Multiresistente Keime in der Landwirtschaft
Die nächste Pandemie könnte aus dem Hühnerstall kommen
Von Alois Berger
Dicht an dicht gedrängt: Brechen Krankheiten aus, werden alle Masthähnchen mit Antibiotika behandelt. (Symbolfoto) (dpa / Jens Büttner)
Antibiotika in der Tiermast begünstigen die Entstehung gefährlicher Superkeime. Harmlose Krankheiten könnten so wieder zur tödlichen Gefahr werden. Vor dem Rückfall ins medizinische Mittelalter warnen Ärzte. Die Politik aber zögert, Maßnahmen zu ergreifen.
"Reserveantibiotika sind dafür entwickelt worden, Menschenleben zu retten, schwerste Verläufe, Septikämien, Pneumonien schwerster Art, auf Intensivstationen. Dafür sind die da – und nicht, um dafür zu sorgen, dass das Masthähnchen seinen Zweiunddreißigsten, nämlich den Schlachttag, erreicht. Das ist für mich ein Verbrechen." Gerd-Ludwig Meyer ist Nierenarzt in Nienburg in Niedersachsen, da wo das Land flach ist – und geprägt von lang gezogenen Mastställen und Futtersilos. Schweinegürtel sagen die Leute, obwohl hier auch Hühner und Puten gemästet werden.
Am Rande des Schweinegürtels hat Doktor Meyer seine Dialysepraxis. Wenn hier bei irgendjemandem die Antibiotika nicht mehr wirken und die Nieren streiken, dann schicken die Ärzte diese Patienten zu ihm. An den Keimen, die seine Patienten mitbringen, kann Meyer ablesen, was in den Agrarfabriken gerade verwendet wird. "Wir hatten angefangen mit MRSA-Keimen. Das sind Resistenzen, vorzugsweise gegen Penizillin-Präparate. Das ist jetzt rückläufig. Dafür haben wir jetzt mehr Resistenzen gegen Chinolone, Gyrasehemmer, Cephalosporine der dritten und vierten Generation. Warum ist das so? Ganz einfach, weil der Einsatz von Penizillin und Tetracyclin in der Massentierhaltung zurückgegangen ist. Während die Cephalosporine, die ich nannte, die Gyrasehemmer, die ich nannte, deutlich zugenommen haben, und entsprechend haben wir das Resistenzverhalten."
670 Tonnen Antibiotika jährlich für Landwirtschaft
Gerd-Ludwig Meyer kämpft seit Jahren gegen den – wie er es nennt – Missbrauch von Antibiotika. Gut 670 Tonnen werden in Deutschland jedes Jahr in der Landwirtschaft eingesetzt, mehr als in allen Krankenhäusern und Arztpraxen zusammen. 670 Tonnen unserer wichtigsten Notfall-Medizin, gegeben an Tiere, die nach wenigen Wochen oder Monaten geschlachtet werden. 670 Tonnen einer Medizin, die beim Menschen in Milligramm-Dosen verabreicht wird, und die mit jeder Dosis – egal ob bei Mensch oder Tier – ein bisschen an Wirkung verliert.
Am 28. September 1928 entdeckte der britische Wissenschaftler Alexander Fleming einen Schimmelpilz, der Bakterien zerstören kann. Es gelang ihm, die Substanz zu extrahieren: die Geburtsstunde des Penizillin. Die Entdeckung wurde zunächst kaum beachtet. Erst im Zweiten Weltkrieg erkannten Forschende, welche lebensrettende Wirkung in diesem Penizillin steckt. Der gefürchtete Wundbrand zum Beispiel, der in diesen Kriegsjahren bei Soldaten zu unzähligen Amputationen, zu lebenslangem Leiden, zu hunderttausendfachem Tod geführt hatte, er war plötzlich behandelbar. Und selbst die gefürchtete Tuberkulose war nicht mehr in jedem Fall tödlich. Die Entdeckung des Antibiotikums hat die Medizin und das Leben verändert. Doch der Erfolg hat seine Schattenseite. Je mehr Antibiotika verwendet werden, desto häufiger werden Keime unempfindlich und breiten sich dann umso schneller aus. In aufwendigen Verfahren hat die Pharmaindustrie immer neue Antibiotika entwickelt, doch die Anpassung der Keime scheint schneller zu sein.
