Am 4. März 1918 erkrankte der Geflügelzüchter Albert Gitchell aus Kansas mit grippeähnlichen Symptomen. Einige Tage später wurde er als Koch in das Ausbildungscamp der Armee in Funston abkommandiert. Dort warteten 55.000 Soldaten auf die Verschiffung nach Europa.
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Innerhalb von drei Wochen nach Ankunft des Geflügelzüchters waren 1100 Rekruten an einer schweren Atemwegsinfektion erkrankt und 38 gestorben. Es gibt zwar auch andere plausible Hypothesen zum Ursprung der Epidemie.
Aber der Mann aus Kansas – oder zumindest jemand aus seinem Umfeld, bei dem er sich angesteckt haben könnte – könnte der „Patient null“ der durch die Variante H1N1 des Influenza-A-Virus verursachten Pandemie gewesen sein, die unter dem Namen Spanische Grippe die Welt in Panik versetzte. Zumindest ist seiner der erste offiziell dokumentierte Fall.
Spanische Grippe: Mehr als eine Milliarde Infizierte
Im Laufe des Aprils hatte sich das H1N1-Virus im gesamten Mittelwesten der USA ausgebreitet. Die Städte an der Ostküste, von denen aus die Soldaten nach Europa verschifft wurden, waren zunehmend betroffen.
Die französischen Hafenstädte, in denen die amerikanischen Truppen anlandeten, meldeten die ersten Fälle. Mitte April hatte H1N1 die Schützengräben an der Front erreicht. Eine Woche später wurde dem obersten Hygieniker der deutschen Armee, dem Generalarzt Richard Pfeiffer, eine „Blitzkatarrh“-Epidemie von der Westfront gemeldet.
Mitte Mai erreichte das Virus Italien und Spanien. Da nur in Spanien über die Epidemie berichtet wurde (in den anderen Ländern unterdrückte die Zensur die Pressefreiheit) und weil der spanische König Alfons XIII. und Regierungsmitglieder schwer erkrankten, bekam die Krankheit den Namen Spanische Grippe.
Mit den mehreren Hunderttausend heimkehrenden Soldaten erreichte H1N1 Kanada, Australien und Indien und gelangte über Südostasien nach China und Japan. Innerhalb von zwei Jahren hatten sich von Lappland bis nach Samoa und von Alaska bis nach Feuerland mehr als eine Milliarde Menschen mit H1N1 angesteckt. Zwischen 2,5 und fünf Prozent der Weltbevölkerung starben daran.
Kurve in Form des Matterhorns
In den Großstädten der USA ging man unterschiedlich mit der Spanischen Grippe um. In Philadelphia wurde am 17. September der erste Influenzafall dokumentiert. Elf Tage später fand die lange geplante „Liberty Loan Parade“ statt, die die Amerikaner mobilisieren sollte, Schuldverschreibungen der Regierung zu kaufen, um die Kriegskosten zu finanzieren. In zeitgenössischen Bildern sieht man, wie Tausende Menschen, dicht an dicht stehend, den Truppen zujubeln.
Nach einer Woche waren rund 45.000 Einwohner an Grippe erkrankt. Sechs Wochen später waren 12000 Menschen gestorben. Zeichnet man die Zahl der Erkrankungsfälle auf einer Zeitachse auf, so gleicht die Kurve etwa der Form des Matterhorns.
Nach St. Louis, im Süden der USA, kam die Influenza-Grippe drei Wochen später. Binnen weniger Tage verhängte die städtische Gesundheitsbehörde Quarantänemaßnahmen: Schulen, Schwimmbäder und andere öffentliche Einrichtungen wurden geschlossen. Es galt ein striktes Versammlungsverbot. Die Zahl der Erkrankungen stieg nur langsam an, und die Epidemiekurve erinnert an eine breit auslaufende Sanddüne. Die Todesfallrate war nur halb so hoch wie die in Philadelphia.
