Flüchtlingshilfe in Rheinland-PfalzEin Dorf macht sich stark für das "Wir"

Länderreport / Archiv

| Beitrag vom 05.02.2021

Flüchtlingshilfe in Rheinland-Pfalz

Ein Dorf macht sich stark für das "Wir"

Von Anke Petermann

Im rheinland-pfälzischen Jugenheim hilft die Initiative "Willkommen im Dorf" geflüchteten jungen Menschen. (Picture Alliance / dpa / Friso Gentsch)

Vor fünf Jahren gründete sich im rheinland-pfälzischen Jugenheim die Initiative "Willkommen im Dorf". Eine klassische Win-Win-Situation: Flüchtlinge integrieren und damit zugleich die Dorfstrukturen wiederbeleben. Das Konzept ging auf.

Vor sieben Jahren hat Alaa Edin Suliman Abitur im syrischen Aleppo gemacht. Informatik hätte er gern studiert, doch in der umkämpften Stadt war das nicht möglich. Gemeinsam mit seinen Eltern und zwei erwachsenen Geschwistern floh der junge Syrer vor Bürgerkrieg und Bombardierung.

Gemeinsam mit anderen Familien aus Syrien und dem Irak zogen die Sulimans in das ehemalige evangelische Pfarrhaus von Jugenheim. Der Landkreis Mainz-Bingen hatte es angekauft, als sich abzeichnete, dass der Wohnraum in dem 1600-Einwohner-Dorf für die vielen Geflüchteten nicht ausreichen würde.

An diesem Januarabend regnet es, Suliman ist eben erst von der Arbeit bei einem Hersteller für Tiernahrung im 20 Kilometer entfernten Bingen zurück.

"Die haben auch eine IT-Abteilung, und da bin ich tätig", berichtet er. "Es macht auf jeden Fall Spaß, das ist der Beruf, für den ich mich entschieden habe, und ich bin super-zufrieden. Ich mache das, worauf ich Bock habe."

Vom Flüchtling zur systemrelevanten Stütze

Alaa Edin Suliman hat es geschafft. Als "Fachinformatiker Systemintegration", so die Berufsbezeichnung, hat er einen krisenfesten Job. Rein beruflich betrachtet lässt die Coronapandemie den Mittzwanziger kalt. "Die anderen Abteilungen in meiner Firma brauchen uns. Und auch wenn die Arbeit weniger wird, würden andere entlassen und nicht wir, denn die brauchen uns für die IT-Infrastruktur der Firma, damit alles in Ordnung läuft. Bei uns läuft alles über den Onlineshop, und wenn wir nicht mehr da sind, dann machen die keinen Umsatz mehr. Von daher können die auf uns nicht verzichten. Generell werden wir immer gebraucht – egal in welcher Lage", Das sagt der 26-Jährige über sich und seine IT-Kollegen. Bis der bürgerkriegsbedingt verhinderte syrische Informatikstudent zur systemrelevanten Stütze eines deutschen Mittelständlers wurde, waren es einige Jahre harter Arbeit: zunächst Deutsch-Pauken in Volkshochschulkursen.

Alaa Edin Suliman (l.) mit seinem "Paten" Andreas Grieß. Inzwischen hat der junge Syrer eine Ausbildung zum Fachinformatiker erfolgreich abgeschlossen und hat einen festen Job. (Deutschlandradio / Anke Petermann)

Die Initiative "Willkommen im Dorf" hatte erkämpft, dass die ersten Kurse im Gemeindehaus von Jugenheim stattfanden. Den Geflüchteten ersparte sie damit lange, teure Busfahrten. Suliman beherrschte mit Englisch schon eine germanische Sprache und lernte schnell. Als sein Ansprechpartner in der Initiative erfuhr, dass er technisch begeistert ist, knüpfte der den Kontakt zum Chef der örtlichen IT-Firma Roi Solutions. 2015 stellte Roi Suliman als Minijobber ein. Die Kombination vormittags Deutsch lernen, nachmittags arbeiten, war anstrengend. Aber: "Das war sehr gut für mich. Ich konnte die Sprache danach mehr – besser sprechen." Sein Deutsch verbesserte sich. Und schon auf dem Jugenheimer Weihnachtsmarkt Ende 2015 freute sich der zielstrebige Computerfreak gemeinsam mit einem Freund über den ersten Etappensieg: Roi Solutions hatte dem Syrer eine Ausbildungsstelle angeboten.

