In den Bundesasylzentren kommt es schweizweit zu Übergriffen gegen Asylsuchende. Aufgrund der Recherchen von WOZ, «Rundschau» und RTS kündigt das Staatssekretariat für Migration eine Untersuchung durch Altbundesrichter Niklaus Oberholzer an.
Von Simon Jäggi
Wer im Asylzentrum die Nerven verliert, muss damit rechnen, misshandelt zu werden. Im Jargon des Sicherheitspersonals heisst das «Deeskalation».
Illustration: SRF-«Rundschau», Simon Renfer
Vierzehn Bundesasylzentren stehen über die Schweiz verteilt, Hunderte Menschen erwarten dort ihren Asylentscheid. Es sind oft gefängnisähnliche Anlagen, für die Öffentlichkeit weitgehend unzugänglich. Die Freiheitsrechte in den Zentren sind stark eingeschränkt, Ausgang ist in der Regel nur tagsüber erlaubt. Viele der Asylsuchenden haben Traumatisches erlebt und suchen in der Schweiz Schutz. Doch die Asylzentren des Bundes (BAZ) sind keine sicheren Orte, Gewalt ist an der Tagesordnung. Mittendrin stehen immer wieder die vom Staatssekretariat für Migration (SEM) beauftragten Sicherheitskräfte, Mitarbeitende der Unternehmen Securitas und Protectas.
Die WOZ hat in den vergangenen Monaten gemeinsam mit der «Rundschau» von SRF sowie mit dem Westschweizer RTS zu verschiedenen Gewaltvorfällen recherchiert, Gespräche mit Betroffenen und ehemaligen Mitarbeitenden geführt und mittels des Öffentlichkeitsgesetzes Einsicht in zahlreiche vertrauliche Dokumente erhalten. Herausgekommen ist ein beunruhigender Einblick in ein System, wo Asylsuchende bei Auseinandersetzungen wiederkehrend erheblich verletzt werden und Sicherheitskräfte amtliche Protokolle zu ihren Gunsten verfälschen. Das zuständige Staatssekretariat für Migration bagatellisierte die Vorwürfe lange – bis es am Schluss dieser Recherche doch noch die Notbremse zog.
«Ich weinte vor Schmerzen»
Es war kurz vor Weihnachten im vergangenen Jahr, als sich der damals sechzehnjährige Alpha D. am späten Abend vor den Haupteingang des BAZ in Altstätten im Kanton St. Gallen stellte und eine Zigarette rauchte. Die Nacht endete für ihn mit gelockerten Zähnen, Prellungen und einer Gehirnerschütterung. Der Vorfall steht exemplarisch für weitere Fälle, in denen inzwischen Strafverfahren gegen das SEM eröffnet oder Anzeigen erstattet wurden. Die Konflikte entzünden sich oftmals an Kleinigkeiten und enden immer wieder mit schwerwiegenden Verletzungen von Asylsuchenden.
Die WOZ konnte mit Alpha D. sprechen, der die Schweiz inzwischen verlassen hat, und diverse Berichte einsehen. «Als ich an jenem Abend nach dem Rauchen das Gebäude wieder betrat, zog ich die Covid-Schutzmaske nicht sofort über das Gesicht», berichtet er. Ein Sicherheitsmitarbeiter habe ihn gerügt und sein Handy verlangt, eine verbreitete Disziplinarmassnahme. Alpha D. weigerte sich, worauf ihm der Mitarbeiter befohlen habe, er müsse die Nacht in der Schleuse verbringen: einem Raum im Eingangsbereich, der primär für Durchsuchungen von Personen vorgesehen ist.
