Es ist nicht nur die massige Gewalt der Hunde, die ihn anspringen, der Mann, der da rücklings stürzt, scheint vor allem überrascht. Als habe ihm ein überwältigender Schrecken den Boden unter den Füßen fortgezogen. Der Moment ist raffiniert inszeniert, vom muskulösen Oberkörper gleitet der Blick des Betrachters hinauf, wo auf den nackten Schultern der Kopf eines Hirschs sitzt. Der Jäger Aktaion muss sterben, weil er die Göttin Diana mit ihren Nymphen beim Baden im Wald überrascht hat, die ihn daraufhin in ein Stück Wild verwandelte.
Ovid hat den Mythos in der klassischen Erzählung ausgemalt, präzise geschildert, wie aus einem Menschen ein Hirsch wird. Erst wächst ihm Fell, dann ein Geweih. Die Ohren werden länger, Hände und Füße zu Hufen. Doch erst als Aktaion auf der Flucht sein Spiegelbild in einem Bach sieht, erkennt er die Verwandlung. Sein Schrei verhallt als Röhren. Und während die eigenen Hunde ihm das Herz aus dem Körper reißen, denkt er daran, wie sehr er es - als Jäger - genossen hätte, einem Hirschen genau diesen Tod zu bereiten. Der Maler Tizian hat das Motiv "Der Tod des Aktaion", das er im Jahr 1559 begann, klug gewählt. Nicht nur weil klassischer Stoff in der Hochrenaissance gefragt war. Sein Auftraggeber, König Philipp II. von Spanien, war ein begeisterter Jäger. Dass der venezianische Maler die Charaktere der einzelnen Hunde im Bild aufscheinen lässt - Ovid nannte sogar die Namen aller dreißig Hunde der Meute - ist für die Pointe zwar unwesentlich, machte das Spektakel jedoch noch reizvoller für den spanischen König, den Tizian brieflich über seine Arbeit auf dem Laufenden hielt.
In der Londoner National Gallery, wo die gewaltigen Gemälde von Tizian derzeit nach der Wiedereröffnung der Museen in der Ausstellung "Titian: Love, Desire, Death" gezeigt werden, geht es zwar vor allem um die Delikatesse dieser Malerei, um die Aufbereitung klassischer Mythen als erotische Panoramen und um gewaltige Gefühlslandschaften - aber es gibt auch erstaunlich viele Tiere zu sehen. Neben den Hunden blickt aus einem Goldrahmen ein samtäugiger, weißlockiger Stier, auf dessen Rücken Europa reitet. Doch ist es Aktaion, der verhirschte Mensch, der in diesen Tagen dem Besucher in Erinnerung bleibt, dieser schutzlose Körper, in dem sich die Grenze zwischen Tier und Mensch auflöst.
Vom Zentauren bis zur Sphinx verbinden Mischwesen die Schönheit der Tiere mit menschlichen Zügen
Seit den ältesten Höhlenmalereien wimmelt es in der Kunst- und Geistesgeschichte von Tieren, sie sind Allegorien oder Symbole, Gottheiten, Fabel- und Märchenwesen. Und es gibt unzählige Verwandlungen, in Schwäne, Rehe, Raben, Löwen. Diese Doppelwesen gehören zu den Lieblingsmotiven der bildenden Kunst, vor allem die Mischwesen, in denen sich die Schönheit der Tiere mit menschlichen Zügen verbindet, vom Zentauren bis zur Sphinx. Hybride Figuren wie Aktaion sind aber auch deswegen faszinierend, weil sie auf einer Grenze stehen, die für das Selbstverständnis des Menschen konstituierend ist. Die Philosophin Kelly Oliver hat in "Animal Lessons. How They Teach Us to Be Human" nachgezeichnet, wie der Mensch sich im Blick auf das Tier selbst definiert. Sie unterscheidet Denkschulen, die den Menschen ins Tierreich eingemeinden ("biological continuism"), von jenen, die - in Folge von Martin Heidegger - eher auf fundamentale Unterschiede zielen ("metaphysical separationism").
Es ist abzusehen, dass die Covid-19-Pandemie das Verhältnis zum Tier nun grundlegend verändern wird. Zunächst ganz praktisch, denn die Epidemien der vergangenen Jahre, ob Schweinegrippe, Ebola, Sars oder Mers, waren sogenannte Zoonosen, was bedeutet, dass die Infektionskrankheit von Tieren auf Menschen übergesprungen ist. Und ob die ersten Wirte des Coronavirus, das derzeit die Welt lahmlegt, nun Schlangen oder Fledermäuse waren, die auf einem Wildtiermarkt in Wuhan gehandelt wurden, oder die Marderhunde, die unweit zu Tausenden in engen Gitterkäfigen als Pelztiere gestapelt sind, ist nur eine Detailfrage.