Rückfall ins medizinische Mittelalter droht
Die Weltgesundheitsorganisation warnt, dass wir den Wettlauf verlieren könnten. Schon heute sterben laut WHO weltweit jedes Jahr 700.000 Menschen an Keimen, gegen die kein Antibiotikum mehr hilft. In Deutschland wird die Zahl auf mehrere tausend geschätzt. Tendenz: steigend. Wenn nichts Einschneidendes passiert, so die WHO, könnte die Zahl der Toten bis 2050 weltweit auf zehn Millionen jährlich ansteigen. Es droht der Rückfall ins medizinische Mittelalter, wo man an banalen Schürfwunden und Blutvergiftung gestorben ist. Vor 20 Jahren ist dem Nienburger Dialysearzt Gerd-Ludwig Meyer zum ersten Mal ein Patient mit multiresistenten Keimen untergekommen. Er kannte das Problem noch gar nicht, musste in der Fachliteratur nachschlagen. Seitdem habe die Zahl solcher Patienten rapide zugenommen, sagt er, bis hin zu Patienten, deren Entzündungen mit 16, 17, 18 verschiedenen Antibiotika nicht in den Griff zu kriegen sind.
Keime finden schnell den Weg zum Menschen
Schnell vermutet er einen Zusammenhang zwischen Massentierhaltung und Antibiotikaresistenzen. Er fängt an, eigene Forschungen zu betreiben. Als im Nachbarort eine Agrarfabrik für 40.000 Hähnchen gebaut wurde, da ist der Nierenarzt mit zwei Assistentinnen losgezogen und hat die Keimbelastung der Umgebung gemessen: Bevor die ersten Hühner kamen – und sechs Wochen später noch einmal. Das Bakterienspektrum habe sich durch die Masthühner deutlich verändert, sagt er, und diese neuen Keime hätten schnell ihren Weg zum Menschen gefunden. "Selbst über Biogemüse, wenn es in der Nachbarschaft angepflanzt wird, gibt es den Nachweis von multiresistenten Keimen, ganz zu schweigen von Lebensmitteln in Billig-Discountern. Da haben wir ja entsprechende Studien gemacht." Der Nierenarzt Meyer weiß, wovon er spricht. Er kennt das Resistenzverhalten von Keimen aus seiner Praxis – und er kennt sich aus in der Landwirtschaft. Bevor er studiert hat, war er selbst Bauer. "Ich selber – als ehemaliger Landwirt – habe Antibiotika gegeben an Schweine, und da stehe ich auch zu. Und das finde ich auch völlig in Ordnung, wenn man ein bestimmtes Krankheitsbild bei den Schweinen hat, und sie dann selektiv und nicht systemisch, wie das in der Geflügelhaltung ist, über die Getränkeversorgung therapiert." Wenn der ganze Stall Antibiotika bekommt, weil ein einziges Tier krank ist, so etwas macht ihn wütend. Und mehr noch, dass dafür auch noch Reserveantibiotika verwendet werden, die bei Menschen für den Notfall vorgesehen sind. Dass das erlaubt ist, das sei ein Verbrechen, sagt Meyer und würde es am liebsten so oft wiederholen, bis er endlich gehört wird. Vor sechs, sieben Jahren, da gab es eine Zeit, in der Meyer das Gefühl hatte, er werde gehört. Er hatte die Initiative Ärzte gegen Massentierhaltung gegründet und wurde von Medien und von Politikern gefragt. Er trat im Landtag auf – und selbst die Bundeskanzlerin schrieb ihm: Das Thema Antibiotika in der Tiermast stehe jetzt ganz oben auf der Liste.
"Da dachte ich, in welchem tollen Land leben wir hier? Du kannst Dinge verändern, mit einer Initiative, nicht unbedingt alleine. Aber das war es dann auch – und danach eigentlich nur noch Schweigen, keine Antworten, nichts."
An zehn von 42 Hähnchen-Lebenstagen Antibiotika
130 Kilometer westlich, im Hühnerstall von Stefan Teepker: 36.000 Küken wuseln durch die 90 Meter lange Halle, flauschige Tiere, gerade einmal zweieinhalb Wochen alt. Noch haben sie reichlich Platz, aber schon in dreieinhalb Wochen werden diese Tiere groß und dick sein, zwei Kilo wiegen und sich kaum noch bewegen können.