Zwei Stunden später habe sich Alpha D. auf der Bank zum Schlafen hingelegt und seine Maske abgelegt, worauf zwei Sicherheitskräfte den Raum betreten und ihm befohlen hätten, diese wieder anzuziehen. «Ich erklärte ihnen, dass ich so nicht schlafen könne. Dann hat einer der Sicherheitsmänner sein Knie gegen meine Brust gerammt. Ich fiel zu Boden, einer setzte sich auf meine Beine, der andere auf meinen Nacken. Sie schlugen mich auf den Oberkörper und ins Gesicht. Einer drehte meinen Arm auf den Rücken. Ich weinte vor Schmerzen.» Wenig später kam es gemäss Alpha D. zu einer weiteren Eskalation. «Einer der Sicherheitskräfte begann, mich verbal zu provozieren, ich spuckte in seine Richtung. Daraufhin kam er auf mich zu, stiess mich vom Hocker, trat mich mit dem Fuss. Er holte Kollegen dazu, und gemeinsam drückten sie mich mit ihren Knien zu Boden, ich bekam kaum noch Luft.»
Die Sicherheitskräfte in den Bundesasylzentren müssen bei sogenannt besonderen Vorkommnissen einen Bericht verfassen, das geschah auch in der besagten Nacht. Darin machen die MitarbeiterInnen den Asylsuchenden für die Eskalationen verantwortlich. «Er fuchtelt wild mit den Händen und wird von Securitas festgehalten. Er wehrt sich sehr stark und versucht den Securitas-Mitarbeiter anzugreifen. Da sich [Name im Bericht geschwärzt] sehr aggressiv verhält und nicht kontrollieren kann, wird er für kurze Zeit am Boden fixiert.» Auch der zweite Vorfall, später in der Nacht, wird im Bericht beschrieben. Dabei sei der Securitas-Mann «zielgerichtet ins Gesicht bespuckt und mit Fäusten attackiert» worden. Der Securitas-Mann habe den Angriff abgewehrt, Verstärkung gerufen und «den Gesuchsteller am Boden fixiert». An keiner Stelle erweckt der Bericht den Verdacht, die Securitas-Angestellten hätten dabei unverhältnismässig gehandelt. Doch die Verletzungen, die Alpha D. davongetragen hat, sind Folgen massiver Gewalt.
Mitarbeiter quittiert Dienst
Ein Sozialpädagoge, der am nächsten Morgen seine Schicht antrat, fand den Minderjährigen in schlechter Verfassung vor. Alpha D. hatte Mühe beim Gehen, verschiedene Schwellungen im Gesicht und konnte seinen Arm kaum heben. Der Mitarbeiter brachte ihn ins Kinderspital, dort blieb der Jugendliche drei Nächte. Die ÄrztInnen diagnostizierten in ihrem Bericht eine «anamnestische Gehirnerschütterung mit mehrmaligem Erbrechen», «mehrere Prellmarken und Hämatome am rechten Gesicht und der linken Körperhälfte», «Kontusion [Prellung] Kopf, Thoraxwand, Bauch, Schulter links, Arm links, Knie links» und drei gelockerte Zähne. Das St. Galler Spital machte eine Meldung wegen Gefährdung des Kindeswohls bei der Kantonspolizei. Die Staatsanwaltschaft trifft mittlerweile Vorabklärungen für die Eröffnung eines Strafverfahrens.
Der Sozialpädagoge, der Alpha D. am Tag nach dem Vorfall ins Spital brachte, hat seine Stelle inzwischen gekündigt. Er habe bereits davor von Angriffen durch Sicherheitsmitarbeiter auf jugendliche Asylsuchende gehört. Er sagt: «Das Gewaltpotenzial in diesem Bundesasylzentrum geht ganz klar auch von den Sicherheitsmitarbeitern aus.» Entsprechende Hinweise seien von der Leitung aber nicht ernst genommen worden. Bei Alpha D. habe er zum ersten Mal auch eindeutige Verletzungen feststellen können. Dabei sei dieser zuvor nie negativ aufgefallen. «Wie das SEM danach mit dem Fall umgegangen ist, hat mich schockiert», sagt er. Es sei zu verschiedenen Aussprachen gekommen. «Die Regionalleitung machte mir klar, dass ich mich nicht direkt an das Spital und die Polizei hätte wenden dürfen. Über die Frage, wie solche Gewalt verhindert werden kann, wurde jedoch nicht gesprochen.» Als sein Vorgesetzter von ihm verlangt habe, dass er mit einer Unterschrift zusichere, künftig den Meldeweg einzuhalten, habe er seine Kündigung eingereicht.