HIV - ein Virus, das Prostitution auszunutzen weiß
Ortswechsel, aber fast zur gleichen Zeit: In den frühen 1920er Jahren nahm ein Bewohner eines Dorfes im Südkamerun – vermutlich ein junger Mann auf der Suche nach Arbeit im prosperierenden Kongo – das Flussboot nach Leopoldville, dem heutigen Kinshasa. In seinem Körper trug er, ohne etwas davon zu wissen, das Simian Immunodeficiency Virus (SIV), den Stammvater aller AIDS-Viren.
Leopoldville war damals das wirtschaftliche Zentrum Zentralafrikas. Die Stadt war über eine Eisenbahn mit der Hafenstadt Pointe-Noire im französischen Kongo verbunden und mit Mbuji-Mayi und Elisabethville (dem heutigen Lubumbashi) im äußersten Süden des Landes.
Welche Art von Arbeit der junge Mann aus Kamerun in Leopoldville fand, wissen wir nicht. Sehr wahrscheinlich ist, dass er – bevor er an einer Krankheit verstarb, die im „Rauschen“ tödlicher Tropenkrankheiten nicht weiter auffiel – regelmäßig Sex hatte. Dabei übertrug er die Urform von HIV, die durch Mutationen aus dem Affenvirus entstanden war.
Explosive Zunahme von Geschlechtskrankheiten
Prostitution war in Leopoldville weit verbreitet und führte in den 1930er Jahren zu einer explosiven Zunahme von Geschlechtskrankheiten. Das rief die koloniale Gesundheitsbehörde auf den Plan. Für die Behandlung der Erkrankten kamen auch Medikamenten-Injektionen zum Einsatz. Spritzen und Kanülen wurden immer wieder verwendet, ohne sie vorher zu sterilisieren.
In der Folge entstand eine Epidemie von infektiöser Gelbsucht, verursacht durch das Hepatitis B-Virus, eine Virusinfektion, die an der gelben Verfärbung der Haut leicht zu erkennen war. Nicht zu erkennen dagegen war die gleichzeitige Ausbreitung von HIV.
Durch Eisenbahn-Fahrten verteilt sich das Virus
Ständig hielten sich Tausende junger Männer in Leopoldville auf, bevor sie mit der Eisenbahn zu den Diamanten- und Eisenerzminen in Mbuji-Mayi und Elisabethville weiterreisten. Bereits 1922 nutzten rund 300.000 Passagiere die Kongo-Eisenbahnlinie. Bis 1948 stieg die Zahl der Jobsuchenden auf mehr als eine Million jährlich – und in immer mehr Menschen reiste das HI-Virus unerkannt mit. Aus den Industriezentren Mbuji-Mayi und Lubumbashi breitete sich der Erreger über Wanderarbeiter über das gesamte östliche und südliche Afrika aus.
Direkt von Leopoldville gelangte HIV auch in die Neue Welt. Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1960 waren einige Tausend Haitianer in den Kongo gekommen, um Stellen zu besetzen, die nach dem Abzug der Belgier frei geworden waren.
Infolge innenpolitischer Wirren und bedingt durch den Bürgerkrieg nach der Unabhängigkeitserklärung der Katanga-Provinz kehrten die Haitianer 1964 auf ihre Insel zurück. Wie viele Rückkehrer mit HIV infiziert waren, ist unbekannt. Die Zahl reichte aber aus, um eine Pandemie in Gang zu setzen, deren Ursache, das HI-Virus, erst 1983 erkannt wurde.
Ein Kind, eine Klinik, eine Heilerin als Startrampen einer Epidemie
Zurück nach Afrika, aber fast in die Gegenwart: Am 26. Dezember 2013 erkrankte ein 18 Monate alter Junge in dem Dorf Meliandou, im äußersten Nordosten von Guinea, mit Erbrechen, blutigen Durchfällen und hohem Fieber. Zwei Tage später verstarb er an den Folgen eines fulminant verlaufenen hämorrhagischen Fiebers.
