Schön, dass ihr da seid! Literatur

Bakterien

Schön, dass ihr da seid!

Bakterien sind unsere Freunde, so lautet die neue Devise in der Medizin. Spektakuläre Entdeckungen nähren die Hoffnung auf Therapien für Krankheiten, die bislang nicht behandelbar waren.

Pestbakterien in New Yorker U-Bahnen, resistente Superkeime in deutschen Unikliniken, Tuberkuloseerreger auf dem Vormarsch: Das sind nur einige Schreckensnachrichten, die wir fast täglich lesen. Und nicht nur Infektionen und Seuchen sind das Werk der Kleinstlebewesen: Auch bei Diabetes, Herzkrankheiten, Krebs, Übergewicht, Autismus und Depressionen mischen sie mit. Bakterien, so der naheliegende Schluss, sind gefährlich, eklig und überflüssig – also weg damit.Eine putzige Idee. Die wahren Machtverhältnisse verkennt sie allerdings. Denn beherrscht wird unser Planet nicht etwa vom Menschen, sondern letztlich wohl von den winzig kleinen Lebewesen. Ohne Mikroskop bleiben sie dem menschlichen Auge verborgen, zehntausend von ihnen sind gerade einmal so groß wie ein Stecknadelkopf. Die Bakterien waren schon lange vor uns auf der Welt, sie schufen die sauerstoffhaltige Atmosphäre, ohne die wir nicht existieren könnten, und bis heute sind sie die Grundlage allen Lebens. Ihre Anzahl ist gewaltig, wie das Beispiel Mensch zeigt: Sein Körper besteht aus etwa zehn Billionen Zellen, aber auf und in ihm tummeln sich noch zehn Mal so viele Bakterien. Allein die Darmbakterien bringen annähernd zwei Kilogramm auf die Waage, das ist mehr als ein menschliches Gehirn wiegt. Näher erforscht sind nur wenige Tausend Spezies. Bis zu 99 Prozent aller Bakterienarten, so schätzen Fachleute, sind noch nicht beschrieben.

Zoom

Bessere Technik liefert neue Einblicke

Mittels moderner Sequenzierverfahren haben Forscher viele neue Erkenntisse über Bakterien gewonnen, sagt Till Strowig vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Bild: Hallbauer/Fioretti

Derzeit erlebt die Bakterienforschung einen nie dagewesenen Boom. „Vor fünf Jahren konnte ich die Literatur auf meinem Gebiet noch gut verfolgen“, sagt Till Strowig, der Leiter der Nachwuchsgruppe Mikrobielle Immunregulation am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Inzwischen jedoch sei die Zahl der Neuveröffentlichungen kaum mehr zu überblicken, berichtet der Braunschweiger Forscher. Möglich wird der rasante Erkenntniszuwachs durch moderne Hochdurchsatz- Sequenzierverfahren. Mit ihnen lässt sich nicht nur das Erbgut bislang unbekannter Mikroorganismen schnell und kostengünstig entziffern, sie liefern auch einen Einblick in die Funktionsweise großer Mikrobengemeinschaften.

Schrittmacher des Fortschritts sind spektakuläre Großprojekte wie das Humane Mikrobiomprojekt (HMP), das die Besiedlung des Menschen mit Mikroorganismen untersucht. Es begann im Jahr 2008 und schon die ersten Ergebnisse – sie erschienen 2012 in renommierten Wissenschaftsmagazinen wie Nature – machten weltweit Schlagzeilen. Auf und im Körper des Menschen leben demnach mehr als 10.000 verschiedene Bakterienarten, allein in einem Gramm Darminhalt wimmeln bis zu eine Billion Kleinstlebewesen. In den einzelnen Organen fanden die HMP-Forscher ganz unterschiedliche Mikrobengemeinschaften – mit enormer Artenvielfalt im Darm und auf den Zähnen und einer auffallend geringen Diversität in der Vagina.