Das Staatssekretariat für Migration stufte den Vorfall lange als unproblematisch ein: Bis Ende April waren die involvierten Mitarbeiter weiterhin im Dienst. Der Vorfall wurde bis auf ein ausführlicheres Debriefing mit ein paar Stellungnahmen intern nicht näher untersucht, obwohl die Leitung des Asylzentrums laut dem Sozialpädagogen von den Spitalberichten Kenntnis hatte.
Beschönigende Rapporte
Zwischenfälle, bei denen Sicherheitsmitarbeiter einschreiten müssen, bezeichnet das SEM als «Deeskalationen». Im vergangenen Jahr kam es gemäss der Behörde schweizweit zu 1539 solchen Fällen, knapp ein Drittel mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Asylgesuche hat im selben Zeitraum um knapp ein Viertel abgenommen. In wie vielen Fällen die Sicherheitsmitarbeiter Zwang gegen Asylsuchende anwendeten oder ärztliche Versorgung nötig war, dazu erhebt das SEM keine Zahlen. Die WOZ hat Kenntnis von mehr als einem halben Dutzend weiteren Fällen, in denen im vergangenen Jahr eine Strafuntersuchung gegen Sicherheitskräfte eröffnet oder Anzeige erstattet wurde.
Ein Blick in die Ereignisrapporte aus den Bundesasylzentren Altstätten, Bässlergut (Basel-Stadt) und Boudry (Neuenburg) der vergangenen Monate zeigt einen Alltag, in dem Polizei- und Sanitätseinsätze an der Tagesordnung sind. Die Sprache in den Berichten ist über die Zentren hinweg von auffälliger Ähnlichkeit: Sicherheitsmitarbeitende «deeskalieren» jeweils die Situation oder «fixieren verhältnismässig». Asylsuchende werden «bewusstlos», sind «nicht mehr ansprechbar», «fallen» aus ungenannten Gründen «zu Boden», bluten plötzlich stark oder «schlafen in Fixation ein». Es sind Rapporte mit einer oft stark beschönigenden Sprache, die beim Durchlesen viele Fragen zum Tathergang aufwerfen. Was zudem auffällt: An keiner Stelle finden sich Hinweise auf Verletzungen von MitarbeiterInnen, es sind stets Asylsuchende, die nach Eskalationen immer wieder von der Ambulanz abtransportiert werden müssen.
Zumindest in einem Fall sah sich in der Vergangenheit auch das SEM gezwungen, genauer hinzuschauen. Am 10. Oktober 2020 verlangte im BAZ Bässlergut der Asylsuchende Karim T. wegen starker Knieschmerzen nach einem Krankenwagen. Gemäss dem Rapport des zuständigen Securitas-Manns sei Karim T. «stark alkoholisiert» gewesen und habe sich aggressiv verhalten: «Plötzlich dreht der AS durch und versucht LO2 [Logemitarbeiter, Anm. d. Red.] zu attackieren, ODS [Ordnungsdienst] kann den AS davon abhalten.» Anschliessend habe Karim T. angefangen, Steine um sich zu werfen, und sei auf die Strasse gerannt. Die WOZ konnte mit dem betroffenen Asylsuchenden sprechen, der dem Bericht klar widerspricht und von massiver Gewalt seitens des Securitas-Manns berichtet.
Zu jenem Zwischenfall existiert auch ein offizieller Rapport eines Betreuers, der den Tathergang aus nächster Nähe mitverfolgt hat und die Schilderung des Asylsuchenden stützt. Er beschreibt, wie der Logemitarbeiter Karim T. provozierte. «Dann habe ich ihm gesagt, er solle ihn lassen und ihn nicht schlagen.» Doch der Logemitarbeiter habe seine Handschuhe angezogen, Karim T. weiter provoziert und ins Gesicht geschlagen. Weil das SEM diesen Widerspruch auch nach internen Abklärungen nicht auflösen konnte, hat der Leiter der Asylregion Nordwestschweiz inzwischen selber Anzeige gegen unbekannt erstattet.