Sechs Wochen werden sie dann im eigenen Kot gestanden haben, die Luft wird zum Schneiden sein, der Ammoniakgestank wird ihre Lungen und Hirnhäute reizen – und wenn sie zum Schlachthof transportiert werden, dann werden sie womöglich an zehn von 42 Lebenstagen Antibiotika bekommen haben. Das ist jedenfalls der Durchschnitt in Deutschland. Muss das so sein? Oder kann man Hähnchenmast auch ohne Antibiotika machen? Stefan Teepker: "Ja." Reporter: "Warum machen Sie es dann nicht?" Teepker: "Machen wir ja gelegentlich, klappt nur nicht immer." Reporter: "Im Schnitt werden in Deutschland 90 Prozent aller Hähnchen mit Antibiotika behandelt. Wie kommt das dann?" Teepker: "Ich glaube schon, dass gewisse Management-Faktoren dazu beitragen, dass es ohne geht. Ich glaube aber auch, komplett ohne... Es ist ja immer eine Frage der Verhältnismäßigkeit: Wie viel Verluste haben wir während eines Mastdurchgangs. Und wir müssen immer wieder berücksichtigen, wir haben es hier mit einem Lebewesen zu tun, von Geburt bis zur Schlachtung. Und natürlich mögen für uns 42 Tage wenig sein oder eine kurze Dauer. Aber für das Individuum Geflügel ist das halt ein Leben. Ich glaube schon, dass es einfach vorkommen kann, dass die Tiere krank werden, dann müssen wir halt behandeln."
Glaubt nicht, dass Hähnchenmäster auf Antibiotika verzichten können: Landwirt Stefan Teepker. (Deutschlandradio Kultur / Alois Berger)
Stefan Teepker hat noch zwölf weitere Ställe. Insgesamt mästet er 440.000 Hähnchen pro Durchgang, drei Millionen im Jahr. Er zählt zu den 300 großen Mästern, die die Hälfte des deutschen Marktes bedienen. Die meisten Hühnermäster reden nicht mit Journalisten, schon gar nicht über Antibiotika. Aber der 41-Jährige ist ein freundlicher Mann und er ist Bundesvorsitzender der bäuerlichen Hähnchenerzeuger. Er will sich nicht drücken und ist überzeugt, dass er seinen Hof vorbildlich führt.
Zwei Mal am Tag kontrollieren seine Mitarbeiter die Tierbestände, Meter für Meter, ob es den Tieren gut geht, ob Heizung und Lüftung überall funktionieren und die Fütterung stimmt. Da ließen sich schon viele Probleme vermeiden, sagt Stefan Teepker. Früher hätten sie fünf Mal so viele Antibiotika gebraucht. Nur: Wenn er ein krankes Tier findet, dann gebe es nur einen Weg. "Wenn wir behandeln müssen, dann können wir nicht Einzeltiere behandeln, sondern wenn, dann behandeln wir alle Tiere – und das geht über die Tränke, über das Tränkewasser." Ein krankes und 35.999 gesunde Tiere bekommen dann mehrere Tage lang Antibiotika. Wie oft das vorkommt, das könne er jetzt nicht so genau sagen, meint Teepker, auch nicht, wie viele Antibiotika seine Tiere bekämen. "Das weiß ich nicht, das rechne ich für mich selber nicht aus." Das ist jetzt nicht ganz leicht zu glauben. Schließlich müssen Hähnchenmäster den Behörden melden, wie viel Arzneimittel sie eingesetzt haben. Wer auffällig viel verwendet, der muss eine Pflichtberatung akzeptieren.
Einsatz von Reserveantibiotika ist üblich
Stefan Teepker findet solche Maßnahmen richtig. Alles sei besser als ein Verbot von Antibiotika. Sein Tierarzt Andreas Hemme, der mit in den Stall gekommen ist, findet auch den Einsatz von Reserveantibiotika notwendig. "Wir verschreiben Reserveantibiotika, wir verschreiben Antibiotika, das ist so. Aber letzten Endes müssen wir dafür sorgen, dass die Tiere auch vernünftig aufgezogen werden können und nicht leiden müssen. Und es gibt bestimmte Erkrankungen, wo Tiere schon drunter leiden, richtige Infektionen durchmachen – und da muss man halt auch den Tieren den Zugang zu den Arzneimitteln gewähren."
Dänische Bauern brauchen weniger Antibiotika
Anruf in Kopenhagen, bei Professor Frank Aarestrup vom Dänischen Institut für Lebensmittelforschung. Warum setzen dänische Landwirte so viel weniger Antibiotika ein als deutsche Bauern?
