Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

von Gunnar Herbst und Christian EwersOstsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

20.07.2018, 19:23 Uhr

Strände und Hansestädte, Wälder und Fischerdörfer: Die Ostsee nimmt Urlauber mit ihrer Vielfalt gefangen. Eine Sommerreise von Flensburg nach Usedom.

In Böen peitscht der Wind über den Burger Binnensee. Braust auf, ebbt ab, türmt immer neue Wasserberge auf, die ebenso schnell verschwinden, wie sie gekommen sind. Die Ostsee zeigt heute ihr raues Gesicht. Selbst hier, an der Rückseite des Südstrands auf Fehmarn, wo es keine offene Brandung gibt. Keine einfachen Bedingungen für die Anfänger, die bei Manfred Charchulla Windsurfen lernen wollen. Reihenweise fallen die Schüler ins Wasser. Gestern haben die Teilnehmer erste Balance-Übungen gemacht. Heute sollen sie trainieren, das Brett zu lenken. Bei kabbeliger See.

Seit 1975 betreibt Charchulla, 79 Jahre alt, die Windsurfschule, die erste der Insel. Jetzt im Sommer unterrichtet er fast jeden Tag. Heute hat er genug gesehen. Er steht auf dem Steg und ruft: "Komm, ich zeig euch das mal!" Dann schnappt er sich ein Brett und fährt los, in Jeans, Hemd und Schuhen. Surft fast gegen den Wind, macht eine Wende, surft zurück, springt auf den Steg. Auf seiner Hose ist nicht ein einziger Tropfen Wasser zu sehen, selbst auf den Schuhen nicht. Die Schüler schauen sich ungläubig an.

1730 Kilometer Ostseeküste

Die Surfschule von Manfred Charchulla ist einer von vielen Anziehungspunkten, die die Menschen an die Ostsee locken. Jetzt, im Juli, beginnt sie wieder, die große Reisewelle. Rund sechs Millionen Bundesbürger verbringen jedes Jahr ihren Urlaub an der deutschen Ostsee, in einer der beliebtesten Urlaubsregionen Deutschlands. Trotz manch stürmischer Tage ist sie lieblicher als ihre wilde Schwester, die Nordsee. Das freut vor allem junge Familien, die ihre Kinder im flachen Wasser spielen lassen können, ohne fürchten zu müssen, dass gleich eine heftige Welle über den Kleinen bricht. Auch sonst zeigt die Ostsee große Beständigkeit: keine wahrnehmbare Ebbe und Flut. Sie ist immer da, das beruhigt. Man muss nur den Blick in die Ferne richten.

Als junge Männer sind Manfred (l.) und Jürgen Charchulla zur See gefahren, in den 1970er Jahren kamen sie nach Fehmarn, um auf der Insel eine Surfschule zu gründen. Heute sind die Zwillinge 79 Jahre alt. In Rente gehen? Kommt für sie nicht infrageOstsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

© Olaf Ballnus/stern

Zählt man die Inseln und Flussmündungen dazu, erstreckt sich die deutsche Ostseeküste mehr als 1730 Kilometer weit – von Dänemark bis Polen. Sie ist weitläufiger, zersiedelter als die Nordseeküste, manche sagen, auch vielfältiger: Wälder und Strände wechseln sich ab, Steilufer, Dünen und Städte. Touristisch entwickelt rund um Grömitz oder auf Usedom, an anderen Stellen menschenleer. Es gibt viel zu entdecken, ein malerisches Hinterland, Dörfer, Seen, die Bodden. Auch dort kann man aus dem Alltag abtauchen – das schlechte Mobilfunknetz hilft dabei.

Erdgeschichtlich gesehen ist die Ostsee noch jung, entstanden vor rund 12.000 Jahren am Ende der letzten Eiszeit, als riesige Gletscher im Nordwesten schmolzen. Heute ist sie das größte Brackwassermeer der Erde und doch tausendfach kleiner als Atlantik und Pazifik, im Schnitt gerade mal 52 Meter tief. In der deutschen Ostsee mischt sich das Süßwasser mit dem Salzwasser der Nordsee, dem Kattegat und Dänemarks Belts. Der Salzgehalt liegt bei ein bis zwei Prozent, vor Finnland sogar nur im Promillebereich. Auch über die deutsche Geschichte erzählt die Ostsee viel.

