Der Sinologe Andreas Seifert über unseren Blick auf die asiatische Großmacht, die Frontstellung der Nato gegen Beijing und das Bild der Menschen in China auf ihr Land. (Teil 1)
Chinas erstarkte Rolle auf der internationalen Bühne sorgt vor allem im Westen für Debatten. Die EU und die Nato gehen zunehmend auf Distanz zu der kommunistischen Führung in China - und ergreifen entsprechende Maßnahmen.
Vor wenigen Tagen erst warf US-Außenminister Antony Blinken dem chinesischen Staatssicherheitsministerium vor, ein Netzwerk "krimineller Auftragshacker" zu finanzieren. Sie verübten in staatlichem Auftrag und aus eigenem finanziellen Interesse Cyberangriffe verübten, so Washingtons Chefdiplomat.
Die Nachrichtenagentur AFP zitierte einen namentlich nicht genannten US-Diplomaten, dem zufolge die USA, die EU, Großbritannien, Australien, Kanada, Neuseeland, Japan und die Nato vereint gegen die "immense Bedrohung" aus China stünden.
Anfang vergangener Woche war die deutsche Fregatte "Bayern" nach Fernost ausgelaufen. Man wolle den "chinesischen Machtansprüchen in der Region etwas entgegensetzen", zitiert die Tagesschau eine ungenannt bleibende Bundeswehrquelle. Das Schiff wird sich aller Voraussicht nach mit französischen, britischen und US-amerikanischen Verbänden in den Gewässern vor der chinesischen Küste treffen.
Diese zunehmenden Konflikte und die Bewertung der neuen Rolle Chinas in der Welt waren Gegenstand zweiter Beiträge, die der Informationsstelle Militarismus e.V. (IMI) Anlass zu einer Diskussionsveranstaltung boten.
Erschienen war zuvor von Andreas Seifert der Text "China und die Neuordnung der Weltpolitik" (IMI-Studie 2/2021) und eine Replik von Jörg Lang "China - ein Militarismus unter anderen?" (unsere zeit, 23.4.2021).
Bei der Debatte ging es darum, wie die Volksrepublik China bei uns wahrgenommen wird und welche Interessen jeweils auch hinter bestimmten China-Bildern stehen. Wird China bedroht oder stellt es selbst eine Bedrohung dar? Wie sollen wir uns dazu verhalten und warum?
Wir starten mit einem Interview mit Andreas Seifert, Mitglied im Vorstand der IMI. Seifert hat Sinologie unter anderem in Beijing studiert. Er war seit 1990 regelmäßig zu Studien- und Reiseaufenthalten in China. Er forscht unter anderem zur Populärkultur, zur modernen Geschichte und zum politischem System Chinas.
Im zweiten Teil kommt morgen kommt Jörg Lang zu Wort.
Herr Seifert, Wie nehmen wir die Volksrepublik China wahr, also ihre Rolle in der Weltpolitik; bei der Frage von Menschenrechten, Teilhabe, Demokratie, Umwelt und Ökonomie?
Andreas Seifert:Das Chinabild hierzulande war und ist einer stetigen Wandlung unterworfen - das medial vermittelte Bild ist zudem interessengeleitet. An einer "unvoreingenommenen" Berichterstattung scheint kein Interesse zu bestehen.
Aber neben den verkürzten, intentionalen Meldungen in Nachrichtensendungen und auch Talkshows gibt es auch medial durchaus differenzierte Beiträge, die das oftmals aktuell negative Bild durchbrechen und China in seiner Vielfalt und seinen vielen Dimensionen darstellen.
Es gibt zwei sich ergänzende Tendenzen - einerseits scheint der "kritische" Blick der westlichen Medien eindeutig von dem Willen geprägt, China entlang einer politischen Neuorientierung negativ darzustellen, andererseits schottet sich China von jeder externen und unkontrollierten Berichterstattung ab: der Bewegungsraum für Journalisten und Beobachter wird enger.
Dies gilt nicht nur für "westliche" Journalisten vor Ort, sondern auch für chinesischen Inlandskorrespondenten, die im Land über ihr Land berichten wollen.
Die Gesetzgebung in der VR China unterbindet jede unabhängige Berichterstattung, die nicht den staatlichen Vorgaben entspricht - ein anderes Narrativ, als das staatliche, gibt es nun nicht mehr.
Chinesen haben zudem nur noch eingeschränkte andere Möglichkeiten, etwas anderes als die vorgegebene Meinung zu hören. Die Kontrolle über das, was beispielsweise im chinesischen Internet zu lesen ist und was nicht, ist inzwischen nahezu perfekt - die kulturelle Hegemonie ist gegeben.