Die Eltern erinnerten sich, dass das Kind auf dem Hof der Familie regelmäßig an einem hohlen Baum gespielt hatte, der früchteverzehrenden Fledermäusen als Tagesquartier diente. Möglicherweise nahm das Kind Reste einer mit Fledermausspeichel verunreinigten Frucht in den Mund oder steckte sich durch Kontakt mit Exkrementen der Tiere mit einer Variante des 1976 erstmals beschriebenen Ebola-Virus an.
Ebola: In wenigen Tagen explosionsartiger Ausbruch
In der ersten Januarwoche 2014 erkrankten Familienmitglieder des Jungen mit identischen Symptomen und verstarben nach wenigen Tagen. Ende Januar erreichte ein erster Ebola-Patient das Distrikt-Krankenhaus in Guéckédou, ein chronisch unterfinanziertes Spital mit ausgedünnter Personaldecke und einer desolaten medizinischen Infrastruktur.
Innerhalb weniger Tage kam es zu einem explosionsartigen Ausbruch von Ebola-Fieber beim medizinischen Personal und bei Patienten. Um dem grauenvollen Ort zu entkommen, flüchteten die gehfähigen Kranken in ihre Heimatdörfer und verursachten dort die nächste Infektionswelle.
Als die Patienten in den Spitälern verstarben, kaum dass man sie dort eingeliefert hatte, verstärkten sich in der Bevölkerung vorhandene Ressentiments gegen das öffentliche Gesundheitswesen. Neu Erkrankte wurden jetzt zu traditionellen Heilern gebracht, wodurch die Zahl der infizierten Medizinmänner rasch anstieg.
Die Beerdigung einer besonders renommierten Heilerin aus dem Dorf Sokoma in Sierra Leone am 10. Mai verschaffte der Epidemie einen weiteren Schub: Insgesamt 365 Ebola-Erkrankungen konnten direkt und indirekt auf die Teilnahme an der traditionellen Totenfeier zurückgeführt werden.
Panik durch Fake News
Als mit einer Zeitverzögerung von fast drei Monaten die von der Weltgesundheitsorganisation organisierten Bekämpfungsmaßnahmen das Epizentrum im Dreiländereck Sierra Leone, Guinea und Liberia erreichten, verbreiteten sich in der Bevölkerung Fake News.
Die in den Schutzanzügen aus Sicht der Einwohner wie Astronauten eingekleideten Seuchentrupps, so wurde via Mobiltelefon gewarnt, würden nicht Desinfektionsmittel, sondern Gift versprühen. In Panik verließen die Menschen ihre Dörfer bei Nacht und Nebel. Damit verpuffte die wichtigste und wirksamste Eindämmungsmaßnahme gegen das Ebola-Virus: betroffene Gemeinden mit einem „Cordon sanitaire“ von der Außenwelt abzuschotten.
Endgültig außer Kontrolle geriet die Epidemie, als die ersten Patienten die Hauptstädte Conakry, Monrovia und Freetown erreichten, in denen viele Menschen dicht an dicht in Armenvierteln lebten. Als im März 2016, also 27 Monate nach Fall null, die Ebola-Epidemie von der WHO offiziell für beendet erklärt wurde, war die Bilanz verheerend: 28 610 Menschen waren erkrankt und – je nach Schätzungsmethode – zwischen 28 und 67 Prozent einen qualvollen Tod gestorben. Es war der bislang größte Ebola-Ausbruch der Geschichte, zurückzuführen auf eine einzelne Person mit Kontakt zu Flugsäugern.
Nur drei von vielen Beispielen für gefährliche Zoonosen
Die Liste von Erregern, die ihren ursprünglichen Wirt verließen und desaströse Epidemien verursachten, ist lang und wird stetig länger. Das Lassa-Virus versetzte 1969 zuerst Nigeria, dann den Rest der Welt in Angst und Schrecken.