Das Wahrzeichen von Hiddensee ist der 28 Meter hohe Leuchtturm. Er wurde 1887/88 auf dem Schluckwieksberg im Norden der Insel erbaut und ist seitdem in Betrieb. In der Dunkelheit strahlt sein Licht bis zu 45 Kilometer weit auf die Ostsee hinaus

© Konrad Wothe/Lookphotos

Es gibt die gewachsenen Badeorte an der Küste Schleswig-Holsteins mit Promenaden, Ferienwohnungen und Betonbauten aus den 1970ern. Und die alten Seebäder wie Ahlbeck und Kühlungsborn in Mecklenburg-Vorpommern, die versuchen, die Hinterlassenschaften des Sozialismus zu beseitigen und nach altem Glanz, nach dem Prunk des ausgehenden 19. Jahrhunderts suchen.

"Viva Fehmarn"Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Um den Zauber der Ostsee zu ergründen, hat der stern Menschen an der Küste und auf den Inseln besucht, die vom Meer geprägt worden sind und die das Gesicht der Region prägen. Menschen wie Manfred Charchulla.

Es war ein weiter Weg für ihn und seinen Zwillingsbruder Jürgen, der ebenfalls eine Surfschule auf Fehmarn hat und der Manfred zum Verwechseln ähnlich sieht: Vollbart, lange Haare, markantes Gesicht. Im Zweiten Weltkrieg mussten sie von Kahlberg über die zugefrorene Ostsee nach Westen fliehen, in Segelschlitten über die Danziger Bucht. Später in Verden an der Aller spielten sie Indianer, tagelang. Damals wurde ihr Fernweh geweckt. Mit 14 fuhren sie zur See, in die Karibik, nach Australien und nach Amerika, wo die Indianer leben, 15 Jahre lang.

Jörn Ross lebt in Schleswig an der Schlei. Wenn der Fischer auf Aalfang geht, fährt er meist abends hinaus auf den Meeresarm und kommt erst am frühen Morgen wieder. Tagsüber repariert er Netze, säubert Reusen – und schläft ein paar Stunden

© Olaf Ballnus/stern

Dann wurden die Charchullas sesshaft, lernten neue Berufe, in ihrer Freizeit brachten sie sich Windsurfen bei. 1975 schließlich kündigten sie ihre Jobs und fuhren nach Fehmarn. "Uns hat es hier auf der Insel gleich sehr gut gefallen", erzählt Manfred. Die Zwillinge schrieben Lehrbücher, bildeten Surflehrer aus, organisierten Surf-Festivals auf Fehmarn. "Das Meer ernährt uns, genau wie der Wind."

Als Seeleute und als Surfer haben die Zwillinge die Welt bereist, meist zusammen. Mit einem Tandembrett sind sie in 14 Stunden durchs Skagerrak gesurft, 22 Stunden waren sie vor Puerto Rico auf dem Atlantik. "Wir konnten uns immer aufeinander verlassen", sagt Jürgen. Beide lieben die Karibik, beide spielen Steeldrums in der Band Steeltwins, eine ihrer CDs heißt "Viva Fehmarn".

Den Winter verbringt Jürgen in Panama, Manfred in Nicaragua. "Karibik und die Ostsee, besser geht's doch gar nicht", sagt Manfred.Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Schleswig: Regenbogen bei Vollmond

Als Jörn Ross mit seinem kleinen Motorboot in den Stadthafen von Schleswig tuckert, hat der 54-Jährige die Nachtschicht gerade hinter sich. Gestern Nachmittag ist er mit seinem Sohn Nils auf die Schlei hinausgefahren, um zu fischen. Vor allem Aal, der lässt sich nur nachts fangen, dazu Flunder, Scholle, Dorsch, Hering und Barsch. Am frühen Morgen ist Jörn Ross zurückgekehrt, hat ein halbes Brötchen gegessen, Kaffee getrunken und eine Stunde geschlafen.

