Es ist schwierig, mit Kindern über das Essen zu reden, ohne damit ihr Körperbewusstsein nachhaltig zu stören: Übergewichtige Jugendliche an einem Konzert. Foto: Tony Alter (Flickr)
Man soll nicht kritisieren, wenn man selber keine bessere Lösung hat. Super Grundsatz. Für heute vergessen wir den mal. Denn sonst kommen wir nirgendwo hin. Und diese Kritik hier brennt mir schon so lange unter den Nägeln, dass ich sie aus aktuellem Anlass endlich loswerden muss: Kampagnen gegen Übergewicht bei Kindern sind für den Müll! Der aktuelle Anlass ist ein Artikel in «20 Minuten». Endlich nennt jemand die Sache beim Namen: Die Massnahmen, die verhindern wollen, dass unsere Kinder immer fetter werden, machen das Problem nur schlimmer.
Die schon fetten Kinder leiden noch mehr, und die nicht fetten haben so einen Freibrief zur Häme. Schuld daran sind so unbedachte Sätze wie: «Es braucht wenig, um viel zu ändern.» Das ist eine Ohrfeige für alle Menschen, die sich schon einmal mit Übergewicht herumgeschlagen haben. Das sieht auch das Experten-Netzwerk «Essstörungen Schweiz» so. Und laut der «NZZ am Sonntag» von vergangener Woche belegen auch Studien das Logische: Die Thematisierung und Problematisierung von Ernährung im Kindesalter könne sogar erst recht zu einer Essstörung führen. Na, bitte.
Ich bin dankbar für dieses langsame Umdenken. Denn ich weiss wirklich, wovon ich hier rede. Ich habe in den Achtzigern pubertiert – Fonda und Aerobic, Sie wissen schon... Die Ära mit den Badekleidern, die hinten wie neonfarbene Zahnseide zwischen den Arschbacken bis unter die Schulterblätter hochrippelten. Mit gigantischen Aussparungen für die Beine und dem Effekt, dass sich selbst der mickrigste Bauchansatz wie ein Fettlappen über der Leiste auffältelte. Ich stamme also aus der Generation der Ahornsirup-Kuren, Fastenwochen und Ananas-Mono-Diäten.
Schuld dafür will ich niemandem geben; um Schuld geht es hier eh nicht. Aber um Gründe. Mein triftigster Grund war die aufrechte Sorge meines Vaters, ich könnte aus dem Leim gehen. Das teilte er mir mit, als ich 10 Jahre alt war. Zusammen mit seinen Schwärmereien darüber, wie zartgliedrig meine Mutter vor unserer Geburt gewesen sei («wie ein Rehlein») schwoll seine Bemerkung in meinem Kopf zur fixen Idee: «Ich bin zu fett. Prinzipiell und unheilbar.» Und auch wenn man mir das heute – fast leider – nicht mehr ansieht: Unter all den Rundungen wohnt noch immer ein Teenager, der Listen führt über gute und böse Lebensmittel und sich täglich rigorose Straf-Sportprogramme ausdenkt, um Verfehlungen auszubügeln. Ich halte mich nie dran. Aber es bleibt lebensfeindlich und vollkommen nutzlos.
Um wenigstens meinen Kindern diesen Programmierfehler zu ersparen, habe ich versucht, sie nie mit solchen Bemerkungen zu verkorksen. Ihr seid schön. Essen ist schön. Und Mama isst mit, ganz entspannt. Leider habe ich die Rechnung ohne Heidi Klum, H&M und eine ganze Generation von übersensibilisierten Kids gemacht. Die ja auch nur spiegeln, was wir ihnen vorleben.
Nun habe ich das grosse Glück, dass meine Kinder bis anhin nicht dick sind und trotz der vielen Einflüsse ein einigermassen gesundes Verhältnis zum Essen und zu ihrem Körper haben. Aber ich kenne etliche Familien, die damit kämpfen. Und entgegen den landläufigen Klischees sind das durchaus nicht zwingend jene, die ihre Kinder mit Pommes frites und Guetsli vor dem Fernseher parkieren. Viele von ihnen kochen und essen sehr bewusst, sitzen zusammen am Familientisch, bewegen sich regelmässig – und sind ratlos.
Sie wissen ja, dass Übergewicht im Kindesalter meist zu Übergewicht im Erwachsenenalter führt. Aber sie haben auch schon lange kapiert, dass es unglaublich schwierig ist, mit Kindern über das Essen zu reden, ohne damit ihr unbeschwertes Körperbewusstsein nachhaltig zu stören. Viele dieser Mütter haben die gleiche Geschichte wie ich. Darum haben wir auch noch andere Sorgen als das Übergewicht unserer Kinder: Gerade hat sich in unserem Bekanntenkreis ein 12-jähriges Mädchen in Lebensgefahr gehungert, weil es sich zu dick fand.
Essstörungen werden natürlich nicht durch eine einzelne Kampagne oder eine Bemerkung allein ausgelöst. Aber durch viele Puzzlesteinchen und Unbedachtheiten. Und das ist das Einzige was ich fordere: Einen bedachteren Umgang nicht nur mit dem Essen, sondern eben auch mit dem Reden darüber. Danke.