Tonaufnahme belegt Verfälschung
Der WOZ, der «Rundschau» und RTS liegen weitere Belege vor, dass das Verfälschen von Berichten und die Täuschung von Vorgesetzten verbreiteter ist, als es das SEM bisher wahrhaben wollte. Darunter ist eine Audioaufzeichnung aus dem Bundesasylzentrum Boudry vom 20. Januar dieses Jahres. Gegen Abend wurde einem Kind im Zentrum das Handy gestohlen, was für Aufregung und Diskussionen sorgte. Daraufhin schlossen die Sicherheitskräfte den Vater des Kindes im sogenannten Besinnungsraum ein. Eine Asylsuchende, die nach eigenen Angaben bereits früher Konflikte mit dem Sicherheitspersonal erlebt hatte, zeichnete die darauffolgende angeheizte Diskussion unter den Sicherheitsleuten auf und fotografierte jemanden von ihnen. Daraufhin musste sie ihr Handy abgeben, die Audioaufnahme lief weiter. Das aufgezeichnete Gespräch zeigt, wie diese daraufhin die Ereignisrapporte verfassen und dabei Sachverhalte frei erfinden. Folgend ein nicht vollständiger Auszug, aus dem Französischen übersetzt.
Sicherheitsmitarbeiterin 1: «Also er [der Vater] ist wütend aus dem Zimmer gekommen.»
Sicherheitsmitarbeiter 2: «Er hat geschrien (...) Die Sicherheitskräfte haben versucht, verbal zu deeskalieren.»
Sicherheitsmitarbeiterin 1: «Wir müssen schreiben, dass er aggressiv war. Sonst rechtfertigt das den Besinnungsraum nicht ausreichend.»
Sicherheitsmitarbeiter 2: «Ja, ja, aber wie schreibst du das ...»
Sicherheitsmitarbeiterin 1: «Er wurde mehrfach aggressiv?»
Sicherheitsmitarbeiter 2: «Er schubst die Sicherheitskräfte, wird aggressiv gegenüber den Sicherheitskräften. (...) Schliesslich hatten die Sicherheitskräfte keine andere Wahl, als ihn in die Zelle zu bringen.»
Und weiter, mit Blick auf die Asylsuchende, deren Handy eingezogen wurde:
Sicherheitsmitarbeiterin 1: «In gewissen Rapporten übertreibe ich manchmal die Realität etwas, das rechtfertigt die Dinge besser. Versteht ihr?»
Andere: «Ja, aber klar. Ja!»
Und etwas später:
Sicherheitsmitarbeiter 3: «Wir schreiben, sie hat den Sicherheitsmitarbeiter geschlagen, auf Höhe der Schultern.»
Sicherheitsmitarbeiter 2: «Auf den Brustkorb.»
Sicherheitsmitarbeiter 3: «Den Brustkorb, ja.»
Sicherheitsmitarbeiter 2: «Auf den Brustkorb ist besser, das ist rote Zone, das ist besser.»
Auch ein Protectas-Mitarbeiter war anonym zu einem Gespräch mit RTS bereit; der WOZ liegt die Aufzeichnung vor. Der Mann arbeitete früher in einem Bundesasylzentrum. Im Gespräch schilderte er, wie Sicherheitskräfte regelmässig Gewalt ausüben und Rapporte zum eigenen Vorteil manipulieren. «Alle Schuld wird dem Asylsuchenden gegeben. Alle Auseinandersetzungen werden getarnt.» Und weiter: «Wir machen einen schmutzigen Job. (...) Schmutzige Arbeit, die von uns verlangt wurde, die wir aber nicht sorgfältig gelernt haben. Wir machen Fehler, das wissen wir auch, aber wir wollen unseren Job behalten, und da wir die Möglichkeit haben, einen Rapport zu erstellen, der zu unseren Gunsten ist, tun wir es.»