Jetzt ist es neun Uhr morgens. Ross legt am Pier an, wo ein halbes Dutzend Kunden auf ihn warten. Und es werden immer mehr. "Heute gibt es keinen Aal, nur Fischstäbchen", frotzelt einer. "Und Rollmops", sagt ein anderer. Das stimmt ganz und gar nicht. Es war ein guter Fang, Jörn und Nils Ross können fast alle Fischsorten anbieten, die in dem Meeresarm der Ostsee leben. An Bord nehmen sie den Fisch aus, filetieren ihn, ziehen dem Aal die Haut ab. Jörns Frau Sabine steht auf der Pier und bedient die Kunden.

Martin Johannsen mischt alle möglichen Spirituosen, aber vor allem Rum. Urgroßvater Andreas Heinrich gründete 1878 den Familienbetrieb. Das Destillat kommt aus Jamaika, damals wie heute

© Olaf Ballnus/stern

Ross und seine Frau wohnen wenige Hundert Meter vom Hafen entfernt. Sein Haus am Holm, dem historischen Fischerviertel von Schleswig, hat einen eigenen Bootsanleger. Die Söhne Nils und Christian sind bei ihm angestellt. Auch der Vater von Jörn Ross war Schlei-Fischer, genau wie dessen Vater, so geht es in der Familie seit Anfang des 17. Jahrhunderts. Ross fischt zwischen Schleswig und Arnis, in kleinen Booten mit Netzen und Reusen, auch auf der Ostsee. Der Fisch aus der Schlei schmecke milder als der aus dem Meer, sagt er. "Die Älteren können sogar am Geschmack erkennen, an welcher Stelle er gefangen worden ist."

Neben dem Direktverkauf beliefert Ross auch Restaurants und eine Fischereigenossenschaft. "Viel Aufwand, wenig Ertrag, König und Bettelmann liegen da eng beisammen", sagt er. Es ist harte Arbeit, bei Wind und Wetter, bei Nacht oder am Tag, auch am Wochenende. Zum Glück seien die Fischbestände recht stabil, obwohl der Kormoran den Nachwuchs wegfresse. Die Schlei-Fischer halten dagegen. In diesem Jahr setzen sie rund 1,5 Millionen Aale aus. Was Ross an der Schlei liebt? Kurze Pause. "Sonnenaufgänge, sagt er dann, "genauso wie Stürme." Das Wetterleuchten, die hellen Nächte im Sommer. "Wir haben nachts auch schon einen Regenbogen gesehen, bei Vollmond. Das muss man erlebt haben."Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Kurz nach elf Uhr fährt Ross aus dem Hafen zurück zu seinem Haus am Holm, über dem Boot fliegt ein großer Schwarm Möwen. Unterwegs kontrolliert er noch ein paar Reusen. Nach dem Mittagessen wird er zwei, drei Stunden schlafen. Dann fährt er wieder raus auf die Schlei.

Tillyberg: Mehr ist mehr

Die Ostsee ernährt nicht nur die Menschen, sie regt auch ihre Fantasie an. Die 49-jährige Katrin Werger etwa pendelt zwischen zwei Welten. Als Stylistin reist sie viel und hübscht Prominente wie Katarina Witt oder Katrin Bauerfeind auf. Und dann wäre da noch ihr zweiter Beruf: Werger entwirft Bademode "für Frauen mit Kurven", wie sie sagt. Badekleider und Bikinis, in denen man sich nicht nackt fühlt, weil sie viel Haut bedecken. "Mir gefällt die Idee, dass eine Frau ihre Kurven verhüllt und trotzdem sinnlich aussieht."

