Im Moment sieht es nicht gut aus für die Grünen, die das Kanzlerinnenamt anstreben. Das kann sich wieder ändern, jetzt, wo die Unionsparteien ihr unsäglich altbackenes Wahlprogramm veröffentlicht haben. Geht doch aus Umfragen hervor, dass den Wähler:innen nichts wichtiger ist als Ökologie. Erstaunlich genug! Und wohl einmalig auf der ganzen Welt. Weder die Angst vor dem Coronavirus noch etwa der Versuch des staatlichen Fernsehens, die grüne Kanzlerkandidatin wie ein Kind zu behandeln, und deren naive Bereitschaft, das auch zuzulassen, haben es verhindern können. Aber warum scheint sich die ökologische Präferenz nicht in Stimmen von Wähler:innen niederzuschlagen?
Zu den Gründen zählt die Demografie, dem soll hier nachgegangen werden. Die Grünen haben weit mehr Anhänger bei denen unter dreißig als bei denen über sechzig: 56 Prozent wünschen sich hier eine Annalena Baerbock als Kanzlerin. Und der Jugend, denkt man, gehört die Zukunft. Aber die „U30“, um sie so zu nennen, fußballanalog, stellen nur noch etwa 15 Prozent der Wahlberechtigten, die „Ü60“ inzwischen fast 40 Prozent. Und die wollen zu 42 Prozent einen Armin Laschet – und nur zu elf Prozent eine Baerbock.
Grafik: der Freitag
Was solch eine Entwicklung für Folgen hat, zeigen die ostdeutschen Verhältnisse, denn dort ist die Überalterung noch stärker ausgeprägt als in Westdeutschland und das, zusammen natürlich mit der ganz anderen politischen Tradition, dürfte die Schwäche der Grünen in dieser Region am meisten erklären. In Ostdeutschland ist der Prozentsatz der Älteren auch deshalb besonders hoch, weil sehr viele Jüngere nach 1990 in ein westdeutsches Bundesland umgezogen sind, wo sie bessere Arbeitschancen erwarteten. Ostdeutsche Wähler:innen sind aber nur eine größere Minderheit im gesamtdeutschen Elektorat, das auch ohne sie überaltert wäre.
Die Stärke der Ü60 in der „Bevölkerungspyramide“ erklärt sich aus dem Baby-Boom nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir sprechen noch von einer Pyramide, obwohl es keine mehr ist, eben weil die Anzahl der Älteren zu einer Wucherung in ihrem oberen Bereich führte, die die Dreiecksform mit dominierender Basis der Jüngeren zerstört hat. Dieser Boom ist ein allgemeines Phänomen, das bei Sieger- wie Verliererstaaten gleichermaßen auftrat. Man versteht ihn leicht: Frauen und Männer hatten wieder mehr Zuversicht, wenn sie erwarteten, was kommen würde, und übertrugen sie auf die Kinder, die sie in die Welt setzten. Begreiflich auch der Unterschied des Boom-Verlaufs in Deutschland und den USA, denn dort kehrten die Soldaten gleich nach Kriegsende heim, hier aber blieben viele noch in der Kriegsgefangenschaft; für Westdeutschland erreichte Konrad Adenauer, der damalige Kanzler, erst 1955 bei seinem Besuch in Moskau die Freilassung. Rein demografisch betrachtet, endete der Krieg für viele deutsche Eheleute gleichsam erst dann. Das erklärt auch, weshalb sich die „68er“ als auffälligste Gruppe der Boomer in den USA mit dieser genau parallel entwickelten, während das in Westdeutschland eben nicht der Fall war. Trotzdem stellen auch hier die Boomer das große Fußvolk, ohne das es damals keine Jugendbewegung der Student:innen und Schüler:innen hätte geben können.
Wie ’68 zu Merkel kam
Wenn heute jüngere Menschen das berechtigte Gefühl haben, ihr Weg in die Zukunft werde von einer trägen Mehrheit der Älteren gehemmt oder sogar verhindert, dann muss sich ihnen vor allem die Rolle der 68er aufdrängen. Die waren zwar stets nur eine Minderheit in der Boomer-Generation, aber ihr politischer, ja ökonomischer, mehr noch aber ihr kultureller Einfluss war von Anfang an gewaltig und hat immer mehr zugenommen. Tatsächlich haben sie sogar den Kapitalismus modifiziert, denn dessen Lenker sahen sich genötigt, ihrem Individualismus und antiautoritären Geist mehr Zugeständnisse zu machen, was als Faktor neben anderen in das Nach-68er- Produktionsregime des „Neoliberalismus“ einging. Politisch trugen sie, nachdem das Experiment der Wiederbelebung kommunistischer Parteien in den 1970er-Jahren gescheitert war, zur Gründung der Grünen das meiste bei. Der lange Marsch der Grünen von 1980 bis heute führte einerseits zu ihrer Verstaatlichung, andererseits aber auch zur Ergrünung der Staatsparteien SPD und CDU/CSU (die sich selbst „Volksparteien“ nannten) vor allem auf kulturellem Gebiet. Es war bezeichnend, dass die drei großen Entscheidungen der Bundeskanzlerin Angela Merkel – 2011 der Atomausstieg als Reaktion auf die Havarie von Fukushima, 2015 die Aufnahme des großen syrischen Flüchtlingstrecks, 2017 die Zulassung der freien Abstimmung über die Homoehe im Bundestag – sämtlich die Handschrift der Grünen trugen.
