Als Claude Lévi-Strauss in seinem 78. Lebensjahr gefragt wurde, welches Ziel er im Leben nicht erreicht habe, antwortete er:
"Ich hätte mich gern einmal richtig mit einem Tier verständigt. Es ist fast schmerzhaft für mich zu wissen, dass ich nie wirklich herausfinden kann, wie die Materie beschaffen ist oder die Struktur des Universums. Das hätte es für mich bedeutet, mit einem Vogel sprechen zu können. Diese Grenze zu überschreiten, wäre für mich das größte Glück. Wenn Sie mir eine Fee bringen würden, die mir einen Wunsch erfüllt, dann würde ich diesen nennen."
Tatsächlich gilt Lévi-Strauss' Werk dem Bemühen, die Struktur der Wirklichkeit herauszufinden. Dabei musste er, der den Gegensatz zwischen Sein und Wissen überwinden wollte, diesseits der Grenze bleiben und die Struktur des Denkens erforschen. Die Königswissenschaft auf diesem Weg war nicht die Philosophie, die er studiert hatte, sondern die Ethnologie, die Lehre vom wilden Denken. Seit den Reisen zu den brasilianischen Indianern, die er in dem Bericht "Traurige Tropen" rekonstruierte, hat der Vater des Strukturalismus diesen Ansatz stets weiterentwickelt und neu erprobt. Seine an Roman Jakobsons linguistischen Erkenntnissen geschulte Analysemethode wandte er nicht nur auf die schriftlosen Völker an, sondern auch auf die uns umgebende Zivilisation.
"Früher wandte man sich an die Ethnologie, um Bräuche zu interpretieren, deren Sinn man nicht mehr kannte, wie Überbleibsel eines bei den wilden Völkern noch vorhandenen sozialen Zustands. Im Gegensatz zu diesem veralteten Primitivismus haben wir bemerkt, dass Formen sozialen Lebens wieder aktuell werden und im Rückblick Licht auf uns zeitlich oder räumlich entfernte Gesellschaften werfen können. Zwischen den sogenannten komplexen oder entwickelten Gesellschaften und den zu Unrecht primitiv oder archaisch genannten ist die Distanz weniger groß, als man meinen möchte."
Reisen zu den brasilianischen Indianern
Dieser Grundgedanke steht nicht etwa in einem von Lévi-Strauss' Hauptwerken, sondern in einem Artikel anlässlich des Todes von Lady Diana, deren Bruder, Earl Spencer, sich anbot, ihre Söhne in einem besseren Geist zu erziehen als die englische Königsfamilie. Lévi-Strauss erkennt darin die Institution der sozialen Vaterschaft des Onkels mütterlicherseits wieder, die er in seiner "Strukturalen Anthropologie" untersucht hatte.
Im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts hat er für die italienische Zeitung "La Repubblica" sechzehn solcher kleinen, brillanten Essays verfasst, die nun in einem Band zu lesen sind. Ob Rinderwahnsinn oder assistierte Fortpflanzung, die Funktion von Schmuck oder die Rolle des Künstlers: Lévi-Strauss erweist sich als ebenso gründlicher wie souveräner Deuter kultureller und sozialer Phänomene. Dabei entlarvt er den Versuch, in der menschlichen Kultur nach Ursprünglichkeit - nichts anderes bedeutet ja Primitivität - oder gar nach einer vorgängigen Natur zu suchen, als naiv und paradox. Lévi-Strauss' Methode der Mythenlektüre und Analogiebildung weist einen Weg aus dem Dilemma:
"Der versperrte Horizont öffnet sich, sobald man irgendwo ein Ensemble entdeckt, dem dasjenige, das man zu verstehen sucht, wie in einem Modell nachgebildet ist. Man braucht sich nicht länger zu fragen, wie es entstehen konnte, da es bereits da war."
Von Toten, die als Bedrohung wiederkehren
Besonders eindringlich zeigt dies ein die Sammlung einleitender, älterer Artikel zum Weihnachtsmann. In einer fulminanten Analyse leitet Lévi-Strauss diese Figur nicht nur aus den römischen Saturnalien und mittelalterlichen Gebräuchen ab, sondern auch aus einem indianischen Ritus, in dem die Erwachsenen den Kindern in Masken erschienen. Hier kommt den unwissenden, nicht initiierten Kindern der Status der Anderen zu, ebenso wie den Fremden, Armen und Untergebenen, die am Fest teilhaben. Mehr noch, diese andere Seite steht - wie die verkleideten Kinder an Halloween - für die Toten, die jeden Herbst als Bedrohung wiederkehren und sich nach der Wintersonnenwende, bewirtet und beschenkt, wieder verabschieden. Beunruhigender sind Lévi-Strauss' Überlegungen zur Organspende und zur tierischen Nahrung, die in die These des Titelaufsatzes münden: "Wir sind alle Kannibalen".
"Der Tag wird kommen, an dem der Gedanke, dass die Menschen der Vergangenheit zu ihrer Ernährung Lebewesen züchteten und abschlachteten und ihr Fleisch in gefälligen Portionen in Schaufenstern ausstellten, sicher den gleichen Widerwillen einflößen wird wie die kannibalischen Mahlzeiten der amerikanischen, ozeanischen oder afrikanischen Wilden."
Lévi-Strauss betont, dass jedes Wertesystem - auch das unsere - Achtung verdient und jede Kultur das gleiche Recht auf ihr Brauchtum hat. Man hat ihm seinen Relativismus vorgeworfen, der in der Tat, etwa bei der neutralen Betrachtung der weiblichen Beschneidung, kaum erträglich ist. Sein unbestechlicher Blick ist jedoch besonders hilfreich in einer Zeit, in der allenthalben Respekt und Toleranz gepredigt wird, zugleich aber jede Betonung von Unterschieden unter dem Verdacht der Diskriminierung steht. Ein Artikel, in dem Lévi-Strauss 1991 sein eigenes Buch "Die Luchsgeschichte" ankündigte, ehrt den Genius der amerikanischen Indianer und die Dynamik ihres Denkens, das sich dem Andern zu öffnen imstande war - eine Ursache für ihre Aufgeschlossenheit gegenüber den Weißen, die ihren Kontinent betraten:
"Dies in dem Augenblick einzuräumen, da man sich anschickt, den 500. Jahrestag dessen zu feiern, was ich weniger die Entdeckung als vielmehr die Invasion der Neuen Welt, die brutale Vernichtung ihrer Völker und ihrer Werte nennen würde, ist ein Akt der Reue und der Pietät."
"Wir sind alle Kannibalen" Essays des französischen Ethnologen Claude Lévi-StraussAus dem Französischen von Eva Moldenhauer (Suhrkamp/ Insel) 250 S.