Inspiration findet Werger auf alten Fotos von Brigitte Bardot, Sophia Loren oder Marilyn Monroe. Ihr Atelier liegt zehn Kilometer von der Ostsee entfernt, in Tillyberg, einem Dorf nordöstlich von Wismar. Im ersten Stock des alten Hauses stapeln sich Fotobände und Zeitschriften, Badeanzüge hängen in offenen Kleiderschränken oder lagern in großen Boxen. Hier zeichnet Werger ihre Modelle, hier packt sie Pakete für den Versand.

Die Altstadt von Flensburg

© Juergen Feuerer/Mauritius Images/Chromorange

Werger macht Mode, weil sie keine Badeanzüge fand, in denen sie sich wohlfühlte. "Lange Zeit gab es nichts zwischen Oma und 'Baywatch'?" Ihre Kollektion für das Label "Prachtstück" umfasst 16 Stücke. Sie heißen "Adrett", "Anmutig" oder "Reizend" und sehen auch so aus. Einteiler und Zweiteiler, in Dunkelblau und Creme, "das passt zur Ostsee", sagt Werger. Dazu Badeanzüge für Kinder, Sommerkleider, auch eine Badehose für Männer ist dabei. Aufgewachsen ist Werger in Frankfurt an der Oder, sie war Leistungsturnerin und Tänzerin. "Aus Bequemlichkeit entsteht keine Innovation", sagt sie. "Nichts hat Wert, wenn man nicht weiß, was man dafür getan hat." Als Kind machte Werger oft Ferien an der Ostsee, auf Usedom, auf dem Darß oder in Warnemünde. Seitdem träumt sie davon, am Meer zu leben.Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Werger zieht es zu jeder Jahreszeit an die Ostsee. "Wenn es stürmt, pustet die Ostsee mir die Seele frei", sagt Werger. "Sie lässt mich spüren, wie klein wir sind. Aber der Horizont zeigt mir: Alles ist möglich."

Flensburg: Ruhm und Rum

Die Rohstoffe, die Martin Johannsen verarbeitet, sind weit gereist. Der 54-Jährige betreibt Flensburgs ältestes Rumhaus, gegründet 1878 von Urgroßvater Andreas Heinrich. Damals wie heute kommt das Rum-Destillat aus Jamaika. In einem ehemaligen Kaufmannsspeicher in der Marienstraße 6 mischt Johannsen eigene Liköre, Schnäpse. Vor allem aber: Rum.

Das hat in der Hafenstadt an der Ostsee Tradition. Um die Einfuhrzölle zu sparen, entwickelte man auf Jamaika die German Flavoured Rums: als Konzentrat ungenießbar, weil etwa 40 Mal stärker im Geschmack als gewöhnliche Sorten. "Das ist, wie auf einer Kaffeebohne zu kauen", so Johannsen. Mit Alkohol und Wasser versetzt jedoch geben sie den Mischungen einen besonderen Charakter.

Weil Katrin Werger keine Bademode fand, die ihr gefiel, begann sie, selbst welche zu entwerfen. In ihrem Atelier in Tillyberg bei Wismar zeichnet sie ihre Modelle, in Bildbänden findet sie Inspiration

© Olaf Ballnus/stern

Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es rund 30 Rumhäuser in Flensburg, heute ist A. H. Johannsen das letzte Traditionshaus in der Stadt. Der Familienbetrieb liegt wenige Hundert Meter vom Hafen entfernt. Es riecht nach Hochprozentigem, hin und wieder hört man eine Möwe schreien. Über Schläuche pumpt Martin Johannsen die Destillate in große Behälter, die bis zu 1300 Liter fassen, und verdünnt sie mit Wasser. So entstehen zwölf eigene Rumsorten: seine Klassiker wie "1878" und neuere Kreationen wie "Windstärke 13" in einer schiefen Flasche. Manche lieblicher, mit Vanille- oder Pflaumennote, manche kräftiger.Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Bevor sie abgefüllt und etikettiert werden, lagern die Rumsorten monatelang in alten Fässern aus amerikanischer Steineiche, "das rundet den Geschmack ab", sagt Johannsen. Die fertigen Spirituosen verkauft er unter anderem online und in seinem Laden in der Marienstraße. Beim Entwickeln neuer Rezepturen hilft ihm seine Erfahrung, aber auch die Meinung seiner Freunde und seiner Mitarbeiter, insbesondere seiner Frau. Einmal im Jahr mischt Johannsen einen Regatta-Rum. Über Himmelfahrt organisiert der Flensburger Museumshafen ein Rennen mit alten Segelschiffen. Jede Mannschaft bekommt eine Flasche Regatta-Rum, der Zweitplatzierte gewinnt eine Dreiliterflasche. "Deshalb", behauptet Johannsen, "wollen viele Segler nur Zweiter werden."