Hat sich die mediale Berichterstattung denn nicht auch geändert?
Andreas Seifert: Blicke ich zurück auf die Berichterstattung über China in Deutschland so habe ich wahrgenommen, wie man sich vom antikommunistischen Mainstream der 1950er bis 1970er-Jahre zu Beginn der 1980er-Jahre verabschiedet hat - auch die prokommunistische, die Kulturrevolution verklärende Schwärmerei in linken Kreisen verlor zur gleichen Zeit an Schwung.
Der Zugang zum Land, den die (ausländischen) Korrespondenten nun physisch erlangten, schärfte den Blick auf ein sich entwickelndes Land.
Die Berichterstattung in den 1980er und 1990er-Jahren war in der Tendenz positiv - daran änderte auch der Tiananmen-Zwischenfall (1989) nicht viel. Der Markt lockte und die Verlagerung von Produktionsstandorten nach China war immer noch positiv besetzt.
Die Nachteile und die negativen Begleiterscheinungen der wirtschaftlichen Entwicklung im sozialen Bereich (Massenentlassungen, Abbau von Versorgungsstrukturen, sich verstärkendes Stadt-Land-Gefälle,...), in der Umwelt (Verschmutzung der Gewässer und der Luft, massiver Verlust von Ackerbaufläche, Zunahme von umweltbedingten Krankheiten, ...) und vor allem in der gesellschaftlichen Teilhabe (Vetternwirtschaft, Selbstbereicherung der Kader, grassierende Korruption, ...) spielten in der Berichterstattung über China in dieser Zeit eine nachgeordnete Rolle.
Ein Vorbild ist China heute kaum mehr ...
Andreas Seifert: In vielen "linken" Debatten verlor China nach 1979 tatsächlich deutlich an Strahlkraft und mit der Niederschlagung der Studentenproteste jede Glaubwürdigkeit.
Den "Verrat" an sozialistischen Wurzeln konnte man auch schon 1980 diagnostizieren, doch erschienen die Ereignisse von 1989 als deutlicher Beleg für eine verknöcherte Partei, die sich vor allem an die Macht klammert.
Erst nach 2000 geriet dieses positive mediale Bild einer kapitalismuskonformen Volksrepublik ins Wanken und zeichnete damit letztlich aber auch nur nach, was in China offen diskutiert werden konnte: sich verschärfende gesellschaftliche Widersprüche führen zu Spannungen und offenen Konflikten.
Der steigende Wohlstand und der staatlich propagierte Nationalismus vermochten hiervon noch viel zu verdecken und doch sah sich die Regierung von Hu Jintao zu einer Änderung in der Politik gezwungen.
Dabei ging es um die gleichmäßigere Verteilung ("bescheidener Wohlstand" für alle, xiaokang) des neu entstehenden Wohlstandes und auch darum, die abgeschafften Systeme der Daseinsfürsorge (Krankenversicherung auf dem Lande, Rentensysteme, ...) wieder aufzubauen, um den sozialen Frieden zu kitten.
Ab dem Jahr 2000 verschlechterte sich das mediale Bild der Volksrepublik in Deutschland und mehr und mehr Kritik am Land wurde laut.
Dies hat seine Ursache auch in den enttäuschten Erwartungen der Unternehmer, ihrer Lobbyisten und den Politikern hierzulande, die endlich auch am chinesischen Markt "verdienen" wollten.
Unter Xi Jinping (ab 2012) schottete sich das Land mehr und mehr ab - eine beispiellose Kampagne gegen Korruption wurde initiiert, die in mehrfache Hinsicht wirkte (und wirkt), aber auch eines besonders unterlässt: die Wurzeln der Korruption anzugehen. Die Partei wurde dadurch "moralisch gefestigt" und damit auch der Dissens ihr gegenüber delegitimiert. Die Kontrolle wurde systematisch verstärkt und andere Meinungen wurden kriminalisiert.
Wie erleben Sie den Blick der Menschen in China auf ihr Land?
Andreas Seifert: Die meisten Chinesen sind sehr loyal zu ihrem Land - zumindest dieser Eindruck entsteht, wenn man sich mit den Privilegierten unterhält, denen man hier begegnet: Studierende, Unternehmer und Unternehmerinnen, Touristen.
Der gezeigte Patriotismus ist anerzogen und verinnerlicht und funktioniert als Kitt für eine sozial tief gespaltene Gesellschaft. Chinesen haben tatsächlich allen Grund stolz zu sein, auf das, was sie die letzten vierzig Jahre geleistet haben, und sie verschließen den Blick gegenüber den negativen Nebeneffekten nicht - nur öffentlich darüber sprechen, schon gar mit Ausländern, werden sie nicht mehr.