Mensch und Mikrobe sind derart eng miteinander verwoben, dass manche von einem Superorganismus sprechen

Zusammen besitzen alle Bakterien des Menschen etwa acht Millionen Gene – der Mensch selbst verfügt nur über 22.000 solcher Erbanlagen. Nun wird untersucht, wie sich das Mikrobiom eines Menschen – also alle in und auf ihm lebenden Mikroorganismen – im Lauf des Lebens verändert und welche Rolle es fürs Gesundbleiben und Krankwerden spielt.

Rekorde

Das älteste Lebewesen der Erde ist ein Bakterium namens Bacillus permians: Es ist schätzungsweise 250 Millionen Jahre alt und wurde im Jahr 2000 in einer Höhle in New Mexico entdeckt. In einer Nährlösung begann es wieder zu wachsen.

Das bisher größte Bakterium ist die sogenannte Schwefelperle von Namibia (Thiomargarita namibiensis). Mit einem Durchmesser von bis zu 0,75 Millimetern ist der Einzeller mit bloßem Auge sichtbar.

Temperaturweltrekordler ist Pyrolobus fumarii. Das Bakterium gedeiht bei Temperaturen von bis zu 113 Grad Celsius. Sinkt die Temperatur unter 90 Grad, kann es sich nicht mehr vermehren – es ist ihm einfach zu kalt.

Bakterien der Art Clostridium botulinum produzieren die stärksten bekannten Gifte. Die tödliche Dosis liegt bei 0,4 Nanogramm, mit einem Kilogramm könnte man die gesamte Menschheit auslöschen.

Beim Zungenkuss werden rund 80 Millionen Bakterien übertragen.

Extrem strahlenresistent ist das Bakterium Deinococcus radiodurans. Es übersteht sogar Megadosen von 10.000 Gray – ein Mensch würde bei 10 Gray sterben. Deinococcus radiodurans wurde in der Antarktis entdeckt, es kommt aber auch im Kühlwasser von Kernkraftwerken und im menschlichen Darm vor.

Ohne Bakterien, das belegt die Forschung immer wieder eindrucksvoll, könnte der Körper nicht funktionieren. Sie versorgen ihn mit Nährstoffen und Vitaminen, entsorgen den Rest und schützen ihren Gastgeber vor allerlei Krankheiten. Ihre nützlichen Dienste versehen die Winzlinge sogar in Organen wie der Lunge, die früher als steril galt. Überraschend ist auch die Anhänglichkeit der kleinen Lebewesen: So bleibt das Muster der Darmbesiedlung über viele Jahre erstaunlich stabil, wie eine im Fachblatt Science erschienene Studie zeigte.

Mensch und Mikrobe scheinen derart eng miteinander verwoben zu sein, dass manche schon von einem Superorganismus sprechen. Wer bin ich und, wenn ja, wie viele, fragte flapsig ein philosophischer Bestseller vor einigen Jahren. Noch mehr, antwortet die Bakterienforschung und zählt munter weiter.

Mit dem neuen Blick auf die Welt der Kleinstlebewesen verändert sich deren Einschätzung. Früher wurde vor allem das Negative betont, wurden sie als „feindliche Keime“ gesehen. Heute rückt das Positive und Nützliche in den Fokus. Bakterien sind unsere Freunde, heißt die neue Losung. Und was heute noch keine Freundschaft ist, kann schon morgen eine werden. Ein Beispiel dafür sind Bakterien der Gattung Clostridium, die im Boden und im Verdauungstrakt höherer Lebewesen vorkommen. Sie können dem Menschen schaden, lassen sich aber auch geschickt für seine Zwecke einspannen – etwa in der Krebstherapie. So gelang es USMedizinern im vergangenen Jahr, Tumore durch die Injektion von genetisch entschärften Clostridium novyi-Bakterien zum Schrumpfen zu bringen. Diese Bakterienart findet sich praktisch überall und kann die tödliche Infektionskrankheit Gasbrand auslösen. Für ihr Wachstum braucht sie exakt die sauerstoffarme Umgebung, die im Inneren eines Krebsknotens vorherrscht. Nachdem sich die Behandlungsoption in Tierversuchen bewährt hatte, wandten die Forscher sie bei einer Frau mit einem fortgeschrittenen Tumor der Muskulatur an. Sie entwickelte zwar Fieber und eine starke Entzündung, doch der Krebs ging zurück. Vermutlich töten die Bakterien die Tumorzellen ab und rufen zusätzlich eine Abwehrreaktion des Immunsystems hervor, spekulieren die Mediziner. Bewährt sich ihr Verfahren in größeren Studien, könnte es künftig klassische Verfahren wie Chemo- und Strahlentherapie ergänzen.

