Riccardo Cassin, Lecco
Riccardo Cassin, Lecco Auf den Gedanken einer Anden-Expedition brachte mich Ende letzten Jahres Gigi Alippi auf Veranlassung seines Freundes Dr. Liati, der uns auch materielle Hilfe anbot. Ich war von dem Vorschlag begeistert, denn schon lange liebäugelte ich mit einer Besteigung in den Anden, die für mich noch vollständig Neuland waren.
Da uns genaue Informationen über diese Berge fehlten, wandten wir uns an unsern Freund G. Dionisi von Turin, einen grossen Kenner in diesen Belangen, hatte er doch an Expeditionen in die Weisse und die Huayhuash-Kordillere teilgenommen. Er eröffnete uns, dass in den Anden kein einziger wichtiger Gipfel mehr zu erobern sei; seiner Meinung nach müssten wir uns an eine als unbezwingbar geltende Wand halten, wenn wir wirklich eine bedeutende Besteigung ausführen wollten - z.B. an die Nevado-Yerupayà-Ost-wand.
Der Nevado Yerupayà ( 6634 m ) liegt in der Huayhuash-Kordillere in den peruanischen Anden und ist der höchste Gipfel Perus nach den Nevados Sur und Norte in der Cordillera Bianca.
Als die Expedition beschlossene Sache war, begann ich mit Alippi und Dr. Liati die Kameraden zu rekrutieren, und zwar wandte ich mich an die Gruppe Ragni ( les araignées ), indem ich darauf aufmerksam machte, dass die Teilnehmer - abgesehen davon, dass sie körperlich geeignet sein sollten - über ihre Zeit frei verfügen und unentgeltlich mitmachen müssten.
Die Sektion Lecco des CAI, unter dessen Patronat die Expedition stand, war uns eine wertvolle moralische Stütze; wenn sie uns auch nicht materiell behilflich sein konnte, wie sie es gerne getan hätte, so gelang es uns doch, eine äusserst fähige Mannschaft zusammenzustellen.
Ich selbst wurde zum Chef der Expedition bestimmt, die sich aus den folgenden Männern zusammensetzte: Annibale Zucchi und Gigi Alippi, meine Bergkameraden vom McKinley; Casimiro Ferrari, dessen grosse alpinistische Erfahrung unser Vertrauen rechtfertigte; Giuseppe Lafranconi, der durch zahlreiche Winterbesteigungen seine Fähigkeiten bewiesen hatte; Natale Airoldi, obgleich weniger bekannt, hatte doch zahlreiche Erfolge auf sein Konto zu buchen; Dr.Sandro Liati, Urheber der Expedition und hervorragender Alpinist. Mimmo Lanzetta trat schliesslich unserer Gruppe als Begleiter bei, und wenn er auch keinen grossen alpinistischen Ehrgeiz geltend machte, so war er uns gleichwohl sehr behilflich, besonders beim Lebensmittelnachschub in die Lager, kam er doch bis zum « Angriffslager » herauf.
Am 6.Juni verlassen wir den Flughafen von Mailand Richtung Peru, überfliegen Rio de Janeiro...
Wir sind tief bewegt, zum erstenmal mit einer Zivilisation in Berührung zu kommen, die sich so sehr von der unsrigen unterscheidet. Indessen erwartet uns hier eine unangenehme Nachricht: Dr. César Morales Arnao, « profesor de andinis-mo », mit welchem wir in Verbindung standen, eröffnete uns, eine österreichische Expedition sei uns an der Ostwand des Nevado Yerupayà zuvorgekommen. Da es aber nicht in meiner Art liegt, mich entmutigen zu lassen, beschliesse ich, ein anderes « Objekt » ins Auge zu fassen, und unsere Wahl fällt auf die Westwand des Jirishanca. Dieser Berg ( 6126 m ) ist einer der schönsten in den peruanischen Anden und, zusammen mit dem Yerupayà, der schönste der Huayhuash-Kordillere überhaupt.
Westseite des Huayhuash-Massivs. Von links nach rechts: Nevado Yerupayà, El Toro und JirishancaRoute X Sturmlager Photo Riccardo Cassin, Lecco 2Jirishanca ( 6126 m)-Westwand X Höhlen-Biwak Photo Erwin Schneider 3Besteigung des Jirishanca. In der Westwand Photo Riccardo Cassin, Lecco Mit der Geschichte des Jirishanca verknüpft ist der Name eines meiner Freunde, des betrauerten Toni Egger, der den Gipfel durch die Ostwand erreichte, nach langen, opferreichen Tagen harten Kampfes, während deren er seine Tatkraft, seinen Mut und seine grossen Fähigkeiten als Bergsteiger unter Beweis stellte.
Aber bis zu diesem Tage hatte noch niemand die Besteigung der Ostwand, unseres neuen « Objektes », versucht. Diese Wand, obwohl verlockend und von aussergewöhnlicher Schönheit, galt als unbegehbar. Und wirklich, von welcher Seite man sie auch betrachtet, stets zeigt sie sich als eindrücklicher Steilhang, absolut glatt und glänzend von Eis.