"Das fing vor 25 Jahren an. Damals hat Dänemark Antibiotika als Wachstumsförderer in der Tiermast verboten und den Einsatz damit drastisch reduziert. Außerdem haben wir besonders wichtige Antibiotika komplett aus der Tiermast verbannt, beispielsweise die Cephalosporine. Die wurden bis dahin gar nicht so viel eingesetzt, aber wir haben doch eine drastische Verringerung der Resistenzen festgestellt." Dänemark habe die wissenschaftlichen Erkenntnisse eben in Gesetze gegossen, sagt Professor Aarestrup, in klare Vorschriften und Verbote. Schon wenige Jahre nach Entdeckung des Penizillins nutzten Landwirte diese neue Medizin auch für ihre Tiere – und stellten einen erstaunlichen Nebeneffekt fest: Die Tiere legen schneller Gewicht zu und sind früher schlachtreif. Das hat sich bei den Landwirten weltweit schnell herumgesprochen. Zeitweise wurden 80 Prozent aller Antibiotika als Wachstumsförderer an gesunde Tiere verfüttert. Dänemark hat das 1995 verboten, in Deutschland wurde diese verheerende Praxis erst elf Jahre später durch ein europäisches Gesetz beendet. In vielen Ländern außerhalb Europas werden Antibiotika heute noch als Wachstumsbeschleuniger eingesetzt.
Scharfe Regeln schaden dänischen Landwirten nicht
Professor Aarestrup vermutet, dass auch in Europa mancher Landwirt mehr Antibiotika verwendet als medizinisch notwendig. Dänische Tierärzte dürfen deshalb an der Verschreibung von Antibiotika nichts verdienen. Sie sollen keinen Anreiz haben, mehr zu verordnen als nötig. Deutsche Veterinäre dagegen erzielen oft ein Drittel bis zur Hälfte ihres Einkommens aus dem Verkauf von Antibiotika. Wer mehr verschreibt, verdient mehr. Frank Aarestrup war treibende Kraft hinter den dänischen Maßnahmen. Pharmaindustrie, Tierärzte und Bauernverbände hätten damals den Zusammenbruch der dänischen Fleischindustrie prophezeit, erzählt er und lacht. Heute zählt Dänemark zu den größten Fleischexporteuren der Welt. Die scharfen Regeln haben dem Geschäft nicht geschadet. "Wir sehen die Tendenz: Wenn wir etwas tun, dann verringert sich der Antibiotikaverbrauch, aber danach steigt er doch wieder langsam an. Im Vergleich mit anderen Ländern in Europa verwenden wir immer noch deutlich weniger Antibiotika. Aber wenn man den Druck nicht ständig aufrecht hält, dann gibt es eben Landwirte, die gleich wieder mehr einsetzen."
Schlechte Tierhaltung bedeutet mehr Antibiotika
München, ein Mietshaus direkt an der S-Bahn-Linie. Kein Messingschild an der Klingel, kein Hinweis auf den Verein Soko Tierschutz, der hier sein Büro hat. Der Verein bleibt lieber im Dunkeln. Er hat viele Feinde. In einem der leeren Räume zeigt Vereinsgründer Friedrich Mülln Videos von nächtlichen Streifzügen durch Mastbetriebe: verwackelte Bilder im Taschenlampenlicht.
"Das müsste ein Schweinestall sein, und man sieht halt hier die Stallapotheke, wie sich das nennt. Also: Belacol, ein Antibiotikum. Was haben wir hier? Tylosin. Das ist auch ein Antibiotikum und das wird eben nicht auf der Feinwaage vergeben, sondern das wird halt säckeweise dort gelagert und leider auch säckeweise verabreicht." Friedrich Mülln ist Tierschützer. Aber Tierschutz und Gesundheitsschutz, das lasse sich nicht mehr trennen, sagt er. Die Tiere leiden, weil sie auf engstem Raum zusammengepfercht und auf Hochleistung getrimmt würden – und dann bräuchten sie Medikamente, die eigentlich für die Menschen reserviert sein sollten. "Die Tiere sind aufgrund ihrer Züchtung allein schon genetisch unter Stress, weil sie viel zu schnell wachsen, Schmerzen haben. Die Tiere haben Schlafentzug, weil sie ständig gestört werden in der Masse, nicht ruhen können. Die Tiere kommen teilweise nicht ans Wasser ran und so weiter und so fort. Es ist einfach eine ganz klare Verbindung da: Diese Intensivtierhaltung macht Tiere krank."
Tier- und Gesundheitsschutz lasse sich nicht trennen, sagt Tierschützer Friedrich Mülln. (dpa / Bodo Marks)
Müllns Videoaufnahmen zeigen Mastställe, die ganz anders aussehen als die akkurat gepflegten Hallen bei Hühnermäster Stefan Teepker: verdreckte Futterstellen, Vögel ohne Federn, tote Tiere, die offenbar schon länger da liegen. "Da sind Tierschützer in den Stall reingegangen und haben das gefilmt und fotografiert. Das ist der einzige Weg, wie man an diese Informationen kommt. Weil offiziell geht es nicht. Ein paar Meter weiter war ein Schreibtisch zu sehen, wo eine Notiz draufstand: Achtung, morgen kommt das ZDF, bitte alles schön aufräumen."
