Wie geht es unseren Kühen (wirklich)?

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In einer bisher einmaligen und sehr umfangreichen Untersuchung haben Sie analysiert, wie es den Kühen in Deutschland geht (siehe Kasten unten „Prävalenzstudie“). Was war Hintergrund und Ziel von „PraeRi“?

Hoedemaker: Anlass war eine Botulismus-Studie in Norddeutschland 2012. Dabei wurde deutlich, dass die Haltungs- und Hygienebedingungen auf den Milchviehbetrieben nicht den ­Erwartungen der Wissenschaftler entsprachen. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat deshalb eine deutschlandweite Prävalenzstudie angeschoben und finanziert. Die Ergebnisse sollen als Entscheidungshilfe für die Politik dienen.

Dazu haben wir einen Querschnitt über Deutschland gebildet. Die Landwirte wurden aus einer zufälligen Stichprobe der Adressdaten von HIT-Datenbank angeschrieben. Die Teilnahme war freiwillig. Das ist bei der Bewertung der Ergebnisse wichtig.

Tierschutzverbände haben nach Veröffentlichung der Studie verkündet, dass die Milchviehhaltung in Deutschland „miserabel“ ist. Ist das berechtigt?

Hoedemaker: Nein, so eine pauschale Kritik ist falsch. Der Datensatz ist komplex. Zur Interpretation der Studienergebnisse muss man sämtliche Berichtsteile heranziehen. Wer die Datenzusammenhänge nicht kennt oder nicht beachtet, kann sie leicht fehl­interpretieren.

Was ist das Gesamtfazit, wie geht es den deutschen Kühen?

Hoedemaker: So einfach lässt es sich nicht zusammenfassen. Wir haben nicht nur die Tiergesundheit, sondern auch Fütterung und Haltung, jeweils für Kühe, Jungrinder und Kälber ­untersucht. Es gibt viele Teilergebnisse, die jeweils in Bezug zu den Daten ­betrachtet werden müssen.

Mir ist wichtig, die Ergebnisse nicht zu pauschalieren. Wenn wir sagen, dass 30 % der Betriebe Mängel bei der Tierhaltung haben, dann liefern 70 % gute Ergebnisse! Und es gibt nicht den einen schlechten Betrieb, der alles falsch macht! Im Gegensatz: Zahlreiche Betriebe leisten z. B. bei der Tier­gesundheit gewissenhafte Arbeit. Wir müssen aber auch festhalten, dass es in vielen Bereichen deutliche Defizite gibt. Da müssen Landwirte handeln.

Welche Einzelergebnisse sind wichtig?

Hoedemaker: Was mich schockiert ist, dass etwa 20 bis 40 % der Kühe lahm gehen. Die Klauengesundheit ist tierschutzrelevant. Wenn jede dritte Kuh lahm geht, ist das nicht zu tolerieren. Wir haben auch Veränderungen an den Sprunggelenken festgestellt und zwar bei rund 14 % (Nord), 17 % (Ost) und 16 % (Süd) der Kühe. Das deutet da­rauf hin, dass Haltung und Kuhkomfort nicht ausreichend sind. Darüber hinaus steht jede dritte Kuh im Norden und Osten bzw. jede vierte Kuh im Süden in einem überbelegten Abteil.

Um die Fütterung zu analysieren, haben wir von 408 Betrieben die ­Daten der Milchleistungsprüfung und Rationsberechnung genutzt. Die Betriebe hatten im Schnitt eine tägliche Milchleistung von 32 kg. Etwa 30 % der Kühe hatten ein Ketoserisiko – und das trotz hoher Energiedichte der Ration. Aktuelle Studien zeigen, dass ­dieser scheinbare Widerspruch in Zusammenhang mit einer unzureichenden Rohfaserversorgung steht. Die war auf den Betrieben oft zu niedrig. Das zeigt, dass es zur Gratwanderung wird, die Kühe sowohl leistungsgerecht als auch wiederkäuergerecht zu füttern.

Dazu kommt, dass 20 bis 40 % der Betriebe mindestens eine Silage ver­fütterten, die eine schlechte Gärqualität hatte (Qualitätsstufe 4). Häufig war der Rohaschegehalt hoch, was den Energiegehalt und die Qualität der ­Rationen reduziert. Ein Grund dafür könnte sein, dass Landwirte die Gras- und Maisbestände in den trockenen Jahren sehr tief schneiden mussten.

