Nach den Anschlägen von Nizza und Wien stellen sich Fragen, die weder von islamischer noch von linker Seite übertrieben laut gestellt werden.
der Freitag: Frau El-Menouar, Herr Veressov, der Anschlag von Wien zeigt: Radikalisierungen werden nicht immer erkannt, Stichwort „Schläfer“. Das führt zu Verunsicherung in der Gesellschaft: Kann ich dem unauffälligen Muslim in meiner Nachbarschaft trauen? Wer sagt mir, dass sich da nicht auch radikales Gedankengut verbirgt?
Yasemin El-Menouar: Es ist richtig, dass wir es seit Jahren mit islamistischen Radikalisierungen zu tun haben, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen und auch im Zusammenhang mit den sozialen Medien stehen. Das betrifft aber nicht nur religiöse, nicht nur islamische Glaubensgruppen. Wir sehen seit Jahren auch sehr starke Radikalisierungen im rechten Spektrum. Zusätzlich haben wir es in der Corona-Situation mit verschärftem Misstrauen zu tun. Da nimmt das Gefühl der Sicherheit insgesamt nicht gerade zu.
Roman Veressov: Laut der Bundesregierung gibt es ungefähr 28.000 Islamisten in Deutschland, mit steigender Tendenz. Davon haben 2.000 terroristisches Potenzial, so der Verfassungsschutz. Es gibt auch mehr als 600 ganz konkrete Gefährder, die laut Sicherheitsbehörden schon deutlich auffällig geworden sind. Das ist alles zutiefst beunruhigend. Und man kann die Augen nicht davor verschließen, dass fundamentalistische Einstellungen unter den Muslimen in Deutschland durchaus verbreitet sind.
Wie verbreitet?
Veressov: Es gab ja Studien. Zum Beispiel die zwei Hamburger Kriminologen Katrin Brettfeld und Peter Wetzels, die 2007 herausgefunden haben, dass etwa 47 Prozent der Muslime in Deutschland die Gebote des Islams über die Demokratie stellen – für mich der Punkt, an dem der Islam politisch wird. Dass es vor allem in der jüngeren Generation eine doch alarmierende Gewaltaffinität gibt. 2008 hat Ruud Koopmans in einer vergleichenden Studie in sechs Ländern festgestellt, dass in Deutschland 30 Prozent der Muslime eindeutig als Fundamentalisten zu betrachten sind. Selbstverständlich hat Frau El-Menouar recht, dass wir auch zunehmenden Rechtsextremismus haben. Und wir wissen, dass auch rechte Ressentiments bis in die Mitte unserer Gesellschaft verbreitet sind. Insofern könnte man da vielleicht eine Analogie ziehen.
Sind also fundamentalistische Einstellungen unter Moslems weiter verbreitet, als uns lieb sein kann, Frau El-Menouar?
El-Menouar: Wir erheben mit dem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung regelmäßig Daten zum religiösen Leben. Seit Jahren führen wir repräsentative Umfragen durch und konnten bislang nicht feststellen, dass der Fundamentalismus unter Muslimen zunimmt. Man muss hier kritisch hinterfragen: Wie wird Fundamentalismus eigentlich gemessen? Die Studien, die Sie genannt haben, konstruieren von vornherein einen Widerspruch zwischen islamischen Geboten und hiesigen Gesetzen. Aber Frömmigkeit – wenn jemand zum Beispiel fünfmal am Tag betet, kein Schweinefleisch isst, diese Regeln für diese Person wichtig sind – ist noch lange kein Fundamentalismus.
Warum nicht?
El-Menouar: Fundamentalismus beansprucht eine allumfassende Lösung und lehnt andere Sichtweisen grundsätzlich ab.
Kann man also zwischen Normalreligiosität und Fundamentalismus klar unterscheiden? Nehmen wir den viel diskutierten Schwimmunterricht.
El-Menouar: Wie groß ist denn der Anteil an Kindern, die nicht am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen? Solchen Problemen, die im niedrigen einstelligen Bereich liegen, wird sehr viel Platz eingeräumt. Die breite muslimische Bevölkerung hat diese Probleme überhaupt nicht. Aber das wird oft unterstellt. Und das ist genau die Problematik, die wir in den Debatten erleben. Sie spielt den Extremisten in die Hände.