Priwall: Was schwimmt denn da?

Es ist Projektwoche an der Schule am Meer in Lübeck. Kinder der fünften bis siebten Klassen sind mit Rädern und der Fähre auf die Halbinsel Priwall gefahren, um das Leben im Binnenmeer zu erkunden. Im Labor der Ostseestation Travemünde nehmen sie winzige Pflanzen und Tiere, die sie aus dem Hafenbecken gekeschert haben, unter die Stereolupe. So werden Meerasseln und Moostierchen sichtbar, Rippenquallen, Seenadeln und Schlickkrebse. Dann wirft Thorsten Walter, Leiter der Ostseestation, Bilder der Tiere und Pflanzen an die Wand des Seminarraums. Zu jedem Lebewesen hat er Fragen an die Kinder – und erstaunliche Antworten, etwa dass die Feuerqualle aus der Nordsee durch Wind und Strömung in die Ostsee getrieben wird und dass das heimische Petermännchen zu den giftigsten Fischen Europas zählt. "Die Ostsee ist genauso spannend wie das Mittelmeer oder die Südsee", sagt der 50-jährige Meeresbiologe. "Man muss nur genau hingucken."

Vor elf Jahren hat Walter die Ostseestation eröffnet, in einer alten Halle am Passathafen auf dem Priwall. Inzwischen ist die Ausstellung in neue, größere Räume am Hafen gezogen. Sie umfasst rund 25 Aquarien mit Fischarten, die in der Ostsee leben, dazu Quallen, Seesterne und Strandkrabben. Sie zeigt Steine und Fossilien aus dem Binnenmeer und erzählt dessen Entstehungsgeschichte. "Wir machen Umweltbildung für alle Altersgruppen", sagt Walter.

Die Bäume am Darßer Weststrand sind tapfere Gesellen. Ihre Kronen sind zwar von Böen gekrümmt, ihre Wurzeln aber stecken tief und fest im Ostseesand

© Dagmar Schwelle/Laif

Wie jedes Meer hat auch die Ostsee mit Problemen zu kämpfen: mit Müll und Überdüngung durch die Landwirtschaft, mit Munition aus dem Zweiten Weltkrieg und intensiver Fischerei. Der Klimawandel sorgt für eine verstärkte Algenbildung. Das Meer speichert CO2, als Folge sinkt der pH-Wert des Wassers, es wird saurer – und das erschwert die Schalenbildung von kalkbildenden Organismen. Auch darüber informiert die Ostseestation. An freien Tagen geht Walter gern am Brodtener Steilufer spazieren. Abschalten kann der Meeresbiologe dort nicht. "Meine Freundin sagt immer, guck nicht so viel auf den Boden und ins Wasser, sondern lieber in den Himmel."Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Öhe: Insel der Querköpfe

Wenn Mathias Schilling abends nach Hause fährt, nimmt er ein Boot. An müden Tagen entscheidet er sich für das Motorboot, das aussieht wie eine stählerne Badewanne mit Außenborder. Fühlt sich Schilling frisch, steigt er in den alten Holzkahn und macht rüber nach Öhe, auf seine Insel. Ein paar kräftige Züge an den Ruderblättern, und schon hat Schilling, 36, den Hafen von Öhe erreicht. Das ist ein Holzsteg, dem einige Latten fehlen und der wie ein Trampolin federt, wenn ihn zwei Leute gleichzeitig betreten.

