Mag der zwischenmenschliche Hass auch in den vergangenen Jahren zugenommen haben, die Liebe findet trotzdem ihren Weg. Hersteller von Tierfutter melden Rekordumsätze, allein die Zahl der Hunde ist von 2018 auf 2019 um 700 000 gestiegen. Von einem Prozess der „Humanization“ sprechen Experten: Das Tier wird zum Menschenersatz mit unschuldigeren Augen und weniger Macken als der durchschnittliche Zweibeiner. Und sind sie nicht auch ein bisschen wie wir? Ist es etwa nicht Liebe, die sie uns entgegenbringen, und sind es denn nicht Gespräche, die wir mit ihnen führen?
Fragen wie diese haben in den 70er-Jahren die Primatenforschung in Atem gehalten. Um das Bewusstsein von Schimpansen zu entschlüsseln, teilten Wissenschaftler mit ihnen den Alltag, lehrten sie dabei das Kommunizieren mithilfe von Gesten. Manches Tier war bald scheinbar in der Lage, erstaunlich komplexe Konversationen zu führen. Der Glaube erhärtete sich: Wird ein Schimpansenbaby von Geburt an behandelt wie ein Mensch, so entwickelt es sich auch zu einem solchen!
Neuer Roman über die Affenforschung
Der amerikanische Autor T.C. Boyle versetzt in seinem neuen Roman „Sprich mit mir“ (Hanser Verlag) eine Tierliebhaberin unserer Tage in die Forscherszene jener Tage. Die alleinstehende, etwas introvertierte Studentin Aimee bewirbt sich bei dem Primatenforscher Guy Schermerhorn um eine Anstellung als Hilfskraft: Sie will sich um seinen Mitbewohner kümmern, das Schimpansenkind Sam. Es kann schon mit Gesten seinen Namen sagen und Pizza bestellen. Was es noch nicht kann: sich selbst disziplinieren, eigene Interessen zurückstellen, Verantwortung übernehmen.
Ein Mensch für die Schimpansenseele
Als Aimee gerade eintrifft, flieht Sam gerade aus der nachlässig offen gelassenen Haustür – und springt geradewegs in ihre Arme. Es scheint, als habe er auf sie nur gewartet, als sei in ihr endlich ein Mensch erschienen, der seine Schimpansenseele zu lesen versteht. Was für ein erhebendes Gefühl für eine junge Frau!
T. C. Boyle: „Sprich mit mir“, übersetzt von Dirk van Gunsteren, Hanser Verlag: München 2021; 352 Seiten, 25 Euro.| Bild: Cover
Ihrer Vorgängerin hat er noch ins Gesicht gebissen, eine Wunde, die physische wie psychische Narben hinterlässt. Als Sam in ihr das große Pflaster entdeckt, reißt er es herunter, drischt mit seinen Fäusten darauf ein. Erkennt er, dass es die Folge seines Fehlverhaltens ist? Äußert sich hier so etwas wie menschliches Gewissen?
Aimee jedenfalls wird fortan fest an die menschliche Dimension in ihm glauben. Oder besser gesagt: Sie will an sie glauben, wäre damit doch auch eine Bestätigung ihrer Selbst verbunden. Mit der entflammten Affenliebe seiner Assistentin werden bald auch im nüchternen Professor Schermerhorn Gefühle wach, nicht so sehr zu Sam als zu Aimee selbst. So entwickelt sich bald ein skurriler Familienalltag in diesem Haus: mit Mama, Papa, Kind, wobei letztere Rolle von einem Primaten besetzt ist.
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Sie bringen ihn zu Bett, lehren ihn anständig zu essen, kaufen ihm Latzhosen. Es könnte ewig so weitergehen, wäre die Konstellation nicht abhängig von Forschungsgeldern – und gehörte der Schimpanse nicht einem Institutsleiter, der für Liebe wenig übrig hat und Tiere als seelenlose Maschinen versteht.
Die Wende kommt in Gestalt eines Forschungsberichts mit dem Titel „Falsche Prämisse – Denkfehler in den Studien zum Spracherwerb von Primaten“. Guy Schermerhorns vermeintlich sensationellen Unterrichtserfolge, heißt es, beruhten auf nichts weiter als einem schnöden Nachahmungstrieb. Sein Schimpanse könne gar nicht sprechen, nicht lieben und schon gar kein Gewissen entwickeln, heißt es. Das Einzige, was seine Gesten offenbaren, sei die Befähigung zum Nachahmen. Der Institutsleiter fordert sein Tier zurück. Um es einzusperren, vielleicht irgendwann zu verkaufen. Zum Beispiel zum Zweck von Tierversuchen.
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Bis hierhin lehnt sich T. C. Boyles Erzählung unverkennbar an die tatsächlichen Erfahrungen des Primatenforschers Roger Fouts an, dessen Schimpansendame Lucy sogar einen Gastauftritt erhält. Auch die Schimpansen der realen Programme zur Spracherforschung fanden größtenteils ein tragisches Ende.
Boyle indes hat Sam eine Tierfreundin heutiger, aktivistischer Prägung zur Seite gestellt. Und als solche fasst sie sich ein Herz, packt ihn ins Auto und fährt einfach davon. Statt ihres Studiums will sie fortan ein Einsiedlerleben führen: zusammen mit einem Schimpansen auf irgendeiner gottverlassenen Wohnwagensiedlung. Was ist das? Eine Heldentat? Oder vielmehr eine Riesendummheit?
Die Kunst des Lügens
Der Roman lässt diese Frage offen. Zum einen, indem er uns dorthin führt, wo die Forscher so gerne wären: Sams Gehirn. In kurzen Zwischenepisoden lernt der Leser ein Affenbewusstein kennen, das nach und nach sehr wohl Begriffskategorien bilden, kausale Zusammenhänge erkennen und auch Gefühle entwickeln kann. Andererseits: Genau damit bilden sich in Sam auch jene Eigenarten aus, die das Menschliche so unerfreulich machen. Zum Beispiel die Kunst zu lügen.
„Sie sah es zum ersten Mal, und es jagte ihr einen Schauer über den Rücken“, heißt es, als Aimee ihren Gefährten beim Abstreiten seines Einbruchs in den Wohnwagen der Nachbarin ertappt: „Er war berechnend. Er war kein Mensch, aber auch kein Tier, sondern etwas dazwischen.“
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T.C. Boyle erzählt davon mit seinem ihm eigenen ironischen Realismus, das Buch bietet mit Lovestory, Forschergeist und Tier-Romantik eine bewährte Mischung für gute Unterhaltung. Und doch stört eine allzu plakative Gegenüberstellung von guten und bösen Figuren (etwa Sams Besitzer, der finstere Institutsleiter Dr. Moncrief). Auch scheint nicht jede Entwicklung schlüssig.
Unklar bleibt, woher die Studentin Aimee das Geld für ihr neues Leben auftreibt und warum sie nicht versucht, mit Spenden das Tier auf legalem Weg freizukaufen. Entsprechende Umwelt- und Tierschutzorganisationen waren zu jener Zeit längst etabliert.