Um uns ihrem Angriffspunkt zu nähern, werden wir ein auf keiner Karte verzeichnetes Gebiet durchschreiten müssen, einen unerforschten Gletscher; noch 1954 hatte die Expedition Dr. Kliers ihn als unbesteigbar gehalten.
Unsere Mannschaft verlässt Lima in Richtung Chiquiàn, einen bedeutenden Marktflecken auf einer grossen, in 3553 Meter Höhe gelegenen Ebene. Der Grossteil seiner Bevölkerung betreibt Landwirtschaft mit primitiven Hilfsmitteln und ebensolchem Zubehör. Die Erde ist trocken, und die Bauern sind gezwungen, mit einer Stange als Hebel die Erdklumpen umzuwenden.
In Chiquiàn treffen wir auch unsere vier Träger, welche uns die schweren Lasten bis zum Angriffslager werden tragen helfen. Wir beladen vierzig « burros », kleine Esel, die unser Material bis zum Basislager transportieren werden, also bis auf 4000 Meter. Dieses wird nach dreitägigem, 140 Kilometer langem Marsch erreicht. Es befindet sich in unmittelbarer Nähe zweier kleiner Seen, wo Lanzetta viele Forellen angelt — ein idyllisches, gutgeschütztes Plätzchen, wo man in vollen Zügen die frische, reine und dünne Bergluft der Anden atmet.
Vor unsern Augen leuchtet der schöngeformte Westgrat der Huayhuash-Kordillere in der Sonne; er scheint unendlich, grenzenlos. Wir sind hingerissen von der aussergewöhnlichen Art der Gipfel, die uns umgeben: links der Rondoy, mächtig und grossartig; dann der Jirishanca, stolz und gewaltig; weiter der El Toro mit seinen eisfreien Felsen, deren hellrosa Farbe ein wenig an die Dolomiten erinnert; endlich der Yerupayà, der uns mit seiner Wucht beeindruckt. Ein jeder dieser Gipfel hat sein eigenes Gepräge.
Am 17.Juni, ganze zwölf Tage, nachdem wir Italien verlassen haben, sind wir erst mit der Einrichtung des Basislagers beschäftigt. Um nicht mehr Zeit zu verlieren, breche ich gleich am nächsten Morgen mit Alippi und den vier Trägern zum Berg auf; wir rücken mühsam vier Stunden in sehr steilem Gelände voran, bis wir einen geeigneten Platz zur Errichtung unseres Zwischenlagers finden, das als Depot und Stützpunkt dienen soll. Hier schlagen wir das Zelt auf, verstauen Lebensmittel und Material darin und kehren müde ins Basislager zurück. Die nächsten Tage widmen wir der weiteren Versorgung des Zwischenlagers.
Um das oberste Lager zu erreichen, müssen wir den 5300 Meter hohen und bis anhin als unbezwingbar geltenden El-Toro-Pass überschreiten. Wir sind aufgeregt, und unsere Gedanken sind mit dem beschäftigt, was unser harrt, denn Dr. César Morales Arnao hat uns erzählt, dass im Jahre 1957 ein mit 27 Personen besetztes Flugzeug an den Flanken des Passes, zwischen dem Jirishanca und dem El-Toro-Gip-fel, zerschellt sei; die Rettungsmannschaft habe nach viertägigen Anstrengungen ihre Mission abbrechen müssen, weil sie keinen Zugang zum Unglücksort habe finden können. Es handelt sich um eine Eiswüste, durchsetzt von einer Anzahl Spalten, die in allen Richtungen verlaufen; das wird auch für mich, der ich immerhin im Karakorum und in Alaska unterwegs war, etwas Neues sein.
Am 2i.Juni beginnt der Anmarsch zum Angriffslager. Wir glauben in ein Zauberreich aus Schnee und Eis voll von Schlingen und Fallen zu geraten. Plötzlich entdecken wir in der Mitte einer langen Spalte eine kleine Brücke, klein Pointe de l' Echelle ( 3427 m ), von der Péclet-Polset-Hiitte aus gesehen 2Chavière-Gletscher Photos Pierre Baillod, Neuenburg und zierlich, gleichsam sorglos von der Vorsehung hingestellt. Ich kann weder rechts noch links einen besseren Übergang finden; wir müssen uns mit dieser kleinen Brücke behelfen. Ich taste mich langsam und vorsichtig vor; die Eisbrücke hält. Ja, wir alle überschreiten sie und sind glücklich, dieses erste Hindernis überwunden zu haben.
Nachdem wir den Pass überschritten haben, erreichen wir das Angriffslager auf 5100 Meter Höhe. Die Wand des Jirishanca zeigt sich als eindrücklicher Steilhang von 70 bis 75 Grad, an gewissen Stellen sogar senkrecht, und da und dort ragen enorme Séracs hervor. Vielleicht haben wir uns mit dieser Route ausgerechnet für die schwierigste Lösung entschieden, denn wir werden uns den Weg durch eine ganze Reihe von Séracs im Überhang bahnen, mit wuchtigen Pickelhieben im Eis Stufen schlagen und fast überall Haken setzen müssen.