"Willkommen auf Öhe", sagt Schilling, "ich hoffe, Sie konnten sich entspannen auf der Überfahrt." Er sagt das mit einem Schmunzeln, denn die Ostseepassage hat höchstens zwei Minuten gedauert. Öhe liegt nur 40 Meter vom Rügener Festland entfernt, man kann locker einen Fußball hinüberschießen. Doch diese 40 Meter Abstand, dieser kleine Burggraben aus Ostseewasser, ist wichtig für Schilling. Er ist ein Symbol fürs Loslassen, für den Aufbruch zu neuen Ufern, zumindest in Gedanken.

"Auf der Insel kommen mir viele Ideen", sagt Schilling, der hier mit seiner Frau Nicolle und einer Tochter lebt. "Ideen, die ich mich an Land nicht traue, in Worte zu fassen."

Am Ufer des Prerower Stroms stehen gut erhaltene Reetdachhäuser

© Vario Images

Seit mehr als 700 Jahren ist die 75 Hektar große Insel in Familienbesitz. Und schon immer hat sie die Querköpfe unter den Schillings angezogen. Mathias' Großvater Wilhelm baute hier Rüben und Getreide an – im Hauptberuf jedoch war er Arzt in Zubzow. Er ließ sich nicht von Öhe vertreiben, obwohl ihn die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft "Morgenrot" der jungen DDR schikanierte, wo es eben ging. Ein Großteil der Ackerflächen wurde zwangskollektiviert, Dünger und Tierfutter zu solch astronomischen Preisen angeboten, dass Wilhelm Schilling es kaum bezahlen konnte.Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Wachgeküsst

Und nun sorgt sein Enkel Mathias für ordentlich Wirbel – nicht nur auf Öhe, sondern auch auf der Nachbarinsel Hiddensee und in der Rügener Gemeinde Schaprode. Auf den Öher Salzwiesen betreibt Schilling eine Rinderzucht. 25 Jungbullen grasen hier, dazu kommen weitere 100 auf Rügen. Sie landen irgendwann in "Schillings Gasthof", einem rustikalen Lokal direkt am Hafen. Früher belieferte Schilling Sterneköche mit dem Fleisch, heute geht jedes Steak in eines seiner Restaurants.

Auf Hiddensee, wenige Kilometer von Schaprode entfernt, hat Schilling gleich zwei Lokale eröffnet. Im vergangenen Jahr das "Hafenamt" und in diesem Juni den "Hafenkater", zwei moderne, freundliche Häuser mit viel hellem Holz. So etwas ragt heraus auf Hiddensee, einer landschaftlich bezaubernden Insel, die allerdings in manchen Straßenzügen noch so wirkt, als wäre die DDR erst vorgestern untergegangen. "Für mich ist Hiddensee ein Schatz, der noch längst nicht gehoben ist", sagt Schilling. "Ich will diese Insel endlich wachküssen."

In ihrer Werkstatt in Prerow restaurieren die Brüder Dirk (l.) und René Roloff alte Darßer Türen

© Olaf Ballnus/stern

Vielen Insulanern geht das zu schnell. Schilling gibt ein Tempo vor, das sie nicht mitgehen wollen und manche nicht mitgehen können. Ins Gesicht sage ihm das niemand, berichtet er, "aber einige Menschen grüßen mich plötzlich nicht mehr".

Mathias Schilling schreckt das nicht. Er hat schon Pläne für ein weiteres Haus auf Hiddensee. Er zieht das durch – da ist er wie sein Großvater Wilhelm.Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Prerow: Wo ist Pumuckl?

An der Ostsee trifft man viele solche Sturköpfe. Menschen, die Gegenwind mögen, weil sie dann zeigen können, welch gute Segler sie sind.