Antibiotika werden säckeweise verfüttert
In manchen Ställen haben die Tierschützer versteckte Kameras montiert. Da kann man zuschauen, wie ein Mann in heller Jacke große Mengen eines mehligen Pulvers in die Trinkwasseranlage kippt. "Hier sehen wir einen Landwirt, das ist auch in Baden-Württemberg aufgenommen worden. Hier sehen wir so eine Art Waschbecken-Konstruktion, wo ein Küchenpüriergerät reingehängt ist. Hier auf der anderen Seite sehen wir die Säcke mit den Antibiotika, und jetzt werden die Antibiotika an die Schweine im Stall verabreicht, bis die Tüte eben leer ist. Es wird gehäuft eingefüllt. Man sieht jetzt: Hier liegt jetzt so ein richtiger Haufen. Am Boden sieht man auch alles bedeckt mit dem Antibiotika-Staub. Und da braucht man sich natürlich nicht mehr wundern, dass sich die Keime in diesem Stall an diese Substanz relativ schnell gewöhnen. Und das sind dann die multiresistenten Keime, die ja die größte Bedrohung für unsere Gesundheit im 21. Jahrhundert sind und sein werden."
Mülleimer in einem Schweinemastbetrieb: Voller Antibiotika- und Hormonfläschchen. (picture alliance / blickwinkel / J. S. Peife)
Solch hemdsärmeliger Umgang mit Antibiotika – ohne Messbecher, ohne Waage – ist strafbar. Doch das meiste, was die Filme zeigen, ist vom Gesetz gedeckt: Die qualvolle Enge, der oft schlechte Zustand der Tiere, die Gabe von Reserveantibiotika, alles legal, klagt Friedrich Mülln. Und das hält er für den eigentlichen Skandal.
Ohne Antibiotika auszukommen, kann sich rechnen
Die Reden im Hotel Große Kettler in Bad Laer sind gehalten, die Verträge unterschrieben, jetzt wird mit alkoholfreiem Sekt auf neue Genossenschaft angestoßen. Der Wurstfabrikant Hans-Ewald Reinert und sieben Landwirte wollen gemeinsam Schweinefleischprodukte herstellen, die aus garantiert antibiotikafreier Aufzucht stammen. "Auf der Packung, da wo es der Verbraucher auch ganz schnell erkennen kann, haben wir drei wichtige Punkte: antibiotikafreie Aufzucht, Offenstallhaltung und Regionalität, also sprich: aus westfälischen und niedersächsischen landwirtschaftlichen Betrieben." Mit antibiotikafreier Mast hat Reinert schon etwas Erfahrung. Seit 2019 bezieht er Schweinefleisch aus Dänemark, von dänischen Bauern gleich hinter der Grenze. Der Markt sei da, sagt er, auch in Deutschland. "Wir haben im ersten Jahr 2019 – in einem ersten vollen Geschäftsjahr – gut vier Millionen Euro an Umsatz erzielt. Das ist nicht ganz so viel, wie wir geplant hatten. Wir waren noch euphorischer, aber immerhin vier Millionen. Beim Start-up würde man sagen: immens viel für das erste Geschäftsjahr. Wir haben das dann im Nachhinein natürlich auch noch einmal verprobt mit Marktforschung, nämlich mit denen, die das gekauft haben, mit den Verwendern. Das sind also 800.000 regelmäßige Verwender, die auch immer wieder kaufen. Das ist sozusagen die Kernzielgruppe. Die haben wir auch ein bisschen näher erforscht." Der deutschen Kundschaft, das hat Reinert gelernt, ist neben der Gesundheit auch das Tierwohl wichtig. Deshalb hat er sich in den Kopf gesetzt, dass die Schweine für seine neue Produktionslinie in offenen Ställen gehalten werden müssen, mit mehr Platz als vorgeschrieben, mehr Auslauf und viel frischer Luft. Doch da wollten die dänischen Bauern nicht mehr mitspielen. Ohne Antibiotika gerne, aber die Ställe umbauen, das ging ihnen zu weit.
