ohne mich darin zu verlieren.
Rituale, die Halt geben
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In islamischen Ländern ist es üblich, dass die Hinterbliebenen drei Tage lang von der Gemeinde mit Essen versorgt werden. Das schafft Raum zum Trauern, zum Abschiednehmen, und gibt Zeit, sich in die neue Situation hineinzufinden, ohne von ihr überfallen zu werden. In China ist es nicht nur in Ordnung, auf offener Straße zu weinen, es wird sogar erwartet, dass die Angehörigen laut und öffentlich trauern. Kinder von Verstorbenen dürfen dort 49 Tage lang ihr Haar nicht schneiden, und in den 100 folgenden Tagen darf keine Hochzeit in der Familie stattfinden.
In vielen Kulturen wird besondere Kleidung getragen, die den Trauernden nicht nur die Möglichkeit gibt, ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen, sondern eine Botschaft nach außen sendet und Solidarität weckt. Oft gelten sogar festgelegte Trauerzeiten, in der gewisse Dinge geboten sind – wie bestimmte Kleidung, Reinigungsriten, eine Würdigung des Toten –, andere hingegen vermieden werden, z. B. Feiern oder bestimmte Speisen.
Durch solche Rituale wird Raum und Orientierung geschaffen: Den Trauernden wird Zeit zugestanden, in der sie sich zurücknehmen dürfen, in denen sie besondere Zuwendung und Verständnis erhalten. Der Verlust eines Menschen ist psychologisch gesehen ein tiefer Einschnitt, nach dem manche Lebensbereiche innerlich wie äußerlich neu geordnet werden müssen: Man verliert nicht nur eine vertraute Person, mit der man in gegenseitiger Liebe, Zuneigung bzw. Wertschätzung verbunden war. Gleichzeitig fallen auch ganz praktische Aspekte weg: der Teil der Hausarbeit, den dieser Mensch stets erledigt hat, die Verwaltung der Finanzen oder die ausgeprägte Fähigkeit, die gemeinsamen Kontakte zu pflegen. Auf diese Veränderungen muss man sich erst einmal neu einstellen. Das braucht Zeit und Kraft, die man sich nehmen sollte. Gleichzeitig ist auch eine festgelegte Anzahl an Trauertagen hilfreich: Es setzt einen klaren Schlusspunkt, an dem die Trauernden bewusst wieder in den Alltag zurückkehren.
Platz im Alltag
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Es hat einen Sinn, dass die Zeit der Trauer in vielen Kulturen eine besondere, vom Alltag abgegrenzte Zeit ist, bei der die Trauernden eine andere Rolle als sonst einnehmen. Es ist auch sinnvoll, dass diese Zeiten durch Rituale geregelt sind, damit trotz allem so etwas wie Ordnung herrscht. Denn so hart das klingt: Wer trauert, funktioniert nicht wie üblich und stellt dadurch eine Belastung für seine Umwelt dar. Trauernde sind weniger als alle anderen in der Lage dazu, ihre Arbeit zu erledigen oder in einer geselligen Runde mitzulachen. Sie weichen von der Norm ab und verhalten sich oft nicht so, wie man es erwartet oder gewohnt ist. Sie sind vor allem Bedürftige, weniger belastbar und kaum in der Lage, etwas zu geben. Das ist nach einem Verlust nicht nur verständlich, sondern auch völlig angemessen.
Schwierig wird es, wenn die Trauer ihren Platz in unserem Alltag verliert. Früher gab es auch in unseren Kulturkreisen feste gesellschaftliche Regeln, wie sich Trauernde zu verhalten hatten – oder auch anders: wie sie ihrer Trauer in der Öffentlichkeit Ausdruck verleihen konnten und durften. Zum Beispiel wurde der Tote im Sterbezimmer zu Hause aufgebahrt. Familienmitglieder verstarben häufger zu Hause und der Tod war gegenwärtiger. Auch heute wird auf Beerdigungen in der Regel noch schwarz getragen (spannenderweise war es vor einigen Jahrhunderten noch weiß, wie heute noch in einigen anderen Kulturen üblich), und auch die traditionelle Beileidskarte ist den meisten vertraut.
Inzwischen existiert allerdings so etwas wie eine einheitliche Trauerkultur kaum noch, vieles darf und soll individuell gestaltet werden. Trauer wird zudem oft als Ausnahmezustand verstanden, den es so schnell wie möglich zu überwinden gilt, damit alles zur Normalität zurückkehren kann. Zum einen trauert jeder Mensch anders, und nicht jeder Verlust ist gleich oder gleich schwer: Da ist es gut, selbst gestalten zu können. Andererseits bringt die vollkommene Freiheit und Traditionslosigkeit eine doppelte Unsicherheit mit sich: Trauernde wissen manchmal nicht, wie sie ihre Trauer ausdrücken sollen (oder dürfen), und ihre Mitmenschen wissen kaum, wie sie ihnen in dieser Lage begegnen sollen.
Trauer in der Bibel
Als Christen liegt es da nahe, bei diesem Thema einen Blick in die Bibel zu werfen. Am häufgsten fndet sich dort natürlich die Trauer um einen geliebten Menschen. Abraham trauert um seine Frau Sara (1. Mose 23,2), Jakob um den vermeintlich von einem wilden Tier zerrissenen Josef (1. Mose 37,34-36). Trauer ist dabei nicht immer eine individuelle Sache: Als Mose stirbt, trauert das Volk Israel kollektiv 30 Tage lang um ihn (5. Mose 34,8), und auch am Tod Samuels nimmt die ganze Nation Anteil (1. Samuel 25,1). Hier haben wir einen ersten Hinweis: Trauer ist nicht Privatsache, sondern etwas Solidarisches – und etwas, wofür man sich Zeit nimmt.