Am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin ist derzeit eine weitere Bakterientherapie im Test. Dabei wird ein Gen des Bakteriums Clostridium perfringens – es kann Lebensmittelvergiftungen auslösen – in Tumore der Bauchspeicheldrüse gespritzt. Das Gen enthält den Bauplan für einen bakteriellen Giftstoff, der in der Krebszelle produziert werden soll, um anschließend ihre Hülle zu zerlöchern und ihren Tod einzuleiten. Die Ergebnisse erster Tierversuche seien sehr ermutigend, berichtet der Studienleiter Wolfgang Walther. Binnen Kurzem seien die Tumore geschrumpft, das Krebsgewebe habe sich zersetzt. Eines Tages, hofft Walther, könnte seine Gentherapie während oder nach einer Operation helfen, letzte Tumorreste zu beseitigen. Und das nicht nur beim Bauchspeicheldrüsenkrebs, sondern auch bei Darmkrebs.

Schön, dass ihr da seid! Literatur

Gegen die Art Clostridium difficile hat die Medizin noch wenig in der Hand. Beim Menschen können sich die robusten Keime, die zur normalen Darmflora gehören, nach einer Antibiotikatherapie massenhaft vermehren und chronische Durchfälle hervorrufen. Eine neuartige biologische Therapie schlagen Wissenschaftler am European Molecular Biology Laboratory Hamburg vor: Dabei würden gentechnisch veränderte Bakteriophagen, das sind Viren, die nur Bakterien befallen, die Problemkeime entern, sie von innen perforieren und letztlich aufplatzen lassen. Die interessante Idee aus der Grundlagenforschung ist allerdings noch weit von einer Anwendung in der Praxis entfernt.

Erstaunliche Erfolge erzielen Ärzte bei diesen Durchfallpatienten heute bereits mit Stuhltransplantationen. Betroffene, bei denen alle sonstigen Therapien versagen, erhalten dabei kleine Mengen des Stuhls gesunder Spender mitsamt deren Darmbakterien. Fast immer siedeln sich die transplantierten Organismen an und weisen die Clostridium difficile-Mikroben in gesunde Schranken – die Methode kann bei mehr als 90 Prozent der Patienten den Durchfall kurieren, wie eine Studie mit zuvor vergeblich medikamentös Behandelten zeigte. Es gibt bereits Stuhlbanken, um den Zugang zu Proben von infektiologisch voruntersuchten Spendern zu erleichtern. Aber noch ist die Therapie Einzelfällen vorbehalten. Schließlich ist das Verfahren relativ neu, Therapiestandards fehlen und die Langzeitfolgen sind bislang unklar. Zur Wachsamkeit mahnt jedenfalls ein Fall in den Vereinigten Staaten: Dort nahm eine zuvor normalgewichtige Patientin, die Stuhl von ihrer gesunden, aber fettleibigen Tochter erhalten hatte, nach der Transplantation stark zu und trotz entschiedener Abmagerungsversuche auch nicht wieder ab. Zwar sind die genauen Zusammenhänge noch nicht bekannt; in der behandelnden Klinik verwende man seither nur noch Stuhltransplantate von Personen ohne Übergewicht, berichteten die Autoren der Fallstudie unlängst.

Historisches

1677 beschrieb der Niederländer Antoni van Leeuwenhoek erstmals von ihm mikroskopisch beobachtete Bakterien.

1876 entdeckte Robert Koch den Milzbranderreger Bacillus anthracis, 1882 den Schwindsuchtkeim Mycobacterium tuberculosis.