Planungssicherheit – und ein gutes Gewissen
Also begann der Unternehmer Reinert, deutsche Bauern zu suchen, die mitmachen wollten. Er versprach ihnen, mindestens drei Jahre lang die antibiotikafreien Schweine zu einem festen und fairen Preis abzunehmen. Ein Angebot, über das die Landwirte Rainer Ahmann und Torsten Lange intensiv nachdenken mussten, ehe sie sich darauf einließen. "Ich brauche doppelt so viel Platz für ein Tier. Die Baukosten steigen auch um das Doppelte. Etwas mehr Arbeit habe ich auch mit dem Stall. Ich muss das Stroh einstreuen, jeden Tag. Ich muss sehen, dass das Stroh auch wieder aus dem Stall rauskommt. Reinigungsarbeiten sind mehr. Futter ist halt teurer. Aber wir versuchen halt, durch eine bessere Futterverwertung und gesündere Tiere das wieder reinzuholen." Und wenn doch mal ein Tier krank wird, dann bekommt es Antibiotika, einen Stempel ins Ohr und geht in einen konventionellen Stall. Aber das werde die Ausnahme bleiben, glaubt Christian Nettelnstroth. Der Ferkelzüchter hat sich schon vor Jahren von einer Tiersignaltrainerin fortbilden lassen, um rechtzeitig zu erkennen, wenn ein Tier Probleme hat. "Wir achten auf Haarkleid, auf Ohren, auf Klauen, auf Augen. Wie sieht der Urin aus? Wie sieht der Kot aus? Wie verhalten sie sich? Wo legen sie sich vielleicht hin? Wie müssen wir die Bucht strukturieren, dass wir den Tieren möglichst viel Tierwohl bieten können? Denn Management ist mitentscheidend, wie gut es den Tieren geht." Diese Art der Landwirtschaft sei nicht nur gut für die Tiere, sondern auch für den Bauern. "Man steht da morgens ganz anders, viel zufriedener auf. Mit Spaß steht man auf. Man hat keine Sorgen, was erwartet mich jetzt gleich. Natürlich gibt es immer mal spontane Rückschläge. Aber früher war das dann schon so, dass man eher mit einem mulmigen Gefühl aufgestanden ist. Was erwartet mich? Was ist gerade los im Stall? Und heute? Man steht auf, man hat Spaß da dran."
Umschwenken auf Klasse statt Masse
Wurstfabrikant Reinert betrachtet die Sache nüchterner. Er ist überzeugt, dass sich der Verzicht auf Antibiotika rechnet – und dass genügend Kunden bereit sind, für die eigene Gesundheit und für das Wohl der Tiere mehr Geld auf den Tisch zu legen. "Ich kann jetzt mal sagen: Die Wurst, die habe ich schon kalkuliert. Das Fleisch, da sind wir ja gerade dabei. Aber es wird schon, wenn man ehrlich ist, deutlich teurer. Das sind prozentual, wenn sie es prozentual sehen, zwischen 30 und 40 Prozent mehr." Martin Schulz bugsiert mit einer Kunststoffplatte ein fröhliches Schwein über den Hof. Das Tier hat es geschafft, über das Absperrgitter seines offenen Stalles zu springen und muss jetzt zurück. Schulz ist mit seinen 900 Schweinen da, wo Reinerts Genossenschaft hin will. Seit 20 Jahren hält er die Tiere draußen und drinnen. "Es geht darum, dass die Tiere zwischen zwei Klimabereichen wählen können, und letztendlich geht es darum, dass die Tiere dann gesünder sind."
Seine Schweine haben mehr Platz und dürfen zwischen Außen- und Innenbereich wählen: Landwirt Martin Schulz. (Deutschlandradio Kultur / Alois Berger)
Schulz kommt weitgehend ohne Antibiotika aus. Er hat viel ausprobiert und seine Schweinehaltung immer wieder angepasst. Er ist gerne Bauer, aber der Aufwand sei schon deutlich größer als bei konventioneller Schweinehaltung, räumt er ein. Er kann sich das leisten. "Wir haben uns im Prinzip eine Vermarktung aufgebaut und haben Fleischerfachgeschäfte, die bereit sind, einen höheren Preis zu zahlen – und vor allen Dingen immer den gleichen Preis zu bezahlen. Also nicht dieser typische Schweinezyklus, dass die Preise mal oben, mal unten sind, sondern wir können kalkulieren. Wir haben auch Zeiten, da verdienen die konventionellen besser als wir. Aber dafür haben wir Planbarkeit, sowie: Im Moment haben wir nicht das Problem, dass wir unsere Schweine nicht loswerden und dazu noch einen ganz schlechten Preis kriegen." Früher haben ihn die anderen Bauern schief angeschaut. Was das soll mit diesem offenen Stall und der vielen Arbeit, das lohne sich doch nie. Inzwischen kommen auch Bauern vorbei, die selbst überlegen, ob sie aus der industriellen Tierhaltung aussteigen wollen. Aber das sei nicht so leicht, sagt Schulz. Viele Bauern hätten investiert, hätten Kredite aufgenommen, die sie noch Jahre zurückzahlen müssten.