Tizians „Der Tod des Aktaion“, entstanden zwischen 1559 und 1575.
Biologen weisen schon seit Langem darauf hin, dass es das gegenseitige Eindringen in den Lebensraum des anderen ist, das der Übertragung von Viren Vorschub leistet. Dass schon in den ersten Tagen des Lockdowns in Venedigs Kanälen seltene Fische zu sehen waren, während Delfine in stillen Hafenbecken des Mittelmeers auftauchten, schien sie zu bestätigen, wie auch die hungrigen Taubenschwärme, die auf der Suche nach Touristen mit Futtertüten in der Mailänder Innenstadt die wenigen Passanten angriffen.
Andererseits hat die von Veganern und Klimaschützern angeregte Debatte um Fleischverzehr ja schon vorgearbeitet: Selten waren die Voraussetzungen besser, sich von der Massentierhaltung zu verabschieden, die industrielle Ausbeutung von Tieren für Pelze, Leder oder in Laboren zu regulieren.
Vor zehn Jahren noch hatte Jonathan Safran Foer mit seinem Sachbuch "Tiere essen" daran erinnern müssen, dass "Fleisch" gleichbedeutend ist mit toten Tieren. Ein Zusammenhang, den Generationen fast vergessen hatten, die vor dem Fernseher die Erlebnisse des Schafs Shaun im Hühnerstall verfolgten, während sie gedankenverloren in die Schüssel mit goldbraunen Nuggets langten, in denen nicht einmal die Hauskatze noch den Vogel erkannt hätte. Doch jetzt gibt es Fleisch aus Ersatzstoffen und der Petrischale. Es ist abzusehen, dass sich Tier und Mensch nach Jahrtausenden des Miteinanders voneinander entfernen werden.
Die Trennung wird sich, das kann man jetzt schon erwarten, auch in neuen Bildwelten abzeichnen. Es ist rückblickend ja nicht überraschend, dass Walt Disney seine so erstaunliche Menagerie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnete, zu einer Zeit, in der die USA unter anderem auch mit der Industrialisierung der Fleischindustrie reich wurden. Frühe Massentierhaltung und der mit der Eisenbahn korrespondierende Ausbau der Schlachthöfe von Chicago löste kleinbäuerlich geprägte Lebens- und Verwertungszusammenhänge auf. Die Tiere, die aus den jungen Großstädten verschwanden, tauchten in verniedlichter und vor allem vermenschlichter Form in Cartoons und Trickfilmen wieder auf. Mickey Mouse ausgerechnet am Steuer eines Dampfschiffes. Er war ein Mensch mit Tiergesicht wie alle Einwohner Entenhausens, die sich unübersehbar von den Märchenfiguren des alten Kontinents unterschieden. Dort komponierte Sergej Prokofjew in den Dreißigerjahren noch sein an klassische Märchen erinnerndes "Peter und der Wolf", als Walt Disney schon mit Zeichentrick-Kätzchen einen Oscar abstaubte und Donald Duck erstmals auf dem Cover des
Mickey Mouse Magazine
erschien, eine Ente, die ihre Oma auf dem Bauernhof zum Truthahn-Essen besucht.
Die Schweine schienen das Kunstpublikum ungerührt zu betrachten
Die zeitgenössische Kunst hat solche populären Tierfiguren häufig zitiert. Von Andy Warhols Mickey-Mäusen bis zu den Filmen von Fischli & Weiss, in denen die Künstler in Ganzkörper-Tierkostümen, verkleidet als Ratte und Bär, auftraten. Mathias Poledna räumte den österreichischen Pavillon auf der Biennale von Venedig für einen an Disney angelehnten Hasen frei, Cosima von Bonin entwarf gewaltige Plüschtiere in Anlehnung an die lukrative, auf Zweitverwertung bedachte Merchandise-Industrie.
Doch war die Verbindung zwischen Mensch und Tier nicht nur ausgehend von der Populärkultur Thema für die zeitgenössische Kunst. Schon im Jahr 1997 richteten Carsten Höller und Rosemarie Trockel auf der zehnten Documenta ihr "Haus für Schweine und Menschen" ein, einen modernistisch schlichten Bau aus Glas und Beton, in dem man den Alltag einer Schweinefamilie durch einen Spiegel hindurch verfolgen konnte. Die Schweine schienen das Kunstpublikum ebenso ungerührt zu betrachten, so wie die Foxterrier, die Rosemarie Trockel später als klassische Brustporträts fotografierte. Und der Amerikaner Bruce Nauman, einer der bedeutendsten Künstler der Welt, seit er mit langen Schritten sein Atelier vermaß, filmt sich, seit er auf einer Farm in Galisteo in der Wüste von New Mexico lebt, dabei, wie er - konzeptuellerweise - junge Pferde reitet oder die Zaunpfosten ihrer Weiden repariert.