Auch die Daten zur Kälbergesundheit und -haltung sind deutlich.

Hoedemaker: Ja absolut. Wir haben klinische Daten, wie Durchfall oder Lungenkrankheit, auf den Betrieben erhoben. Demnach litten etwa 4,5 bis 6,5 % der Kälber im Alter von bis zu 84 Tagen an Atemwegserkrankungen und 3 bis 14 % an Durchfall.

Die Kälberverluste durch Totgeburten und in der Aufzucht bis drei Monate lagen bei 10 %. Und: Bullenkälber hatten schlechtere Überlebenschancen, die zum Teil auf schwere Geburtsverläufe zurückzuführen sind. Sollten aber Holstein-Bullenkälber aufgrund des Marktwertes schlechter versorgt werden, ist das moralisch nicht akzeptabel.

Was sind die Ursachen für die teilweise schlechte Versorgung der Kälber?

Hoedemaker: Die Ergebnisse zeigen Mängel, die eigentlich bekannt sind. Doch z. B. tränken 30 bis 40 % der Betriebe weniger als 3 l Biestmilch. Dass eine restriktive Tränke für die Entwicklung der Kälber nicht sinnvoll ist, wissen auch die meisten. Aber nur 8 % der ­Betriebe im Norden und 25 % im Osten und Süden tränken ad libitum. Das Wissen wird also nicht umgesetzt.

Ein Grund könnte sein, dass die Kälberversorgung arbeitsintensiv ist und häufig abseits der „normalen Arbeitszeiten“ anfällt. Mehr Personal bedeutet höhere Kosten für die Kälberaufzucht, die sich viele nicht leisten können.

Wir haben systematisch Daten erhoben und die stehen nun fest. Wir müssen uns fragen, ob wir es uns als eines der reichsten Länder der Welt erlauben können, tierische Ressourcen durch vermeidbare Verluste zu verschwenden?

Wichtig dabei ist mir, dass die Landwirte alleine nicht viel machen können. Sie sind nur ein Baustein im sehr komplexen System der Milchproduktion. Beispielsweise müsste es einen Markt für Fleisch von Holstein-Bullen geben und dafür auch Abnehmer. Das ist eine gesellschaftliche Frage.

Gibt es regionale Unterschiede bei der Tiergesundheit oder -haltung?

Hoedemaker: Keine, die man pauschalieren kann. Beispielsweise hatte auf einzelne Ergebnisse die Betriebsgröße, die im Norden und Osten im Vergleich zum Süden größer war, einen Einfluss. Trotzdem sind kleine Betriebe hinsichtlich Tiergesundheit nicht besser oder große grundsätzlich schlechter. Und auch der Weidegang, der im Norden üblicher war als im Osten oder Süden, beeinflusste Teil­ergebnisse.

Oft haben Milcherzeuger die Gesundheit ihrer Tiere anders eingeschätzt als die Wissenschaftler. Weshalb?

Hoedemaker: Tatsächlich haben Landwirte die Häufigkeit von Erkrankungen oft unterschätzt. Beispielsweise bei der Zahl der lahmen Kühe in der eigenen Herde. Wir Tierärzte hören häufig „die Kuh geht etwas unsauber“, aber nicht „die Kuh geht lahm“. Ich glaube, dass lahme Kühe leider zur Normalität geworden sind und daher von vielen nicht mehr wahrgenommen werden.

Das zeigt auch: Wir müssen Daten zur Tiergesundheit systematischer erfassen. Deshalb ist eine unserer Empfehlungen, das Einführen einer nationalen Tiergesundheitsdatenbank.

Wie sähe eine nationale Datenbank zur Tiergesundheit aus? Gibt es nicht schon genügend Dokumentationen auf den Betrieben?

Hoedemaker: Ich verstehe die Landwirte, die Anforderungen steigen immer weiter und die Wirtschaftlichkeit bleibt schwierig. Doch es ist doch so: Viele der von uns benannten Defizite sind längst bekannt. Wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir irgendwo anfangen.