Und unser Blick?
Andreas Seifert: Unsere Debatte hier braucht aber einen unverstellten Blick auf China, um zu verstehen, was dort passiert und nicht jeder, der einen kritischen Blick pflegt, befüttert die "Dämonisierung" der Volksrepublik.
Wer hier in einer linken Debatte Kritik an der VR China ausspart und als "China-Bashing" abtut, hantiert mit einem verklärten China-Bild. Die Relativierung chinesischer Zustände oder Verhaltensweisen zu dem keineswegs zu verharmlosenden aggressiven ökonomischen Verhalten des Westens und insbesondere zum Gebaren der USA, verhilft zu keiner tragfähigen Beurteilung der VR China.
In den 30 Jahren, in denen ich die Volksrepublik China bereist und beforscht habe, hat sich das Land wesentlich gewandelt, haben sich Einstellungen geändert und Mentalitäten angepasst. Die Größe des Landes und seine Vielfalt sind dabei eine Herausforderung für jede Berichterstattung: Verkürzungen und Pauschalitäten führen in die Irre.
Wie bewerten Sie die Sicherheitspolitik? Oder, anders gefragt: Wer bedroht wen?
Andreas Seifert: Beginnend mit der Politik der Vier Modernisierungen hat China schon in den 1970er-Jahren begonnen, seinem Militär eine neue Struktur zu geben, es zu verschlanken, aber auch technologisch aufzurüsten.
Ziel aller Bemühungen war es lange Zeit, eine Landesverteidigung aufzubauen, die es mit jedem Angreifer aufnehmen kann. Die Demobilisierung von Soldaten und aktive Reduktion der Truppenstärke war dabei immer begleitet, von einer qualitativen Aufrüstung. Insbesondere seit den 2000er-Jahren hat es dabei einen deutlichen Ausbau der Marine und anderer technologieintensiver Truppenteile gegeben.
Die Dimension dieses Ausbaus ist sowohl Reaktion auf eine empfundene Bedrohung durch andere - vor allem die USA und Japan - wie sie auch selbst Ängste bei Anrainern auslöst.
Vietnam und die Philippinen sehen sich ganz unmittelbar von den immer öfter militärisch abgesicherten Explorationen und Gebiets- und Regelungsansprüchen der Volksrepublik in die Ecke gedrückt.
Die mediale Begleitung des Flottenaufbaus in den chinesischen Medien und insbesondere der Konflikt um das Südchinesische Meer sind von scharfer nationalistischer Rhetorik und gewichtigen Bildern geprägt.
Eine Art nationaler Endkampf, den die Marine bis zum letzten Mann zu kämpfen bereit ist. Volksrepublikanische Fischer fühlten sich ermuntert, vietnamesische Fischerboote selbst in einer gedachten 200-Meilen-Zone zu rammen und zu bedrohen.
Geht das alles aber nur von China aus? Welche Rolle spielen der Westen und die Nato?
Andreas Seifert: Beijing sieht sich massiv durch das militärische Engagement der USA und Japans bedroht. Die Rivalität zu Indien und zu den Anrainern am Südchinesischen Meer untermauern den Gedanken einer realen Einkreisung und Abriegelung.
Dieses Containment durch die USA findet nicht nur militärisch real an der Peripherie der chinesischen Grenzen statt, es ist auch Gegenstand diplomatischer und ökonomischer Bemühungen. Und es ist begleitet von der einseitigen medialen Inszenierung der VR als dem einzigen Aggressor in der Region. Es ist eine Inszenierung.
China verfügt über keinen ungehinderten Zugang zum Pazifik oder in den Indischen Ozean und auf dem Weg nach Europa oder Afrika gibt es mehr als eine Engstelle, die ein chinesisches Handels- oder Kriegsschiff passieren muss.
Hierin liegt die strategische Bedeutung der Paracel- und Spratly-Inseln, wie auch der Senkaku-/Diaoyu-Inseln. Der Aufbau militärischer Infrastruktur weit ab der eigenen Küste vor der Küste Malaysias kann man als defensiv interpretieren und hinzufügen, dass diese Anlage militärisch letztlich nur von geringem Nutzen ist. Man kann aber auch fragen, warum Beijing eigentlich in eine (scheinbar so offensichtlich nutzlose) Anlage so viel Energie und Geld steckt.
Sicher lässt sich Chinas Aufrüstung als Reaktion auf die westliche Eindämmungspolitik beschreiben, ist sie aber deshalb frei von Kritik, wenn sie doch etwa massiv dazu beiträgt, regionale Rüstungsdynamiken zu befeuern?
In der internationalen Politik tritt China indes öfter in Erscheinung, jüngst etwa mit dem Empfang einer Delegation der Taliban.
