Der Lehrer ist begleitender Mentor, einen traditionellen Stundenplan gibt es nicht, stattdessen findet der Unterricht in Projektwochen statt – praxisnah, mit fächerübergreifenden Angeboten. Es ist ein ungewöhnliches Konzept, das am Hans-Böckler-Berufskolleg Marl/Haltern unter dem Titel „Talentschule“ angelaufen ist. „Das ist eine ganz andere Schule“, bestätigt Projektleiter Olaf Boxberg. „Es geht hier um einen neuen und umfassenden Versuch, junge Menschen aus schwierigen Verhältnissen in Ausbildung zu bringen.“
„Die Schüler sollen ihre Talente entdecken“
Insgesamt 60 „Schulen mit besonderen Herausforderungen“, so das NRW-Schulministerium, sind inzwischen beim landesweiten Schulversuch „Talentschule“ dabei, sieben davon aus dem Kreis Recklinghausen. Die Talentschulen sollen „zur besseren Förderung ihrer Schülerinnen und Schüler besondere pädagogische Konzepte entwickeln und umsetzen“. Dafür erhalten sie zusätzliche Ressourcen, das Hans-Böckler-Berufskolleg hat im Rahmen des Schulversuchs sechs Extra-Stellen zur Verfügung.
„Wer bin ich? Wo will ich hin? Um diese Fragen zu beantworten, müssen die Schüler Dinge erfahren, ausprobieren. So sollen sie ihre Talente entdecken – und damit auch mögliche Berufsfelder“, erläutert Olaf Boxberg eine Grundidee der „Talentschule“ am Hans-Böckler-BK. So ist hier die Praxis wichtig, die im jetzt beendeten Schuljahr tageweise regelmäßig an drei außerschulischen Lernorten angeboten wurde. Es ging um Produkte wie eine zu bauende Holzbank, um Arbeiten wie Weidenpflege und Tierversorgung – und dabei wurden verschiedene fachliche Kompetenzen erworben.
Gruppenbild mit einer von Schülern gebauten Bank: Am Hans-Böckler-Berufskolleg Marl/Haltern läuft der Schulversuch „Talentschule“ – mit dabei sind (v.l.) Barbara Tiemann vom Ponyhof Marl, Sigrun Zobel vom BUND Naturerlebnisgarten Herten, Joachim Lange, Birgit Kottmann, Wolfgang Großer und Olaf Boxberg (alle Hans-Böckler-BK) sowie Berthold Kalverkamp vom Schulbauernhof Recklinghausen (vorne).
© Thomas Schönert
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Olaf Boxberg nennt ein Beispiel: „Wenn die Schüler auf dem Recklinghäuser Schulbauernhof einen Zaun bauen sollen, müssen sie für die Material-Bestellung den Dreisatz anwenden. Vor dem Hintergrund des konkreten Zauns sind sie bereit, ihn zu lernen. Die Motivation ist hier viel größer – im Vergleich zum Mathematik-Unterricht am Montagmorgen. Da besteht ein großer Unterschied.“ Auch Aspekte der Fächer Deutsch und Wirtschaft spielen beim Zaunbau eine Rolle, bei anderen Projekten kommen Fächer wie Biologie oder Ernährungswissenschaften ins Spiel – Kenntnisse sollen fächerübergreifend und praxisnah vermittelt werden. „Die Schule muss sich hier nach außen öffnen. Über den Erfahrungsraum der außerschulischen Orte: Das ist die richtige Art des Lernens“, betont Berthold Kalverkamp vom Schulbauernhof.
Berufskolleg verlängert Vertrag mit außerschulischen Partnern
Die Erfahrungen mit dem „Unterricht“ an den außerschulischen Standorten sind gut, die begleitenden Lehrkräfte berichten von Erfolgen. „Ein Mädchen, das in der Schule ständig zu spät kommt, hat gefragt, ob sie länger bleiben kann“, erzählt Birgit Kottmann von ungewohnt großer Motivation. „Die Schüler haben über die praktische Anwendung viel gelernt, sie konnten selbst ihre Arbeitsbereiche wählen, Talente entdecken. Sie hatten Erfolgserlebnisse und kennen nun einige weitere Berufe. Die Rückmeldungen der Schüler waren hervorragend“, ergänzt Olaf Boxberg. So hat das Berufskolleg jetzt die Verträge mit seinen drei außerschulischen Partnern für die nächsten drei Schuljahre verlängert. Neben dem Recklinghäuser Schulbauernhof sind hier der Ponyhof Marl und der BUND-Naturerlebnisgarten Herten mit im Boot. Finanziert werden die laufenden Kosten des Projekts durch den Kreis Recklinghausen.
Das Konzept wird Schritt für Schritt ausgeweitet
Das Prinzip der „Talentschule“ soll in den kommenden Jahren Schritt für Schritt ausgeweitet werden. Bis zum Schuljahr 23/24 will die Schule für etwa 300 ihrer insgesamt 3000 Schüler komplett den fächerübergreifenden Projektwochen-Unterricht einführen – auch mit jeder Menge innerschulischer Aktivitäten. „Wir haben hier ein Schulcafé, da können Schüler zum Beispiel eine syrische Woche machen, mit Rezepten, Einkauf, Produktion, Verkauf. Da geht es dann um Inhalte aus Bereichen wie Mathematik, Deutsch, Englisch, Wirtschaft und Ernährung“, berichtet Olaf Boxberg. Ideen gebe es jede Menge – von der Erstellung einer Skulptur über die Aufführung eines Raps bis zum Thema 3-D-Druck.
Der Pädagoge sieht so echte Perspektiven für die Schüler: „Das ist eine bunte Gruppe, zum Teil mit Migrations- oder Flüchtlingshintergrund. Die Jugendlichen sind bereits neun oder zehn Jahre zur Schule gegangen, zum Teil ohne Abschluss, und jetzt bei uns gelandet. Unser großes Ziel ist es, hier über die ,Talentschule‘ eine Ausbildungsfähigkeit herzustellen.“ Und Schulleiter Wolfgang Großer ist sich sicher: „Das ist die Schule der Zukunft.“
Zur Sache
Sprachbegleitung durch Freiwillige
Ein Aspekt der „Talentschule“ am Hans-Böckler-Berufskolleg Marl/Haltern ist die Sprachförderung der Schüler. Hier soll es unter anderem eine Sprachbegleitung durch Freiwillige aus der Region geben. Wer Interesse hat zu helfen, kann sich melden unter: paulina.krylov@hbbk-marl.de
Insgesamt sieben Schulen aus dem Kreis Recklinghausen sind inzwischen bei dem Schulversuch „Talentschulen“ dabei: Hans-Böckler-Berufskolleg Marl/Haltern, Max-Born-Berufskolleg Recklinghausen, Otto-Burrmeister-Realschule Recklinghausen, Neue Schule Dorsten (Sekundarschule), Ingeborg-Drewitz-Gesamtschule Gladbeck, Martin-Luther-Gesamtschule Marl, Käthe-Kollwitz-Gesamtschule Recklinghausen.