"Als die Bauern ihre Ställe gebaut haben, da ist ihnen vom Bauernverband, aber auch von der Politik, das muss man auch sagen, von der Politik gesagt worden, wir müssen die Welt ernähren. Der asiatische Markt wird brummen, und ihr müsst nur billiger erzeugen können als die Dänen oder die Holländer oder die Spanier, und dann liegt euch die Welt zu Füßen." Also haben die einen ausgebaut, um als Großbetrieb billiger zu werden, die anderen haben aufgegeben. Schweinemäster wie Martin Schulz im Wendland, mit seinem eher kleinen Hof und seinem eigenen Kopf, sind heute die Ausnahme. Ein bis zwei Prozent des deutschen Fleisches werden ohne oder fast ohne Antibiotika produziert.
Großteil des Billig-Fleisches hat antibiotikaresistente Keime
Berlin, Stresemannstraße, ein Büro mit Aussicht auf Bürohäuser: Hier arbeitet Reinhild Benning als Agrarexpertin für die Umweltorganisation Germanwatch. Neben ihrem Schreibtisch steht eine Reihe blauer Kühlboxen, die sie für ihre letzte Studie gebraucht hat.
"Wir sind in Discounter gegangen, haben Billigfleisch eingekauft, wie Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher es täglich tun, und haben dieses Fleisch ins Labor gesendet. Dabei haben wir auf 56 Prozent der Hähnchenfleisch-Proben aus Discountern in Deutschland antibiotikaresistente Keime gefunden. Und von diesen Keim-Kontaminationen waren 30 Prozent Resistenzen gegen Reserve-Antibiotika." Germanwatch kritisiert seit Jahren den Antibiotikaeinsatz in der Landwirtschaft. Die Maßnahmen der Regierung, meint Reinhild Benning, seien bestenfalls halbherzig.
Wurden bei der Mast Antibiotika verwendet? – Verbraucher können das nicht wissen. Eine Kennzeichnungspflicht gibt es nicht. (picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
Am 1. April 2014 trat das erste Antibiotika-Minimierungskonzept der Bundesregierung in Kraft. Seitdem wird der Antibiotikaeinsatz genauer erfasst, die Beratung der Bauern wurde verbessert und die Berichtspflicht verschärft. Die verwendete Menge ist dadurch um ein Drittel zurückgegangen, liegt aber mit 670 Tonnen immer noch über dem Verbrauch der Humanmedizin. Und: Die Landwirtschaft setzt weiter Reserveantibiotika ein, die beim Menschen nur im äußersten Notfall zum Einsatz kommen sollten. Bei Schweinen werden heute weniger Medikamente eingesetzt, bestätigt Reinhild Benning, doch bei Hühnern, Puten und Mastkälbern habe sich nichts geändert. "Hier konnte das Antibiotika- Minimierungsprogramm der Bundesregierung überhaupt keinen Effekt auslösen. Und das heißt im Grunde: Hier versagen die staatlichen Maßnahmen."
Eine beunruhigende Diagnose. Denn gerade bei Geflügel findet derzeit ein rasanter Strukturwandel statt. Jedes Jahr geben vier bis fünf Prozent der Geflügelmäster auf, meist kleine Höfe, die mit den Billigpreisen der Agrarfabriken nicht mithalten können. Den Markt übernehmen die Großen, die noch größere Ställe anbauen: Ställe, die ohne Antibiotika nicht zu betreiben sind. 40 Prozent der dort eingesetzten Antibiotika sind laut Germanwatch Reserveantibiotika.
Politik schaut weitgehend tatenlos zu
Noch sind es erst fünf bis 15 Prozent der resistenten Krankenhauskeime, die aus der Landwirtschaft stammen. Doch niemand weiß, wann und wo der Superkeim entsteht, der dann nicht mehr zu stoppen ist. Und die Regierung zaudert. Niemand möchte sich mit der Agrarlobby anlegen. Eine Interviewanfrage beim Gesundheitsminister kommt postwendend zurück: Bitte wenden Sie sich an das zuständige Bundesministerium für Landwirtschaft.