René Roloff betreibt mit seinem Bruder Dirk eine Kunsttischlerei in Prerow, einem Seebad auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. Die Roloffs gehen einem Handwerk nach, das vom Aussterben bedroht ist: Sie restaurieren und bauen Darßer Türen. Die fallen einem gleich ins Auge, wenn man durch Prerow fährt: schwere Türen, bunt bemalt und mit Schnitzereien verziert.

René Roloff, 52, kann fast zu jeder Tür eine Geschichte erzählen; vielen hat er auf seiner 200 Jahre alten Werkbank den letzten Schliff gegeben. "Wir haben keine Angst vor computergestützten Fräsmaschinen", sagt Roloff, "Maschinen können uns nicht schlagen. Der Kunde will echte Handarbeit, er will Unikate."

Mathias Schilling lässt seinen Rindern viel Auslauf: 25 Jungbullen teilen sich mehr als 70 Hektar Weideland auf Öhe

© Olaf Ballnus/stern

Wie sehr ihm die Industrie 4.0 mit ihren schlauen 3-D-Druckern den Buckel runterrutschen kann, ist seiner Tischlerei anzumerken. In dem unscheinbaren Haus an der Langen Straße sieht es aus wie bei Meister Eder und seinem Pumuckl: Überall Holzlatten, Türen, Werkzeuge, überquellende Regalfächer, und in der Luft tanzen Sägespäne. Fehlt nur, dass der rothaarige Kobold aus einem Holzstapel hervorlugt. Die Roloffs können sich vor Aufträgen kaum retten. Wer sich von ihnen eine Tür bauen lassen möchte, muss vier bis fünf Monate warten. Gerade haben sie eine klassizistische Kassettentür aus Wustrow in Arbeit; sie stammt aus einem Kapitänshaus und ist mindestens 200 Jahre alt.Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Im Sommer verwandelt sich die Tischlerwerkstatt in ein lebendiges Museum. Am Tag kommen drei bis vier Besuchergruppen, um den Roloffs beim Restaurieren zuzusehen. Die Brüder arbeiten mit vielen alten Werkzeugen, die so längst nicht mehr hergestellt werden: einem sogenannten Schinder zum Glätten von Kanten, einem Hobel aus Ebenholz von 1750 und alten Glasschneidern. Ein Besuch in der Tischlerstube ist wie eine Zeitreise in vergangene Jahrhunderte.

Heringsdorf: wilde Orchideen

Auch im Planwagen von Brigitte Will kann man Geschichte erleben. Seit 42 Jahren fährt Will mit ihrer Pferdekutsche Feriengäste über die Insel Usedom. Seit 42 Jahren auf immer gleichen Wegen: von Ahlbeck oder Heringsdorf an den Wolgastsee.

Will, 63, erzählt von den hochfliegenden Plänen des Geheimrats Hugo Delbrück für Heringsdorf, während die Kutsche gemütlich durchs Usedomer Hügelland zuckelt. "Heringsdorf sollte ein riesiger Freizeitpark werden – mit Pferderennbahn, Freilichtbühne, Spielcasino und Wildgehege", sagt Will, "eine Sommerresidenz vor allem für die Reichen." Es war 1872, als Delbrück die Aktiengesellschaft Seebad Heringsdorf gründete.

Heringsdorf aber funkelte nur kurz. Der Erste Weltkrieg machte Delbrücks Pläne zunichte, und während der DDR-Zeit verfielen viele der herrschaftlichen Bauten. Mittlerweile sind die meisten Häuser restauriert, und oft genug bemerkt man gar nicht, wie sehr Heringsdorf heute noch vom Eifer der Aktiengesellschaft profitiert. Da ist dieser Schotterweg, über den die Kutsche rollt. Er wurde einst künstlich aufgeschüttet, damit Wanderer und Radfahrer trockenen Fußes durch die sumpfigen Wiesen kommen.