Veressov: Dieses Argument kommt immer wieder. Dass Rechte bestimmte Argumente oder Sachverhalte aufgreifen und instrumentalisieren, sollte uns nicht daran hindern, gewisse Phänomene in muslimischen Communities, die nicht mit unserer Vorstellung von einer säkularen, liberalen, demokratischen Gesellschaft vereinbar sind, zu kritisieren. Und ab einem bestimmten Punkt auch eine gewisse Integrationsverpflichtung zu verlangen. Zum Beispiel beim Schwimmunterricht.
El-Menouar: Richtig ist, dass alle islamistischen Extremisten Muslime sind. Umgekehrt besteht aber nun wirklich nicht die Gefahr, dass alle Muslime in den Islamismus abzudriften drohen. Eine solche Gefahr zu beschwören, hilft niemandem. Natürlich gibt es eine Bandbreite von muslimischen Positionen – von liberalen bis hin zu ganz konservativen –, aber Radikalisierung hat eine ganz andere Qualität. Das ist nicht die Weiterführung einer religiösen Praxis, sondern das ist eine bestimmte ideologische Aneignung von Religion, die für andere Zwecke instrumentalisiert wird. Man muss zwischen Islam als Religion und Islamismus als religiös verbrämter Ideologie unterscheiden.
Zu den Personen
Yasemin El-Menouar studierte in Köln, wo sie auch zur Rolle von Religion für die Integration von Muslimen promovierte. Sie ist Senior Expert bei der Bertelsmann-Stiftung und leitet das Projekt Religionsmonitor
Roman Veressov wurde 1984 in St. Petersburg geboren. Der studierte Philosoph ist Bezirksverordneter in Berlin-Lichtenberg für die Partei DIE LINKE. Er engagiert sich mit der Arbeitsgemeinschaft Säkulare Linke für eine radikal aufklärerische Politik
Warum gibt es denn nicht mehr Widerrede beim islamistischen Terror?
El-Menouar: Unter Muslimen ist die Vorstellung weit verbreitet, dass der Glaube etwas sehr Privates sei. Es ist eine Sache zwischen dem Gläubigen und Gott. Das ist einer der Gründe. Ich denke nicht, dass sich jeder Muslim von jedem islamistischen Attentat nun explizit distanzieren müsste. Aber muslimische Repräsentanten haben durchaus die Aufgabe, dem Islamismus nicht das Feld zu überlassen, stärker zu widersprechen. Viele taten das im Übrigen auch nach den Anschlägen in Nizza und Wien. Allerdings fehlt mir die nachhaltige Auseinandersetzung mit der religiösen Rechtfertigung solcher Taten, etwa mit der Blasphemie. Dazu sollten sich die Verbände stärker positionieren und die theologischen Grenzen zwischen Islam und Islamismus deutlicher machen.
Veressov: Wir sind uns einig, dass kein Generalverdacht vorliegen darf. Den gibt es aber auch nicht, außer von Rechten, die das Ganze für Propaganda nutzen wollen. Ich bin immer für sachliche Differenzierung. Diese beinhaltet Unterscheidung, aber auch Analyse von Verbindungen. Selbstverständlich liegen Welten zwischen der Mehrheit der gewöhnlichen Muslime und den islamistischen Terrormördern. Aber der legalistische Islamismus ist schon nicht weit entfernt von terroristischen Einstellungen. Da liegt der Unterschied eigentlich nur noch in der Wahl der Mittel. In den zentralen Schriften des Islam gibt es einige Elemente, die so interpretierbar sind, dass sie die Ungleichheit von Menschen, sprich von Gläubigen und Ungläubigen sowie von Männern und Frauen, nahelegen. Die teils auch Gewalt als Mittel legitimieren. Das alles vertritt der legalistische Islamismus, der in Europa und in Deutschland in weitläufigen Netzwerken bestens organisiert und höchst einflussreich ist.
El-Menouar: Religionen sind wegen ihres Wahrheitsanspruchs ambivalent. Sie haben ein Gewaltpotenzial. Da muss man sich nichts vormachen. Es stimmt, dass die Grenzen zwischen Religion und Politik fließend sein können, auch in eine negative Richtung. Alle Religionen haben aber vor allem das Potenzial, einen positiven Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Insofern kann man nicht sagen, die eine Religion ist friedfertig, die andere Religion dagegen gewaltbereit. Es kommt immer darauf an, auf welche Auslegung oder welche Praxis wir den Fokus legen. Ich finde es auch nicht richtig, immer wieder die Liberalen als die „guten Muslime“ darzustellen und alle anderen als gefährlich zu betrachten. Wir sind in Deutschland eine plurale Gesellschaft. Da ist Platz für liberale, aber auch für konservative Positionen.