Spannend finde ich dabei vor allem das „Wie“. Die Menschen der Bibel verleihen ihrer Trauer sichtbar Ausdruck, teilweise sogar auf sehr drastische Weise. Eine häufge Reaktion auf Tod oder Unglück ist das Zerreißen von Kleidung – etwas, das sogar der König selbst tut (siehe z. B. 2. Samuel 13,31), wo wir doch wohl gerade von unseren Staatsoberhäuptern erwarten würden, seriös und gefasst zu bleiben. Hiob rasiert sich darüber hinaus sogar das Haar ab, als er um seine Kinder trauert (Hiob 1,20). Ebenso üblich ist das Tragen von Sack und Asche – so etwas fällt in jedem Fall auf. Trauer in der Bibel ist also nichts, was versteckt wird, ganz im Gegenteil.
Wie sehr diese sichtbare Trauer ihren festen Platz in Leben und Gesellschaft hatte, zeigt das Beispiel Hesekiels: Er erhält von Gott den Auftrag, nicht um seine verstorbene Frau zu trauern, um damit ein Zeichen zu setzen, das die Leute zum Nachdenken bringt – und es funktioniert. Seine Mitmenschen sind irritiert und fragen nach. In Israel fel also nicht der als ungewöhnlich auf, der seiner Trauer Ausdruck verlieh, sondern derjenige, der sie runterschluckte und sich zusammenriss.
Jesus weinte
Spannend fnde ich auch die Geschichte von Lazarus, oder besser gesagt, das Verhalten Jesu in dieser Geschichte. Als er das Grab seines verstorbenen Freundes Lazarus besucht, weint Jesus. Er weiß zu diesem Zeitpunkt bereits, dass Lazarus wieder lebendig wird. Dennoch reicht ihm das nicht als Grund, sich zu beherrschen. Er lässt seinen Tränen freien Lauf, versteckt seine Traurigkeit nicht. Ebenso spannend fnde ich die Reaktion der Menschen um ihn her. Da ist niemand peinlich berührt oder wendet sich ab. Nein, für die Umstehenden ist es völlig normal, dass Jesus weint. Schließlich hatte er Lazarus lieb, und wenn man jemanden lieb hatte, dann weint man auch um ihn, ganz egal, ob jemand zuschaut.
Und noch etwas können wir an dieser Stelle lernen: Niemand wendet sich vom weinenden Jesus ab, aber es rennt auch niemand hin, um ihn in den Arm zu nehmen und zu trösten. Sicherlich haben solche Gesten auch ihren Platz und Raum – aber manchmal ist es wichtiger, dass wir die Tränen der anderen aushalten. Ihnen das Gefühl geben, dass es in Ordnung ist, dass es normal ist und sie das dürfen – ohne dass von uns gleich eine Reaktion kommen muss, die diese Tränen ignoriert oder aber gleich eindämmen will.
Abschied von der Vergangenheit
In der Bibel fnden wir auch eine andere Art von Trauer. Als Noomi mit ihrer Schwiegertochter Ruth nach Israel zurückkehrt (Ruth 1), trauert sie zwar zunächst einmal über ihren Mann und ihre Söhne. Dahinter steht aber noch eine tiefere Wunde: Noomi trauert um das Leben, das sie sich ausgemalt hat, um ihren geplatzten Traum von trautem Heim, Enkelkindern und einem beschaulichen Leben in Moab. Ihre Trauer geht so weit, dass sie sogar ihren Namen, der mit „die Glückliche“ übersetzt werden kann, in Mara (die Bittere) ändert. Denn sie ist nicht mehr die Frau, die diese Träume hatte. Ähnlich geht es Esau, als er zu seinem Vater kommt und erfährt, dass sein Bruder Jakob ihm den Segen des Erstgeborenen weggeschnappt hat. Er beginnt zu weinen und den Verlust zu betrauern (1. Mose 27,34). Petrus weint bitterlich, als der Hahn kräht und er erkennt, dass er die Freundschaft zu Jesus verraten hat (Matthäus 26,75). Und Jesus weint, als er Jerusalem sieht, als er an die Menschen darin denkt, die seine Botschaft nicht annehmen und Erlösung in ihrem Leben erfahren wollen (Lukas 19,41). Alles ganz öff entlich und für alle sichtbar.
Ich denke, wir dürfen uns daran ein Beispiel nehmen. Auch wir dürfen geplatzte Träume, verpasste Chancen und Niederlagen in unserem Leben betrauern. Und wenn wir in unserer Gesellschaft dazu keinen Raum finden, dann sollten wir ihn schaffen, für uns selbst und für andere. Trauer bedeutet, Abschied zu nehmen. Nur dann, wenn ich von etwas Altem angemessen Abschied genommen habe, ist in mir auch Raum und Bereitschaft für etwas Neues. Erst dann, wenn ich meinen Frieden mit der Vergangenheit geschlossen habe, kann ich sie loslassen und mich der Zukunft zuwenden. So etwas braucht Zeit, und dafür darf und muss anderes auch mal liegenbleiben. In einer Gesellschaft, in der wir es zu sehr gewohnt sind, nur unsere Siege und Erfolge zu feiern, dürfen wir uns wieder mehr Zeit nehmen, um auch die Niederlagen und Verluste zu würdigen. Denn auch sie sind Teil unserer Biographie, sie prägen uns. Und vielleicht können auch sie gerade dann wertvoll für uns werden.
Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift Lebenslauf erschienen, die wie Jesus.de zum SCM Bundes-Verlag gehört.