1980 tauchte das Marburg-Virus unvermittelt aus dem afrikanischen Regenwald auf und verursachte ein hämorrhagisches Fieber, an dem bis zu jeder Achte verstarb – nachdem es 13 Jahre zuvor sieben mysteriöse Todesfälle bei der Pharmafirma Behring in Marburg verursacht hatte, die mit Affen aus Afrika Tierversuche angestellt hatte. Das Hantavirus machte über Jahre das Grenzgebiet von Arizona, Neu-Mexiko, Utah und Colorado zu einem lebensgefährlichen Ort („Four-corner-disease“).
Nipah-Virus: Millionen Schweine werden gekeult
Das West-Nil-Virus und das Zika-Virus verbreiteten sich im Schlepptau von sich weltweit ausbreitenden blutsaugenden Insekten innerhalb je eines Jahres um den Globus.
1998 führte das Nipah-Virus in Malaysia zu mehreren Hundert Fällen von Gehirnentzündung. Da man Schweine als Erregerreservoir vermutete, wurden rund eine Million Tiere gekeult. Tatsächlich stammte auch dieses Virus zumindest ursprünglich aus einer Früchte verzehrenden Fledermaus.
Infektionsepidemiologen kennen seit Langem die treibenden Kräfte, die aus einem singulären Infektionsereignis Ausbrüche werden lassen, die sich in kürzester Zeit zeitlich und räumlich ausbreiten.
Schwaches Gesundheitswesen als Risikofaktor
Dazu gehören immer ein unzureichend vorbereitetes oder chronisch unterfinanziertes Gesundheitswesen, das bei zusätzlicher Belastung schnell kollabiert. Soziale und demographische Faktoren – wie etwa die Hunderttausende Wanderarbeiter und eine florierende Prostitution im Kongo oder Hunderttausende aus Übersee kommende Kriegsheimkehrer – spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle.
Bei Erregern, die sich über die Atemwege verbreiten, werden Ansammlungen von Menschen auf engem Raum (wie die Beispiele Liberty Loan Parade in Philadelphia, Truppentransporte per Schiff, Soldaten in Schützengräben der Westfront) rasch zu Epizentren, die das Infektionskarussell in immer schnellere Drehung versetzen. Verstehen die Entscheidungsträger in der Politik nicht das Prinzip einer exponentiell verlaufenden Ansteckungskette, sind die Folgen desaströs, wie die Epidemiekurven von H1N1-Patienten in Philadelphia zeigen.
Der Tod einer Superheilerin als Beispiel
Die Bedeutung von „Superspreadern“ oder „Superspreading-Events“ – also einzelnen Personen oder Ereignissen, die zu einer überproportional großen Anzahl von Neuerkrankungen führen – lässt etwa der Fall der sierraleonischen Heilerin und ihrer Beerdigung zumindest erahnen. Die Ähnlichkeit zu der Situation beim Après- Ski in Ischgl in Tirol ist augenfällig.
[Der Autor Hermann Feldmeier ist Arzt für Mikrobiologie, Infektionsepidemiologie und Tropenmedizin; er forscht und lehrt am Institut für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie der Charité]
Coronavirus -"Drehscheibe" Ischgl
Wie Tirol das Virus ignorierte
Aber es kommen auch neue Faktoren hinzu: Bei der Ebola-Epidemie von 2013 bis 2016 etwa zeigte sich zum ersten Mal, welche Bedeutung Verschwörungstheorien, Fake News und deren Verbreitung über soziale Medien für Erfolg oder Misserfolg von Bekämpfungsmaßnahmen haben. Moderne Kommunikation kann entscheidend sein dafür, dass es gelingt, eine Epidemie einzudämmen. Sie kann aber auch so fatale Folgen haben wie das Virus selbst.