Heringsdorf an der Ostsee

© Reinhard Schmid/SchapowalowOstsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Seit den 1920er Jahren wurden immer mehr Teile der Insel unter Naturschutz gestellt. Nach der Wende wurde das Gebiet noch einmal entscheidend vergrößert. Und die Natur hat sich viel zurückerobert in der alten Parklandschaft: Vom Kutschbock aus sieht man wilde Orchideen blühen, und mit etwas Glück erblickt man eine der beiden Kranichfamilien, die in den Ahlbecker Wiesen leben. "Letztens habe ich sogar den Nachwuchs gesehen", sagt Will. Kaum ein Hase oder Eichhörnchen weicht zurück vom Wegesrand, wenn die beiden Mecklenburger Kaltblüter Eros und Vagabund den Planwagen von Brigitte Will durch die Landschaft ziehen. Nach mehr als vier Jahrzehnten hat Will es also geschafft: Sie ist willkommen bei den Wald- und Wiesenbewohnern.

Peenemünde: Schönheiten aus Zedernholz

Ursula Latus ist weite Wege gegangen, um zu begreifen, wohin sie gehört: an die Ostsee, zu den Schiffen. Latus, 55, ist in Bayern aufgewachsen. Sie studierte Chemie, machte einen Abschluss als Ingenieurin, zog nach Berlin, doch so richtig glücklich wurde sie dort nicht. Sie musste "etwas mit den Händen tun", sagt sie, "etwas gestalten und das Ergebnis hinterher in Händen halten."

Seit 42 Jahren fährt Brigitte Will Gäste durch Heringsdorf und das Usedomer Hügelland. Die Mecklenburger Kaltblüter Eros und Vagabund ziehen die Kutsche

© Olaf Ballnus/stern

Dafür war Berlin die falsche Stadt. Dort kann man prima feiern, Start-ups gründen und das Geld der Eltern verbrennen, aber als Handwerker kommt man in der Hauptstadt nicht weit. Latus machte eine Ausbildung zur Bootsbauerin und ging nach Usedom zu einer großen Werft. Bald schon galt sie als Spezialistin für die Takelage von Großseglern, also für die Masten und das Tauwerk. Latus arbeitete an der "Gorch Fock", dem berühmten Segelschulschiff der Deutschen Marine, und an der "Seacloud 2", einem luxuriösen Kreuzfahrtschiff.

Die Werft war schon besser als Berlin, aber so richtig gut gefiel es Ursula Latus erst am nördlichsten Zipfel der Insel Usedom, in Peenemünde. Hier hat sie heute ihre eigene Werkstatt: ein ehemaliges Heizhaus am Hafen, elf Meter hohe Decken, 300 Quadratmeter Fläche, viel Licht. Seit 2006 baut sie hier Boote, vorwiegend Kanus und Kajaks. Und sie gibt Workshops für interessierte Laien.Ostsee: Eine Entdeckungstour von Flensburg bis Usedom

Ostseetaufe

"Wenn da eine gemeinsame Begeisterung für Boote ist, dann packt mich das mit Haut und Haaren", sagt Latus. "Es macht Spaß, Wissen weiterzugeben und zu sehen, wie Neues entsteht." 30 bis 50 Boote pro Jahr laufen in der Manufaktur von Ursula Latus vom Stapel. Ihre Taufe bekommen sie meist in der Ostsee. Das Hafenbecken liegt wenige Meter entfernt, die Boote müssen nur über den Oldtimer-Parkplatz von Ursulas Mann Detlev Löll getragen werden, und schon schwimmen sie im Wasser.

In einem ehemaligen Heizhaus in Peenemünde baut Ursula Latus Kajaks und Kanus aus Holz

© Olaf Ballnus/stern

Sie fallen auf mit ihren glänzend lackierten Rümpfen, die meist aus Zedernholz und Tanne gearbeitet sind. Schönheiten aus der Provinz sind das, entworfen im nördlichsten Dorf Usedoms von einer stillen Bootsbaumeisterin. Dabei würden die eleganten Kajaks und Kanus bestimmt auch den Hipstern in Berlin gefallen, für eine Fahrt auf der Spree oder dem Wannsee.

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