1928 begann Alexander Fleming mit der Entwicklung des keimtötenden Antibiotikums Penicillin.

1983 fanden die Australier Barry Marshall und John Robin Warren heraus, dass Helicobacter pylori Magengeschwüre verursacht.

Zoom

Modernes Lesegerät

Michael Schloter an einem Sequenzierer, mit dem man sehr große Mengen DNA in kurzer Zeit entschlüsseln kann. Bild: Petra Nehrmeyer/Helmholtz Zentrum München

„Wir stehen am Anfang einer ganz neuen Entwicklung und vieles muss sich erst noch weisen“, sagt Michael Schloter, der Leiter der Abteilung Umweltgenomik am Helmholtz Zentrum München. Als der gelernte Pflanzen- und Bodenmikrobiologe seine Laufbahn vor zwanzig Jahren begann, hatte er es nur gelegentlich mit medizinischen Fragen zu tun. Das habe sich gründlich geändert, berichtet Schloter, heute betrachte man ökologische und gesundheitliche Aspekte zusammen. Eine folgerichtige Entwicklung, denn der Mensch sei für Mikroorganismen eines von vielen Ökosystemen, über deren Grenzen hinweg sie unentwegt miteinander kommunizieren. „Die Mikrobiome von Menschen, Tieren oder Pflanzen tauschen sich ständig aus – das passiert praktisch bei jedem Atemzug und bei jedem Händedruck“, sagt der Wissenschaftler. Dabei seien bestimmte Interaktionsmuster zu beobachten, die man allerdings erst ansatzweise verstehe.

Was Michael Schloter in München, Till Strowig in Braunschweig und viele ihrer Fachkollegen weltweit eint, ist der Versuch, das sogenannte Kernmikrobiom exakt zu beschreiben. Unter diesem Begriff versteht man die mikrobielle Mindestausstattung, die ein Ökosystem braucht, um passabel zu funktionieren. „Im Pflanzenbereich sind wir schon sehr weit“, sagt Schloter, „beim Menschen stehen wir aber noch am Anfang.“ Ziel sei es herauszufinden, wie Geschlecht, Alter, Herkunft und Lebenswandel das Kernmikrobiom beeinflussen. Mit diesem Wissen lassen sich künftig vielleicht individuelle Mangelzustände ermitteln und ausgleichen. Für die Medizin eröffnet das genauso neue Perspektiven wie für die Lebensmittelindustrie: Einige Konzerne forschen bereits intensiv auf diesem Feld.

Große Visionen geben Kraft für das Kleinklein des Laboralltags. Der wird in nächster Zeit um zwei Fragen kreisen: Mit welchen Organismen haben wir es zu tun? Und was können sie? Von den richtigen Antworten hänge viel ab, sagt US-Infektiologin Katherine Lemon vom Forsyth Institute in Washington: „Wie man eine Lebensgemeinschaft stört, wissen wir; wie wir sie wieder in einen gesunden Zustand versetzen, müssen wir noch lernen."

Literatur

Bernhard Kegel: Die Herrscher der Welt. Wie Mikroben unser Leben bestimmen, DuMont Buchverlag, Köln 2015

Hanno Charisius, Richard Friebe: Bund fürs Leben. Warum Bakterien unsere Freunde sind, Carl Hanser Verlag, München 2014

Giulia Enders: Darm mit Charme. Alles über ein unterschätztes Organ, Ullstein Buchverlage, Berlin 2014

Gerhard Gottschalk: Welt der Bakterien. Die unsichtbaren Beherrscher unseres Planeten, Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2009

Dieser Text ist ein Artikels aus unserem Forschungsmagazin Helmholtz Perspektiven, Ausgabe März/April 2015. Lesen Sie dazu auch das thematisch passende Interview mit Hauke Herms über die neuen Möglichkeiten der Bakterienforschung „Wir können der Natur bei der Arbeit zuschauen"

30.04.2015 , Lilo Berg

Weitere Artikel in dieser Kategorie

Ingenieurin der Abwehr

Salz in die Wunde

„Häufig haben wir das Nachsehen“

Alle Artikel aus dem Themengebiet