"Mit Anzug und mit Weste - da hatte er schon gewonnen"

Sulimans Traum vom Informatikstudium war in greifbare Nähe gerückt, befand damals Lars Weber: "Die Ausbildung und dann noch drei Jahre arbeiten in dem Job, dann kannst du studieren gehen. Das qualifiziert dich für ein Studium, quasi." Das Bewerbungsgespräch für die Lehrstelle nahm Alaa Edin Suliman wichtig. Das fiel ins Auge, erinnert sich Andreas Gieß, der Ansprechpartner in der Jugenheimer Willkommensinitiative: "Der Dressman hoch zehn, mit Anzug, mit Weste, mit Rasierwasser – vom Allerfeinsten, geschniegelte Schuhe – ja, da würde ich sagen, da hatte er dann schon gewonnen." Anzug und Weste blieben die Ausnahme. Aber im Arbeitseifer und in der Genauigkeit ließ der Azubi nicht nach, lobte sein damaliger Chef Carsten Albermann: "Er spricht sehr gut Englisch, das haben Sie bei manchen deutschen Auszubildenden nicht. Da hat er eine Stärke." Um in der Kundenbetreuung flexibel zu sein, machte Suliman den Führerschein. Dem Berufsschulunterricht zu folgen, fand der junge Syrer aber schwierig. Mit seinem Alltagshelfer konnte er besprechen, warum seine Noten zu wünschen übrig ließen und die Zwischenprüfung in Gefahr schien: "Manchmal gibt es viele neue Wörter für mich, und das kommt sehr häufig vor. Und ich brauche manchmal ein bisschen Zeit, um diese Worte zu verstehen." "Geschäftsprozess" und andere Fachbegriffe habe er im Fortgeschrittenenkurs B2 nicht gelernt, er müsse so viel nachschlagen, dass er die Hausaufgaben oft nicht komplett schaffe, klagte Suliman damals. Der Alltagshelfer riet dem syrischen Azubi, Mitschüler um Hilfe zu bitten. "Man hat ja in so einer Klasse immer zwei, drei Leute, mit denen man sich gut versteht. Wenn du die mal fragst – lädst du einen ein, sagst: ‚Ich gebe dir einen Kaffee aus, lass uns mal zusammensetzen, ich versteh das nicht‘." Suliman lacht: "Ja!" - "Ruf mich an, falls es weiter Probleme gibt", schob Gieß zum Abschied nach. Das war 2017.

Der Knoten platzte

Kurz darauf platzte bei Suliman der Knoten, sprachlich und schulisch ging es bergauf. Die permanente Deutschpraxis im Job katapultierte ihn nach vorn, glaubt der Mittzwanziger heute: "Ich war quasi gezwungen, die ganze Zeit durch zu reden. Ich habe täglich neue Worte gelernt und konnte die dann auch benutzen, das war wirklich sehr hilfreich." Dass sein Alltagshelfer ihn im Gewerbeverein für Minijob und Ausbildung empfahl, habe seine berufliche und sprachliche Integration maßgeblich abgekürzt, glaubt Suliman im Nachhinein.

Dankbar ist er auch, dass die Jugenheimer Firma Roi Solutions ihn so familiär coachte: "Das hat mir sehr viel geholfen, das hätte vielleicht zwei, drei Jahre gedauert, bis ich das alles gemacht hätte, und das habe ich alles in einem Jahr geschafft. Das hat mir sehr viel Zeit gespart!" Warum die Willkommensinitiative des rheinhessischen Weindorfs Jugenheim so effizient arbeiten konnte, dass sie Ansprechpartnerin für Initiativen bundesweit wurde? "Wir waren früher dran als andere", sagt Uli Röhm, pensionierter ZDF-Wirtschaftsredakteur und Koordinator von "Willkommen im Dorf". "Wir haben relativ schnell spontan die Arbeit begonnen, waren selbst überrascht, wie viele Interessenten es gab, die bereit waren mitzuarbeiten", erinnert er sich. "Und von den 50, 60 ehrenamtlichen Paten, die wir anfangs hatten, ist eine ganze Menge übrig geblieben, die über fünf Jahre kontinuierlich mitgearbeitet hat."

Schnupperangebote für Neuankömmlinge

"Paten" heißen die Alltagshelfer in Jugenheim. Alle steuerten ihre Talente und beruflichen Kenntnisse bei. Viele knüpften dauerhafte Freundschaften mit den syrischen, irakischen und afghanischen Familien. Einheimische und Geflüchtete kochten und feierten zusammen.

Der TUS Jugenheim lockte die Neuankömmlinge mit Schnupperangeboten. Integration, darin sehen die Engagierten bis heute eine Aufgabe für beide Seiten. Und im Zuzug eine Chance dafür, dass die beiden Kitas im Dorf, die Sport- und Kulturangebote ausgelastet bleiben. Von der Lernhilfe profitierten bis zum Beginn der Pandemie einheimische und geflüchtete Kinder.