Andreas Seifert: China verfolgt eine Politik der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Das ist angesichts der grenzenlosen Einmischung, wie sie die Nato-Staaten praktizieren, eine positive Alternative.
Dem scheinheiligen Vorwurf des Westens, auch mit korrupten und brutalen Regimen zu paktieren, begegnet die Führung in Beijing mit dem Mantra, jedem Volk und Staat seinen eigenen Weg nicht abzusprechen.
Chinas Investitionen in andere Länder folgen den Erfordernissen der eigenen Entwicklung und im Idealfall verlaufen sie zum beiderseitigen Vorteil. Das gilt in der Praxis nicht für jedes Projekt, das von chinesischer Seite aus initiiert wird, aber es ist ein Grundsatz, dem die Politik folgt.
Für die internationalen Partner Chinas, gerade in Afrika, Südamerika und auch Zentralasien ist dies eine attraktive Politik und eine ehrliche Alternative zum gängelnden Westen, der meist ein hohes Maß an Zugeständnissen im politischen und ökonomischen Feld als Voraussetzung für ein Engagement fordert - und in seiner Arroganz auch nicht davor zurückschreckt, dies militärisch abzusichern.
China wird in den Eliten dieser Partnerländer sehr geschätzt. Lange Zeit hat es China vermieden in Feldern und Ländern aktiv zu sein, in denen ein starkes "westliches" Engagement im ökonomischen oder auch militärischen Bereich festzustellen war.
Eine Politik, die unter Xi Jinping teilweise aufgegeben wurde. Heute kann man durchaus auch Ansätze in der chinesischen Diplomatie finden, in denen die VR-Regierung konformes Verhalten als Voraussetzung seines Wohlwollens und Engagement begreift - geopolitisches Denken ist auch in Beijing vorhanden ...
... und geht mit einer Aufrüstung einher. Wie bewerten Sie das?
Andreas Seifert: Militarismus und Aufrüstung sind aus meiner Sicht immer kritisch zu bewerten - sie wirken mehrfach negativ. Die schiere Existenz von Waffen erhöht die Gefahr ihres Einsatzes; sie fördern Ängste und Abgrenzung und befördern Aufrüstungstendenzen bei anderen; sie entziehen der Gesellschaft Ressourcen, die an anderer Stelle besser eingesetzt werden können - und vor allem: Der Einsatz von Waffen tötet und verursacht Zerstörung.
Dies gilt auch für den Part einer chinesischen Aufrüstung – ihre Ziele müssen benannt werden und die Folgen ebenso. Sie wird nicht dadurch besser, dass sie einer Nato-Aufrüstung nachsteht.
Wenn wir nun mit Distanz auf China schauen: Was hat die Führung in Beijing erreicht, welche Rolle wird das Land im 21. Jahrhundert spielen?
Andreas Seifert: Chinas ökonomische Aufbauleistung verdient Respekt. Und Chinas Interessen müssen international eine Berücksichtigung finden. Der Eindämmungsstrategie durch die USA ist deutlich zu widersprechen. Die positiven Aspekte im chinesischen Aufbaumodell sind vorhanden und gehören auch in der öffentlichen Debatte betont.
Somit ergibt sich für mich als Sinologe auch ein Auftrag, ein differenziertes China-Bild zu befördern, das die Kritik an der VR ernst nimmt und mit ihr umgeht und das umgekehrt auch auf Aspekte hinweisen kann, die auf der Nachrichtenebene verkürzt oder auch falsch dargestellt werden. Auf Aspekte und Ansätze die zukunftsweisend sein können.
Die Aufgaben des 21. Jahrhunderts liegen in der Bewältigung der Klimakatastrophe - grundsätzliche Fragen von Konsum und Wachstum müssen überdacht werden und sind nur in Kooperation aller Menschen lösbar.
China ist eingebettet in die kapitalistische Globalisierung - es ist kein Zuschauer am Rande, der alles richtig macht: Auch China bedient sich nicht selten ausbeuterischer Methoden im Inland, wie in den Niederlassungen seiner Firmen im Ausland und baut seinen Wohlstand auf der Idee des fortschreitenden Wachstums auf. Und auch dies ist im Kopf zu behalten. Eine Kritik an der Globalisierung darf China als Akteur nicht aussparen - wie auch eine Lösung dieser Fragen nicht ohne China möglich ist.
Eine positive Positionierung gegenüber China und eine kritische Haltung gegenüber der von der Kommunistischen Partei vertretenen Politik, schließen sich nicht aus - wie auch die Kritik an China nicht im Reflex mit dem Befürworten der kapitalistischen Weltordnung gleichzusetzen ist. (Andreas Seifert)