Also gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen konservativen und radikalen Muslimen.
El-Menouar: Konservativ und fromm heißt nicht radikal und gewaltbereit. Extremisten sind oft Muslime, die spät zum Islam gefunden haben. Und sich meistens gleich den sehr radikalen Auslegungen anschließen. Viele Extremisten kommen aus einem säkularen oder sogar areligiösen, manchmal auch nichtmuslimischen Kontext.
Also stimmt es nicht, dass der Islam vielleicht ein besonders ambivalentes Verhältnis zur Gewalt hat? Warum aber ist buddhistischer Terror in Europa nicht auch geläufig?
El Menouar: Und was ist, wenn wir 100 Jahre zurückschauen? In den 1920er-Jahren hatte der Islam genau den Status, den der Buddhismus heute in Europa hat. Intellektuelle, Philosophen, Schriftsteller wie Thomas Mann und Hermann Hesse sind regelmäßig in die Berliner Moschee gepilgert. Das war en vogue. Da hatte man eher diese friedfertige Auslegung im Blick. Genauso haben wir aber auch im Buddhismus Gewalt und Terror. Stichwort Myanmar. Wir haben in Europa einfach einen anderen Fokus. Dennoch, das will ich nicht bestreiten, ist momentan der islamische Extremismus attraktiv für Menschen, die sich radikalisieren.
Hat das auch mit toxischer Männlichkeit zu?
El-Menouar: Ich weiß nicht genau, was Sie darunter verstehen. Aber das sind sicher Männer, die Protest üben wollen, sich nicht anerkannt fühlen und so weiter. Man hat aber kein ganz genaues Profil, wer sich radikalisiert, sonst hätte man bessere Präventionsmaßnahmen. Klar ist: Häufig passiert die Radikalisierung in Gefängnissen, insofern sind es schon häufig junge Männer, zunehmend auch junge Frauen, Dschihadistinnen. Aber es sind eben meistens junge Leute, oft hier geboren, und nicht diejenigen, die zugewandert sind, zum Beispiel als Gastarbeiter kamen und oft auch sehr fromm sind.
Veressov: Sicherlich spielt eine bestimmte Norm von Männlichkeit für Gewalttäter aller Art eine wichtige Rolle. Aber die Radikalisierungsprozesse sind komplexer. Da spielen Sozialisation, Peergroups, auch rassistische oder andere Diskriminierungen eine Rolle. Das wird auf bestimmte Weise mental verarbeitet und da kommen die Ideologien ins Spiel. Es ist nun einfach die Realität, dass es nicht der Buddhismus ist, auf den Islamisten und Terroristen sich berufen, sondern eben auf die im Islam angelegten Anknüpfungspunkte für Gewalt. In Europa, aber viel stärker noch in der arabischen Welt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die größten Gewaltherde der Islamisten im Nahen Osten liegen. Man muss nach dem Grund fragen.
Okay. Und was ist mit sozialen Schieflagen?
Veressov: Sicherlich liegt es auch daran. Aber ich glaube schon, dass das auch mit den innertheologischen Entwicklungen zu tun hat. Im Islam hat eben kein Reformations- und Säkularisierungsprozess stattgefunden bisher, zumindest nicht in dem nötigen Umfang. Auch weil der Islam keine zentrale theologische Definitionsinstanz hat, wie es sie im Christentum zum Beispiel gegeben hat. Ich hoffe sehr auf diesen Reformationsprozess, der teilweise bereits im Gange ist und dazu führen sollte, dass sich ein humanistisch-säkular orientierter Islam umfassend etabliert. Einer, der nicht nur zufällig, sondern vollkommen konform ist mit Menschenrechten und Grundrechten, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, mit Trennung von Staat und Kirche und so weiter. Diesen Säkularisierungsprozess müssen wir nach Kräften unterstützen, gerade als Linke, und uns gleichzeitig klar gegen muslimfeindliche Hetze stellen.