Mitgründerin Sabine Klein betreut eine afghanische Familie. Deren Kinder Monis und Younis besuchen die weiterführende Schule. Vor zwei Jahren wurde klar: Beide brauchten Unterstützung beim Lernen. "Und ich hatte die beiden immer zu Hause. Und dann kamen die Lamar und der Zuhair auch", sagt Klein. Lamar und Zuhair sind die syrischen Freunde im Grundschulalter. "Dann habe ich gedacht, ich schaff‘ das nicht, das ist nicht mein Ding. Und dann haben der Herr Röhm und ich das ganz gut hingekriegt." Lernförderung nämlich als inklusives Angebot für alle Kinder, unabhängig vom Vermögen der Eltern und den Noten der Schüler. An zwei Nachmittagen in der Woche mit sechs professionellen ehrenamtlichen Lehrkräften für zwölf Schülerinnen und Schüler. Dafür reichte der Saal des evangelischen Gemeindehauses gerade aus. Um den Ehrenamtlichen Aufwandsentschädigungen zahlen zu können, beantragte Uli Röhm Gelder aus der Integrationspauschale des Bundes. Mit Erfolg.

Das Jugenheimer Nachhilfeprojekt fördert nicht nur junge Flüchtlinge, sondern auch andere Dorfkinder. (picture alliance / Peter Zschunke / dpa)

Dem Mitgründer von "Willkommen im Dorf" war eines wichtig: "Dem Vorurteil ‚ihr macht ja nur was für Flüchtlinge‘ entgegenzutreten, und dann hat sich rausgestellt, dass nicht nur dieses Argument wichtig ist, sondern das gemeinsame Lernen. Denn dadurch ist die Integration wesentlich besser erreicht worden." Die Lernhilfe entwickelte sich zur Kontaktbörse für die Kinder im Dorf, die sich ab der Fünften auf weiterführende Schulen an verschiedenen Orten verteilen. "Ich komme her, um bessere Noten zu schreiben." So formulierte Younis aus Afghanistan sein Ziel. Der Effekt stellte sich schon nach einem halben Jahr ein. "Ich melde mich mehr. Ich lerne sehr viel", sagt er.

Motivation für die Kinder

Zuhair aus Syrien, damals Zweitklässler, mühte sich mit dem Schreiben. "Sollen wir das noch mal üben, was ins Dach und was in den Keller geht?", sagt Katharina Kruppenbacher, Sprachwissenschaftlerin im Zweitstudium fürs Lehramt, die die Kinder beaufsichtigt. Motivieren ließ sich Zuhair meistens mit der Aussicht auf gemeinsame Lektüre: "Als Erstes danach mache ich Lesen!" Abwechselnd mit der angehenden Lehrerin eine Drachen-Geschichte zu lesen, ist der Anreiz zum mühsamen Schreiben-Üben. "Wenn Punkt ist, dann macht sie. Und wenn wieder Punkt ist, dann mach‘ ich." – Kruppenbacher sagt: "Ja, natürlich, das lesen wir auf jeden Fall weiter, aber jetzt schreiben wir erst mal zu Ende." Ihre Eltern sprächen schon gut, befand damals Zuhairs ältere Schwester Lamar. "Aber nicht so gut wie ich." – "Du sprichst wahrscheinlich von allen am besten, oder?" - "Ja." Für die vierte Klasse formulierte Lamar ehrgeizige Ziele: "Sachunterricht habe ich immer eine Zwei, da will ich mal eine Eins haben. Und in Deutsch habe ich eine Drei, und da will ich mindestens mal eine Zwei haben." Die Lernhilfe wirkte, bilanziert Sabine Klein heute. "Wir hatten super-gute Erfolge. Die Noten wurden besser. Die Eltern haben das bestätigt, die Kinder sind gerne gekommen. Es war ein voller Erfolg." Doch dann kam die Pandemie. Im Corona-Sommer 2020 konnten die Kinder vorübergehend noch im Garten einer Alltagshelferin zusammen lernen, doch mit dem zweiten Lockdown war auch das passé. Soeben hat Lamar ein Zwischenzeugnis für die Fünfte bekommen.

"Ich habe in den Hauptfächern eine Zwei, in Deutsch habe ich auch eine Zwei." Das erzählt Lamar Angelika. Die Alltagshelferin möchte beim Vornamen genannt werden. Angelika hält Kontakt mit der Familie von Lamar und Zuhair, im Lockdown hauptsächlich über Telefon und soziale Netzwerke.

