Der Mensch ist ein Verdrängungstier. In Deutschland zeigt sich das mehr als deutlich beim Umgang mit Schweinen. Die Borstentiere sind in unserer Kultur „abwesend anwesend“, wie der Philosoph Thomas Macho in seinem Buch schreibt: Schweine. Ein Portrait. Was Macho damit meint, ahnt jeder, der aufmerksam durch einen beliebigen deutschen Zoo spaziert. Am Schweinegehege ist neben dem Grunzen der Borstentiere fast immer auch das Jauchzen der Leute ob dieser possierlichen Geschöpfe zu hören, die Werbefuzzis längst zum „Kult“ erhoben haben. Wenige Meter entfernt befindet sich in aller Regel eine Imbissbude, an der dieselben Menschen genauso freudestrahlend in eine Bratwurst beißen.
In eine Bratwurst, die meist aus Massentierhaltung stammt, in der die Schweine auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Sie stehen oder liegen im Gestank ihrer eigenen Exkremente, werden mit Antibiotika, Psychopharmaka, Kraftfutter und Hormonen vollgestopft. Das Bolzenschussgerät versagt oft den Tötungsdienst, sodass die Qual der Tiere ins Unermessliche steigt. Männliche Ferkel dürfen ganz legal ohne Narkose kastriert und Muttersauen monatelang in körpergroße Kästen gesperrt werden, in denen sie sich nicht einmal ausstrecken können.
Inmitten dieser Zustände meldete tagesschau.de, der Bundesrat habe „nach jahrelangem Ringen“ neuen Regeln für die Haltung von Sauen zugestimmt. Die erwähnten „Kastenstände“ werden demnach verboten – nach einer „Übergangszeit von acht Jahren“. Die Meldung ist überschrieben mit „Mehr Tierschutz im Schweinestall“, was sich freilich liest wie frisch aus der PR-Abteilung des Landwirtschaftsministeriums. Denn die Konsequenzen für die betroffenen Tiere lassen diese Maßnahme für „mehr Tierschutz“ als das erscheinen, was sie ist: ein fauler Kompromiss, der das strukturelle Problem auch über die acht weiteren Jahre des legalen Quälens fortbestehen lässt.
2019 haben deutsche Schlachtbetriebe 55 Millionen Schweine getötet, oft auf bestialische Weise. Eine Gesellschaft, die so etwas auf Dauer zulässt, macht es sich zu einfach, Kritik und Spott auf Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner abzuladen. Dass Tierwohl ihr völlig wurscht ist, hat Klöckner oft genug bewiesen. Zuletzt etwa, als sie 2018 die Frist bis zum Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration auf Ende 2020 verlängerte. Und dass dieser Akt unvorstellbarer Gewalt ab kommendem Jahr wirklich überall nicht mehr vorkommt, ist bestenfalls ein Wunschtraum.
Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch von Massentierhaltung schweigen
Es geht schon lange nicht mehr allein darum, die Öffentlichkeit über die grausamen Haltungsbedingungen der Tiere aufzuklären. Inzwischen dürften die sattsam bekannt sein. Es braucht vielmehr ein Bewusstsein für Tierleid, also eine Verdrängung der Verdrängung. Wir dürfen nicht länger so tun, als handele es sich bei den Schmerzensschreien von Tieren um das Knarzen von Maschinen. Schweine sind soziale, leidfähige und sensible Wesen, denen ein Grundrecht auf ein schmerzfreies und artgerechtes Leben zusteht. Es gibt keinen ethisch vertretbaren Grund, ausgerechnet den zum Schlachten gezüchteten Tieren dieses Grundrecht zu verwehren.
Und da haben wir über die unwürdigen, gesundheitsschädlichen und allzu oft schwer traumatisierenden Bedingungen, unter denen Menschen in Fleischfabriken arbeiten müssen, noch gar nicht geredet. Allein der Corona-Ausbruch bei Tönnies hat den alten Brecht-Spruch „Die im Dunkeln sieht man nicht“ mal wieder bestätigt. Dessen Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe ist übrigens der Text der Stunde. Zeigt er doch, dass ein anderer berühmter Spruch (diesmal einer von Max Horkheimer) in abgewandelter Form bis heute ebenso gültig ist: Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch von Massentierhaltung schweigen.
Denn das Allheilmittel gegen die legalisierte Tierquälerei sehen manche Parteigänger der Grünen und der ein oder andere Klima-Bewegte in einer drastischen Erhöhung der Fleischpreise. Das würde aber den Rückfall in feudale Zeiten bedeuten, in denen der Pöbel seinen Kanten Brot zu fressen hatte, derweil die Eliten es sich an der reich gedeckten Tafel im herrschaftlichen Palast beim Spanferkelfest bequem machten. Die Politik darf einen teilweisen Fleischverzicht für alle, den das Ende der Massentierhaltung zwingend nach sich ziehen würde, in einer demokratischen Gesellschaft nicht ohne die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit durchsetzen. Warum sollten Menschen auch ernsthaft mit Tieren solidarisch sein, wenn die Politik ihnen seit Jahrzehnten nahezu stetig die soziale Sicherheit raubt?
Bei allen Fragen des Tierschutzes geht es also auch um die Frage nach Eigentum und Einkommensverteilung. Wer die Massentierhaltung beenden will, muss in einem Atemzug fordern, dass der Mindestlohn erheblich steigt und das Massendemütigungsinstrument namens Hartz IV endlich durch eine menschenwürdige Mindestsicherung ohne Lohnarbeitszwang ersetzt wird. Im besten Fall wäre es sogar eine Möglichkeit, die vielen Konzepte der Wirtschaftsdemokratie gleich mal in der Fleischindustrie zu testen. Für Mensch und Tier könnte es in die beste aller Welten führen, denn letztlich liegen ihre Interessen enger beisammen, als gemeinhin angenommen. Oder in den Worten des Fußballtrainers Dettmar Cramer formuliert: „Es hängt alles irgendwo zusammen. Sie können sich am Hintern ein Haar ausreißen, dann tränt das Auge.“