El-Menouar: Der Gedanke, dem Islam fehle eine Reformation, und die damit verbundene Idee, der Islam stecke irgendwie im Mittelalter fest, ist irreführend. Islamismus und Dschihadismus sind keineswegs der Ausdruck historischer Rückständigkeit, sondern ganz und gar moderne Phänomene. Auch hinken die Vergleiche mit dem Christentum. Der Islam ist nicht kirchlich organisiert, sondern kennt zahlreiche Strömungen und Glaubensrichtungen. Diese Pluralität des Islams ist kein Nachteil, er entzieht dem islamistischen Extremismus den Boden.
Bei den Attentaten in Frankreich spielt ja Blasphemie eine zentrale Rolle. Anders als in Frankreich haben wir in Deutschland den Blasphemie-Paragrafen, der besagt, dass es strafbar ist, religiöse Gefühle Anderer zu verletzen. Wie stehen Sie dazu?
Veressov: Der Paragraf wird zum Glück inzwischen nur noch selten angewandt. Er sollte gestrichen werden. Man sollte Menschen vor Verhetzung und Beschimpfung schützen und nicht Religion. Dafür haben wir richtigerweise die Tatbestände von Beleidigung, von Volksverhetzung, die zur Anwendung kommen können und auch kommen. Aber Religionen oder Weltanschauungen vor Kritik oder Spott zu schützen, halte ich für eine moderne Gesellschaft eigentlich nicht angebracht.
El-Menouar: Sehe ich genauso. Wir müssen auf Meinungsfreiheit bestehen. Ich persönlich finde die Charlie-Hebdo-Karikaturen geschmacklos, teilweise sexistisch und beleidigend. Aber das ist nun mal der Preis der Meinungsfreiheit. Ich kann die Karikaturen kritisieren, muss sie aber auch akzeptieren und aushalten können.
Ironischerweise scheint das ja gerade ein Teil der Linken nicht so zu sehen. Für sie ist Blasphemie eine Form von Diskriminierung.
Veressow: Ja, in der politischen Linken setzt sich zunehmend eine Richtung durch, soziale Gruppen, die Diskriminierung erleiden, als homogen und per se als Opfer zu betrachten und ihre Gefühle zu verabsolutieren. Universalistische Werte und Prinzipien, ja objektive Wahrheit selbst werden dem völlig unterordnet und Relativismus betrieben. Reale Probleme wie Integrationsdefizite und Unterdrückung von Minderheiten innerhalb der Minderheiten werden ausgeblendet, Kritik daran verunglimpft. Sogar Religionskritik wird als Rassismus diffamiert.
Und die Folge ist dann das Schweigen zum Terror?
Veressov: Ja. Der Großteil schwieg bis zuletzt und einige trauten sich nicht einmal, die islamistische Motivation beim Namen zu nennen. Ein bestimmtes Spektrum in der Linken geht sogar so weit, strategisch mit dem politischen Islam zusammenzuarbeiten. Das macht mich fassungslos. Ich finde, wir müssen dringend zu den Grundprinzipien der Aufklärung zurück.
Zum Schluss der Klassiker: Sollen muslimische Lehrerinnen ihr Kopftuch im Unterricht in Deutschland tragen dürfen?
El-Menouar: Ja, wenn sie dies möchten. Das Neutralitätsgebot verpflichtet den Staat zwar, gleichen Abstand zu allen Religionen zu halten. Ich kann aber nicht erkennen, dass durch das Kopftuch muslimischer Lehrerinnen die wichtige staatliche Neutralität unterlaufen werden soll. Wir leben in einer pluralen Gesellschaft, in der unterschiedlichste Lebensformen die Normalität sind. Die Stellung zum Staat und seine Prinzipien werden doch nicht automatisch negativ dadurch beeinflusst, dass ich meine Religion auch für andere sichtbar lebe. Aus meiner Sicht stellt ein generelles Verbot des Kopftuchs bei Bediensteten im staatlichen Bereich dann aber eine Diskriminierung dar.
Veressov: Selbstverständlich muss jede Frau individuell entscheiden, ob sie sich verschleiern oder ein Kopftuch tragen will. Aber ich finde, das kann nicht uneingeschränkt gelten. Es ist zumutbar, in sensiblen staatlichen Bereichen, wie in Justiz, Polizei und Bildungswesen, wo die Bürgerinnen und Bürger in besonderer Weise staatlicher Einwirkung ausgesetzt sind, die Zurschaustellung sämtlicher religiöser und weltanschaulicher Symbole und Kleidung zu untersagen, um dem staatlichen Neutralitätsgebot zu entsprechen und auch das Recht auf Freiheit von Religion zu respektieren.