Fataler Korpsgeist
Im Lauf der Recherche relativierte das SEM während langer Zeit die Gewaltvorwürfe, sprach von «angeblichen Gewaltvorfällen» und betonte das funktionierende Kontrollsystem. Verschiedentlich fand das SEM auf Anfrage entscheidende Berichte nicht oder bestritt deren Existenz so lange, bis anderweitige Belege für deren Vorhandensein auftauchten. Der verantwortliche Staatssekretär Mario Gattiker stand der WOZ nicht für ein Gespräch zur Verfügung. Stattdessen gab sein Kommunikationschef Daniel Bach Auskunft. Als Hauptgrund für die zuletzt stark gestiegene Anzahl von «Deeskalationen» nannte er die leicht gestiegene Zahl von «Personen aus den Maghreb-Staaten», die in der Schweiz ein Asylgesuch stellen, und wälzte die Verantwortung für die Gewalt auf bestimmte Ausländergruppen ab. «Im Vordergrund steht Algerien», so Bach. «Die Perspektivlosigkeit in Verbindung zu sehr häufigem, oft auch sehr problematischem Drogenkonsum führt zu auffälligem Verhalten.»
Nur in wenigen Fällen ortete das SEM das Problem beim Sicherheitspersonal: Von Anfang Jahr bis Mitte April sperrte es drei Mitarbeitende der Sicherheitsdienste für die Tätigkeit in Bundesasylzentren, weil sie sich unangemessen gegenüber Asylsuchenden verhalten haben. «Konkret ging es um Dinge wie unnötiges Wegschubsen oder verbale Reaktion auf eine Provokation. Es waren keine strafrechtlich relevanten Dinge», so Bach. Zudem arbeite das SEM seit zwei Jahren an einem Gewaltpräventionskonzept, das demnächst verabschiedet werde.
Bereits vor einem Jahr berichteten die WOZ und die «Rundschau» erstmals über Fälle von Gewalt im Bundesasylzentrum Basel. Auch AsylaktivistInnen trugen mit Dokumentationen zur Aufklärung bei. Seither hat die Kritik an der Bundesbehörde stark zugenommen: Anfang dieses Jahres veröffentlichte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) einen kritischen Bericht zu den Bundesasylzentren. Die Kommission ortete beim SEM «ein bedeutendes Verbesserungspotenzial beim Umgang mit Konflikten, mit Gewaltvorwürfen und bei der Gewaltprävention». Was bisher nicht bekannt war: Auch die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats führt aktuell eine Untersuchung über die Gewaltvorfälle in den Bundesasylzentren. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International arbeitet zudem seit mehreren Monaten an einem Recherchebericht zu Gewalt von Sicherheitspersonal an Asylsuchenden und wird diesen demnächst veröffentlichen.
Ein zentraler Kritikpunkt gegenüber dem SEM betrifft die Ausbildung des Sicherheitspersonals. Mehrere ehemalige Mitarbeiter von Bundesasylzentren bezeichnen die Ausbildung der Sicherheitskräfte als ungenügend. Der Rechtsanwalt Marcel Bosonnet zweifelt grundsätzlich, ob Securitas oder Protectas für die Arbeit in Asylzentren geeignet seien. «Für einen Umgang mit oft traumatisierten Menschen braucht es eine fundierte Ausbildung. Diese fehlt hier in den meisten Fällen komplett.» Bosonnet vertritt aktuell zwei Asylsuchende, die von Sicherheitskräften im Bundesasylzentrum Altstätten SG attackiert wurden. Einer von ihnen ist der minderjährige Alpha D., dessen Fall eingangs geschildert wurde.
Als zweite Problematik nennt der Anwalt den Korpsgeist unter den MitarbeiterInnen. «Das Gefühl von Zusammengehörigkeit ist stärker als das Gefühl, zur Wahrheitsfindung beitragen zu müssen. Das ist bekannt aus der Arbeit der Polizei und wurde in verschiedenen Untersuchungen bestätigt.» Er beobachte dasselbe Muster bei den Sicherheitskräften in den Asylzentren. Hinzu komme, dass die Mitarbeitenden eine hoheitliche Funktion ausübten und der Staat somit gewissermassen gegen sich selber ermitteln müsste. «All das erschwert die Wahrheitsfindung enorm», sagt Bosonnet. Verschiedene Organisationen fordern deshalb die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle, an die sich Asylsuchende in Zukunft bei Gewaltvorfällen wenden können.