Die zeitgenössische Kunst folgte offensichtlich eher dem philosophischen Gedanken der biologischen Kontinuität zwischen Tier und Mensch. Folglich fragte die Documenta 13 dann, ob nicht auch Pflanzen kreativ sein könnten, während die Theoretikerin Donna Haraway einen Pavillon einrichtete, in dem man vor einem Fischteich über das Verhältnis zwischen Tieren und Menschen reflektieren konnte, während Kristina Buch auf dem zentralen Friedrichsplatz eine Schmetterlingswiese ansäte und an den Karlsauen ein Skulpturengarten für Hunde eröffnete. Eine der Hauptattraktionen dieser Weltkunstschau war das schlanke, weiße Windspiel "Human", dem der französische Künstler Pierre Huyghe das Vorderbein rosa angemalt hatte, weswegen es weniger als Kunstwerk denn als Abgesandter des Ateliers durch die Karlsauen strolchte.
Während so nicht nur das biologisch Gemeinsame betont wird, sondern dem Tier sogar ästhetische Wahrnehmungen und Kreativität zugeschrieben werden, hat sich die Motivik entscheidend verändert. Das Tier, das zurück blickt, ist zum Gegenüber geworden. Und so scheint in diesen Werken schon ein neues Verhältnis auf, das nicht mehr allein von Ausbeutung und Nutzung bestimmt wird. Immerhin hat die zeitgenössische Kunst auch fast vollkommen darauf verzichtet, sensationelle Motive der Biologie oder Medizin aufzugreifen wie Hybridzüchtungen oder das Bild der Maus, der man menschlichen Knorpel angezüchtet hat. Wo es umgekehrt darum geht, das Wesen des Menschen abzugrenzen, setzt man ihn seit der Jahrtausendwende im Diskurs ohnehin eher mit Robotern oder künstlicher Intelligenz in ein Verhältnis, beobachtet die Invasion computergesteuerter Prothesen in den Körper oder die Experimente der Genmanipulationen.
Es ist überhaupt viel Fleisch zu sehen, wenn die Wärterin die Großkatzen mit Kochschinken füttert
Dass die Trennung von Mensch und Tier, die aus den Gründen der Hygiene notwendige Abgrenzung nicht einfach angeordnet werden kann, versteht sich. Wer erlebt hat, wie arabische Kamelzüchter zu Zeiten der Mers-Epidemie mit den Tieren auch ihre Kultur verteidigten, wird skeptisch sein. Doch vielleicht sind die Ekel erregenden Bilder von Pelztierfarmen, Lebendtiermärkten und Schlachthöfen mehr als Nachrichtenbilder; vielleicht ist das neue Interesse an Dokumentationen wie "Tiger King" schon Teil der visuellen Auseinandersetzung um unser Verhältnis zu Tieren.
Die Netflix-Serie geht einem Mordfall im Milieu amerikanischer Privatzoos nach, dort, wo die Gattin des Geschäftsführers Schränke voller Babykleider für Affenbabys bereithält und Tigerwelpen, die eben noch mit Zoobesuchern posierten, abgeknallt werden, sobald sie erwachsen und wild sind und außerdem für 3000 Dollar jährlich Fleisch verschlingen. Es ist überhaupt viel Fleisch zu sehen, wenn die Wärterin die Großkatzen, die ihr den halben Arm abgerissen haben, mit verschweißtem Kochschinken füttert, mit zersägten Kälbern und Kadavern, die man am Rand der Highways eingesammelt hat.
Der Umgang mit Tieren im Westen, das wird schnell deutlich, ist dem Wildtiermarkt in Wuhan in keiner Weise überlegen, kulturell nicht und schon gar nicht in Bezug auf ungute, psychologische Motive. An den langen Abenden dieses Frühlings, in denen man niemanden treffen darf, in denen Restaurants, Kinos, Theater geschlossen sind und Ausstellungen wie die zu Tizians Motiven von Liebe, Begehren und Tod nur kleinen Besuchergruppen zugänglich sind, ist der "Tiger King" auf Netflix jedenfalls ein Thema. Während die, die solche Bilder gerade nicht aushalten - oder noch nicht-, vielleicht noch eine Runde rausgehen, mit dem Hund.