Heute ist sie ausnahmsweise persönlich vorbeigekommen, steht auf Abstand im Flur unten am Treppenabsatz und fragt, wie es geht. Aus der geöffneten Wohnungstür schaut neben den beiden Schulkindern die Mutter, die mit der Jüngsten in Elternzeit ist. Lamar hat Online-Unterricht, erzählt Roken Hassan. Zuhair konnte bislang halbtags in die Schule gehen, doch soeben wurden alle rheinland-pfälzischen Grundschüler wieder nach Hause geschickt. Angelika stellt bei all dem Hin und Her sicher, dass wichtige Informationen der Schulen ankommen: Präsenzunterricht, Wechselunterricht, Uhrzeiten, Hausaufgabenpläne – schwer nachzuvollziehen für Roken Hassan und ihren Mann, auch wenn sie sich auf Deutsch schon ganz gut verständigen können.

Er hat als Fahrer im Lebensmitteleinzelhandel einen festen Job und in der Krise reichlich zu tun. Und was ist aus dem eifrigen Leser Zuhair geworden? In der Schule liest der Achtjährige noch. "Und zu Hause?" - "Wir haben keine Bücher", sagt er.

Die Alltagshelferinnen halten engen Kontakt zu den Familien

Keine Bücher zu Hause? – Angelika erinnert an einen Lösungsvorschlag. "Da hatte dir die Lehrerin ja angeboten, dass du dir welche aus der Schule mitnehmen kannst, da kannst du dir welche aussuchen." Angelika bleibt dran, um die Lernerfolge zu sichern. Sabine Klein als Alltagshelferin einer afghanischen Familie ebenso. Doch Corona ist vor allem für die Jüngsten ein Rückschlag, findet Klein. "Die Kinder fordern Nachhilfe ein. Die kommen und klingeln und sagen: ‚Wann ist wieder Nachhilfe?‘ Dann muss ich immer sagen: ‚Geht leider nicht‘. Ich kann es nur von zwei Kindern sagen, die ich betreue: Die haben Schwierigkeiten, die Hausaufgaben allen zu machen. Ich kann auch nur bedingt helfen, weil ich ja direkt keinen Kontakt haben sollte. Ich halte das für sehr, sehr schwierig." Zu Hause sprechen die Familien die Muttersprachen – Arabisch, Kurdisch, Dari oder Farsi. Der deutsche Wortschatz der Kinder leidet, sie lernen kaum noch neue Vokabeln, beobachtet Sabine Klein. Sie hofft, dass die Lernhilfe bald wieder starten kann, von der Integrationspauschale ist jedenfalls noch genug übrig. Besonders die Pubertierenden hätten es schwer im Spagat zwischen den Welten ihres Aufnahme- und ihres Herkunftslandes.

Die Eltern, selbst noch mitten im Spagat, seien damit oft überfordert: "Ich denke, man könnte den Kindern das Leben sehr erleichtern, wenn es mehr Sozialarbeiter in der Schule gäbe, wenn in der Schule schon aufgefangen würde, was zu Hause nicht funktioniert." Doch genau daran hapert es, findet Angelika. Sie selbst will nach der Coronapause das regelmäßige sonntägliche Schwimmenüben mit den Kindern wiederaufnehmen. Beide Frauen fühlen sich bereichert durch das Ehrenamt: Die Fortschritte der Kinder, die Energie und Herzlichkeit der neu angekommenen Familien beeindrucken sie.

Ein friedlicher Wettstreit untereinander

Unter den geflüchteten jungen Erwachsenen, so beobachtet Alaa Edin Suliman, der syrische Computer-Freak, lief lange Zeit ein friedlicher Wettstreit. Arbeiten, sich finanziell unabhängig machen – das gemeinsame Ziel. "Soweit ich weiß, arbeiten die meisten hier in Jugenheim, die haben auch was geschafft." Und sein Traum vom Studium? Erst mal aufgeschoben. Fortbilden könne er sich auch berufsbegleitend. Studieren will Suliman nur, wenn ihm das ermöglicht, aufzusteigen und mehr zu verdienen. Dabei geht es dem 26-Jährigen nicht um mehr Geld für sich selbst: "Ich hab‘ meine Eltern und eine Familie in Syrien, also Onkel und Tanten, und die alle brauchen Hilfe. Deshalb spielt das auf jeden Fall eine große Rolle bei mir." Und darin unterscheidet sich der junge Syrer vermutlich von den meisten seiner Altersgenossen ohne Fluchthintergrund.

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