Untersuchung eingeleitet
Gegen Ende dieser Recherche wurde der Druck auf das SEM angesichts der zahlreichen Belege offensichtlich zu gross. Wenige Tage vor Redaktionsschluss vollzogen Staatssekretär Gattiker und Kommunikationschef Bach eine überraschende Kehrtwende. Als Folge der Recherche von WOZ, «Rundschau» und RTS suspendierte das SEM Ende April vierzehn SicherheitsmitarbeiterInnen und eine Betreuungsperson, die in die verschiedenen dokumentierten Vorfälle involviert waren. Auch die Sicherheitsmitarbeiter im Fall von Altstätten sind nicht mehr im Dienst. Zudem beauftragte Staatssekretär Mario Gattiker Altbundesrichter Niklaus Oberholzer mit einer externen Untersuchung. Insbesondere die Tonaufnahmen aus Boudry hätten das Bild wesentlich verändert. «Wir nehmen diese Vorfälle und die Vorwürfe sehr ernst», schreibt Daniel Bach ganz zum Schluss.
Drohungen gegen Angestellte
Der Mob und die Medien
«Linker Mob macht Jagd auf Asyl-Betreuerin», warnte der «Blick» letzte Woche in grossen Lettern auf seiner Titelseite. «Privatadresse veröffentlicht, Katze gequält, Bremsventil manipuliert»: Mit diesen brutalen Methoden würden Linksradikale eine Mitarbeiterin des Basler Bundesasylzentrums Bässlergut bedrohen. Was nachweislich zutrifft: Auf dem autonomen Infoportal «Barrikade» wurden die Kontaktdaten von drei MitarbeiterInnen des Staatssekretariats für Migration (SEM), der Betreuungsfirma ORS sowie der Securitas veröffentlicht und Mitte März zu einem «Telefon- und Mail-Aktionstag» gegen die «VertreterInnen der drei Drecksinstitutionen» aufgerufen.
In einer Medienmitteilung bezeichnet das SEM sämtliche Angriffe als «politisch motiviert». KennerInnen der linken Basler Szene stellen dies infrage. So schreibt das Kollektiv «3 Rosen gegen Grenzen», das mit Recherchen im Asylbereich tätig ist: «Wir können uns nicht vorstellen, dass Personen aus linken sozialen Bewegungen solche Taten begehen. Es gehört schlicht nicht zu ihren Methoden, unbeteiligte Personen zu gefährden oder Tieren Schmerzen zuzufügen.» Die Bremsmanipulationen am Fahrzeug seien von einem Fachmann untersucht worden, teilt das SEM auf Nachfrage mit. Es hat deshalb Anzeige bei der Bundesanwaltschaft eingereicht. Wer hinter den Angriffen steckt, ist nun Gegenstand von Ermittlungen.
Augenfällig ist derweil: Während die Recherchen der WOZ und der «Rundschau» bezüglich der Gewaltvorwürfe gegen SicherheitsmitarbeiterInnen durch das SEM verzögert wurden (vgl. Haupttext oben), machte das Bundesamt die Drohungen gegen die Angestellten aktiv publik. Mehr noch: Die Behörde verknüpfte die beiden Themen in Mails an die WOZ und die «Rundschau». Auch zuhanden von Vorgesetzten wies die Behörde die JournalistInnen darauf hin, dass sie zwar keine «direkte Mitverantwortung» für die Entwicklung trügen, mit ihrer Arbeit aber durchaus Einfluss «auf das Verhalten gewisser Aktivisten» hätten.
Die JournalistInnen nahmen ihre Verantwortung tatsächlich wahr und recherchierten trotz des Drucks weiter. Dass nun eine unabhängige Untersuchung zum Sicherheitspersonal eingeleitet wurde: Dieser Erfolg musste auch gegen die PR-Taktik einer Bundesbehörde erstritten werden, die eigentlich zur Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit verpflichtet wäre.
Kaspar Surber
Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-LeserInnen.
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