Drastische Maßnahmen sind von ihr nicht zu erwarten: Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner. (dpa / Kay Nietfeld)
Von dort kommen auf unsere schriftlichen Fragen lange und gewundene Antworten von Ministerin Julia Klöckner, die eines deutlich machen: Die Gefahren und auch die Dramatik der Antibiotikaresistenzen sind der Ministerin bekannt. "Wir wollen die Anwendung von Antibiotika verringern, um Resistenzen auch zu verhindern. Deshalb gibt es eine deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie. Dort werden unter anderem alternative Therapien entwickelt, und die Diagnostik von Resistenzen verbessert. Denn dahinter steht ja ein verknüpfender Gedanke, dass Veterinär- und Humanmedizin eng zusammenarbeiten müssen. Das ist der sogenannte One-Health-Ansatz." Drastische Maßnahmen sind von der Agrarministerin nicht zu erwarten. Eine Vorschrift etwa, dass nur noch Einzeltiere und nicht der ganze Stall behandelt werden dürften oder gar ein generelles Verbot von Reserveantibiotika für Tiere, so etwas kommt für Julia Klöckner nicht infrage. "Bei allem darf man nicht vergessen, dass kranke Tiere wie auch beim Menschen angemessen behandelt werden müssen. Das kann auch dazu führen, dass man Antibiotika verschreiben muss. Das ist Vorschrift im Sinne des Tierschutzes, dem Tier auch zu helfen."
Verantwortung wird an Verbraucher weitergereicht
Antibiotika aus Gründen des Tierschutzes. Aber ist es nicht anders rum? Je mehr Antibiotika in einem Stall eingesetzt werden, desto schlechter geht es den Tieren dort. Ohne Antibiotika müssten Landwirte ihre Tiere so halten, dass sie nicht krank werden. Dass das geht, dafür gibt es Beispiele. Gute Landwirte wissen, wie man Tiere gesund hält. Eine solche Tiermast ist aufwendiger und teurer, aber möglich. Und wenn niemand Antibiotika verwenden darf, dann verlieren Agrarfabriken ihren Kostenvorteil, dann könnten auch die kleineren Höfe wieder mithalten. Natürlich würde Fleisch teurer werden. Um 30 bis 40 Prozent, wie der Wurstfabrikant Reinert vorrechnet. Höhere Fleischpreise, das fordern Landwirte, Bauernverband und die Landwirtschaftsministerin schon lange. Wir müssten wieder lernen, den Wert des Fleisches zu schätzen, meinte Julia Klöckner erst kürzlich wieder, die Verbraucher sollten beim Einkauf nicht zum Billigfleisch greifen. Jutta Jaksche von der Bundesverbraucherzentrale findet das eine seltsame Sicht der Dinge. Fragen der Antibiotikaresistenzen und des Tierschutzes müssten von der gesamten Gesellschaft beantwortet werden und nicht von den Kunden in der Metzgerei.
"Man kann doch nicht dem Verbraucher überlassen, wie die Produktionsbedingungen in den Ställen sind. Wenn ich ein Auto kaufe, kann ich auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wie der Lack auf das Auto gekommen ist – und ob das gesundheitsschädliche Wirkung hätte. Da muss es ein Regelwerk geben. Und so ist es natürlich auch wichtig, gerade bei Antibiotika, bei diesem sehr großen weltumspannenden Problem, muss man ja wirklich sagen." Woher solle der Verbraucher wissen, bei welchem Fleisch Antibiotika eingesetzt wurde und bei welchem nicht, wettert die Verbraucherschützerin. Es gebe ja nicht mal eine Kennzeichnungspflicht: Dieses Fleisch wurde mit Hilfe von Antibiotika hergestellt. "Die Politik sitzt quasi ihr eigenes Versagen aus und beschuldigt den Verbraucher." Der Nierenarzt Gerd-Ludwig Meyer sieht das genauso. Die Fakten lägen auf dem Tisch, sagt er, das Problem sei ausreichend untersucht. Was der massenhafte Einsatz von Antibiotika anrichte, das könne er jeden Tag in seiner Dialysepraxis sehen. "Die Resistenzen sind für mich kein wissenschaftliches Problem. Man braucht diese ganzen teuren Arbeitsgemeinschaften nicht. Ich habe an vielen teilgenommen. Wir brauchen Politiker, die auf Deutsch gesagt den Mut haben, Verbote auszusprechen."
Autor: Alois Berger Sprecherin und Sprecher: Bettina Kurth, Tilmar Kuhn und Ralf bei der Kellen Regie: Stefanie Lazai Technik: Jan Fraune Redaktion: Martin Mair
Kritik an Fleischproduktion - "In Rekordzeit mit Wasser und Antibiotika hochgemästet"
Medikamentenforschung - Das Dilemma der Antibiotika(Deutschlandfunk Kultur, Interview, 16.09.2019)
Resistente Keime und Erreger - Wie Forscher neue Antibiotika aufspüren(Deutschlandfunk Kultur, Zeitfragen, 05.09.2019)