Fest steht, dass es zum Beispiel keine Hygiene-Verordnung für Milchkühe gibt. Es gibt z. B. keine gesetzlichen Vorgaben für den Platzbedarf von Kühen. Wie soll sich etwas ändern, wenn wir keine rechtlichen Vorgaben haben, an denen Landwirte bemessen werden können?

Wie kann und sollte die Politik die Milcherzeuger unterstützen?

Hoedemaker: Das größte Problem ist, dass Milcherzeuger nicht kostendeckend arbeiten können. Die Landwirte müssten aber so viel Geld verdienen, dass sie einen Lebensunterhalt erwirtschaften können und Investitionen möglich sind. Wie sollen sonst Verbesserungen für Tiergesundheit und -haltung möglich sein? Die Politik muss die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Landwirte wieder Geld verdienen können.

Denkbar wären beispielsweise Förderprogramme, die Landwirte mit ­guter Tiergesundheit, Haltung oder Kälberaufzucht belohnen. Das setzt aber voraus, entsprechende ­Daten zu dokumentieren.

Wen sehen Sie außerdem in der ­Verantwortung?

Hoedemaker: Die Daten zu Fütterung und Stoffwechselgesundheit zeigen, dass Milchleistung und Tiergesundheit nicht zusammenpassen. Zu viele Kühe haben ein hohes Risiko für Ketose. Die Milchleistung auf den Betrieben steigt kontinuierlich und wir erreichen die Grenze, die Kühe leistungsgerecht und wiederkäuergerecht zu füttern. Hier sind vor allem die Zuchtverbände gefordert. Sie sollten hinterfragen, ob die Zucht auf hohe Milchleistungen noch der richtige Weg ist.

Wie können Milchviehhalter die ­Ergebnisse der Studie nutzen?

Hoedemaker: Wichtig ist uns, dass die Daten zunächst einmal zur Kenntnis genommen werden! Unsere Befragungen haben gezeigt, wie viel Mitgefühl Milcherzeuger für ihre Tiere haben. Ich bin überzeugt: Keinem Landwirt macht es Spaß, seine Kälber zu billig zu vermarkten.

Das eigene Management kritisch zu hinterfragen ist aber sinnvoll. Milcherzeuger könnten zum Beispiel von einem objektiven Berater analysieren lassen, wie es auf dem eigenen Betrieb bei Lahmheiten, Kälbermanagement oder Fütterung aussieht. Häufig reicht es, grundlegendes Fachwissen konsequent umzusetzen.

Mein Wunsch wäre, dass sich langfristig etwas ändert: Die Gesellschaft bzw. Politik muss Landwirten ermöglichen, dass sie gute fachliche Praxis wirtschaftlich umsetzen können. Milcherzeuger sollten das dann auch machen. Dann wären wir schon viel weiter.

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Prävalenzstudie mit Daten von mehr 68.000 Kühen plus Jungvieh

Wissenschaftler haben den Status der Tiergesundheit, Haltung, Hygiene, Fütterung und Biosicherheit bei Milchkühen, Jungtieren und Kälbern auf Milchviehbetrieben in Deutschland erfasst. Beteiligt an der Prä­valenzstudie (PraeRi) waren wissenschaftliche Mitarbeiter und Tierärzte der Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo), der Freien Universität Berlin (FU) und der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU).Insgesamt besuchten sie 765 Milchviehbetriebe von Dezember 2016 bis Juli 2019 in sieben repräsentativen Bundesländern (Nord: 253 Betriebe in Niedersachsen und Schleswig-­Holstein; Ost: 252 Betriebe in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen; Süd: 260 in Bayern) und erfassten die Daten von rund 86.000 Kühen, 15.000 Kälbern und 85.000 Jungrindern. Sie führten Interviews mit den Betriebsleitern und untersuchten Tiere. Zudem analysierten sie offene Silagen, Rationsberechnungen, werteten Daten der Milchleistungsprüfung aus und untersuchten Tankmilch auf Antikörper gegen Parasiten.Zur kompletten Studie::}}

Was meinen Sie?Was braucht es, damit Tiergesundheit und Tierhaltung nach guter ­fachlicher Praxis umsetzbar ist? Wer ist gefordert?Schreiben Sie uns per Email an: ­redaktion@topagrar.com

Dieses Interview lesen Sie auch in der top agrar-Ausgabe 1/2021.