Die beträchtliche, nur allzu schnell erreichte Höhe hat bei uns Migräne hervorgerufen, die von Dr.Liati aber energisch behandelt wird.
Mehrere Tage werden vergehen, bis wir das oberste Lager vom mittleren und vom Basislager aus versorgt haben — eine mühselige Angelegenheit, wenn man an die Höhe und das schwer auf unsern Schultern lastende Material denkt.
Am 28.Juni nehmen vier von uns den Weg zum Gipfel unter die Füsse. Zucchi und Lafranconi eröffnen die Route, während Airoldi und ich filmen und photographieren und auch noch ein wenig Material mittragen helfen. Doch es kommt der Moment, wo wir uns zur Rückkehr gezwungen sehen, so sehr werden wir vom Eishagel bombardiert, den unsere zwei Kameraden beim Stufenschlagen ausgelöst haben. Wir steigen ins Lager ab, wo sich Alippi nach meinen Eindrücken erkundigt; ich kann ihm nur bestätigen, dass die Wand äusserst schwierig ist.
Um 18.30 Uhr - es ist schon dunkel - sind auch Lafranconi und Zucchi zurück; sie haben den Grat zwar nicht erreicht, sich ihm aber bis auf etwa 50 Meter genähert.
Am 29.Juni werden wir von einem scheusslichen Wetter überrascht, das uns vier Tage lang im Zelt gefangenhält; dabei hat man uns versichert, in den Anden sei um diese Zeit niemals schlechtes Wetter!
Am 3.Juli hellt es auf; Ferrari und Liati steigen in die Wand ein, um die durch den Sturm beschädigten Spuren wieder in Ordnung zu bringen. Gegen Abend werden sie von einem plötzlichen Wetterumsturz überrascht, so dass sie an Ort und Stelle biwakieren müssen.
Wir im Lager aber sind ohne Nachricht von ihnen; ich versuche zwar, die Lage nicht zu dramatisieren, doch gelingt es mir nicht, meine Besorgnis zu verheimlichen. Die schlechte Witterung beunruhigt uns und lässt uns eine lange Nacht in Angst und ohne Schlaf verbringen. Doch zu unserer grossen Erleichterung entdecken wir am Morgen das trotz des Sturmes unbeschädigte Zelt unserer Kameraden. Wieder einmal mehr hat sich unsere Ausrüstung bewährt.
Bei wieder aufhellendem Wetter können sich Lafranconi und Zucchi auf den Weg machen, um zu Ferrari und Liati zu stossen, die inzwischen in einer Eishöhle Zuflucht gefunden haben. Am folgenden Tag, am 5. Juli, brechen auch Alippi, Airoldi und ich, mit Lebensmitteln und Material beladen, auf, um uns den Freunden anzuschliessen; noch am gleichen Abend sind wir alle im Biwak vereint. Wir verbringen die Nacht in der bereits erwähnten Höhle, deren Stalaktiten einen bizarren Anblick bieten. Zu sechst müssen wir leider mit zwei Zelten vorliebnehmen, weshalb von Zeit zu Zeit der eine oder andere ein Freiluftlager vorzieht.
Im Morgengrauen des 6.Juli steigen Ferrari und Lafranconi eifrig die hundert Meter bergan, die sie schon tags zuvor bewältigt haben, und setzen ihre ganze Tatkraft ein, um die letzten Zehn-Meter-Strecken zu bezwingen, die sie noch vom Gipfel trennen. Um das letzte Stück zum pilzförmigen Gipfel des Jirishanca zu überwinden, muss man einem tückischen, aufgeweichten, schwammähnlichen und an der Oberfläche vom Wind traktierten Eisfeld die Stirn bieten. Der Pickel bricht ein, der Fuss gibt nach und verliert gewissermassen jeden Halt.
Die brüchige Eiskalotte, die den Gipfel bedeckt, scheint die Unverletzbarkeit dieses Nevados verteidigen zu wollen. Plötzlich verschwinden Ferrari und Lafranconi, die sich auf die andere Seite begeben haben, um einen Durchgang zu finden, aus meinem Blickfeld und tauchen einige Augenblicke später hinter der Gipfelhaube auf. Ferrari, von Lufranconi fragwürdig gesichert, gelingt es, aus dem Eis herauszutauchen und sich auf dem Gipfel aufrechtzuhalten, doch ist es da oben so eng, dass wir nicht alle auf einmal Platz finden, sondern sich einer nach dem andern hinaufmanöverieren muss. Bei der Rückkehr in der Höhle lassen wir unserer Freude freien Lauf.
Bei Tagesanbruch des 7.Juli beginnt der lange und zermürbende Abstieg. Lafranconi und ich sammeln die Seile und Haken ein, zum mindesten diejenigen, welche wir beim Abstieg nicht mehr brauchen. Um 2 Uhr nachmittags erreichen wir das oberste Lager, wo uns Lanzetta und die Träger erwarten. Aber bevor wir ins Basislager zurückkehren, feiern wir unsern gewonnenen Kampf mit einer Flasche « Cardinale », die Zucchi bis hierherauf geschleppt hat...
Übersetzung R. Vögeli