Da sich dennoch an den ökonomischen und politischen Machtverhältnissen überhaupt gar nichts geändert hat und auch gerade die Ökologie in keiner Weise vorankommt, ist es kein Wunder, dass die Jüngeren mit zunehmender Enttäuschung, ja Wut auf die 68er-Generation blicken. Immer stand sie im Zentrum, während sie selbst nicht zum Zuge kommen. Nichts haben die 68er erreicht, nur dass sie als totes Gewicht auf den Schultern der Jüngeren lasten. So muss es sich denen darstellen. Aber es ist doch nicht ganz gerecht. Wie gesagt, sind die 68er nur eine Minderheit der Boomer. Deshalb kann man gerade sie, die noch am meisten für Innovation in der westdeutschen, nach 1990 der deutschen Politik gesorgt haben, am wenigsten verantwortlich machen. Ist es nicht auch typisch, dass sie in ihrer eigenen Altersgruppe kaum zusätzliches Terrain gewannen, umso mehr aber die Nachwachsenden überzeugten? Denn das beobachtet man überall, zum Beispiel auch in der Wissenschaft: Von der neuen Ansicht eines „wissenschaftlichen Revolutionärs“ lassen sich nur wenige Gleichaltrige überzeugen, weil sie Überzeugungen schon haben und es so schwer fällt, solche aufzugeben. Die Jüngeren hingegen haben zunächst keine, sondern finden mehrere vor, zwischen denen sie sich entscheiden müssen, und wählen diejenige aus, die ihnen am vernünftigsten erscheint.
So haben denn die 68er, seit sie grün wurden, vor allem Jüngere gewonnen. Verstärkt in den letzten Jahren, weil die neuesten Generationen schon in einer Kultur aufwachsen, die von den Grünen maßgeblich mitbestimmt wurde. Im Übrigen sollte aber auch ihr Einfluss auf die Älteren, die Gesamtheit der Boomer, trotz allem nicht unterschätzt werden. Dass er sich dort kaum ausbreitet, ist doch nur insofern richtig, als es keinen nennenswerten Zuwachs grüner Wähler:innen unter den Boomern gibt. Die sind aber trotzdem grüner geworden, in ihren alten Parteiformationen. So kommt es ja, dass eine Angela Merkel nicht anders mehr glänzen konnte als durch grüne Entscheidungen. Der grüne Einfluss konnte bislang noch in den alten Staatsparteien gebunden werden, aber dass der Damm einmal brechen könnte, wird gerade im gegenwärtigen Wahlkampf deutlich, wo die Grünen schon einmal kurz die Umfragen anführten. Es wird auch am Verhalten der wichtigsten Unionsführer deutlich, das bei aller Selbstgewissheit, die zur Schau getragen wird, auch Züge von Panik zeigt. So fällt ein Armin Laschet hinter Merkel zurück, indem er noch einmal, zum letzten Mal die Anhänger des alten Industrialismus zu sammeln versucht. So bläst sich umgekehrt ein Markus Söder zum Ökologen auf und meint, er könne gleichzeitig die Grünen zum Hauptfeind erklären. Dass das ein Widerspruch ist, wird schon niemand erkennen, glaubt er.
Was die Jungen heute ärgert
Das Selbstbewusstsein, das solchen Schauspielern in Wahrheit abgeht, haben die 68er immer gehabt, was aber nur ein weiterer Grund dafür sein dürfte, dass ihr Weg die heute Jüngeren eher ärgert. Denn denen geht es noch mehr ab als Söder oder Laschet, und sie spüren es. Es ist nicht ihre Schuld! Selbstbewusstsein kann einem in die Wiege gelegt werden, aber nur, wenn eine gute Fee es schenkt. Will sagen, es hängt auch von der Zeitgeschichte ab. In Nachkriegskinder setzen Eltern oft irrationale Hoffnungen; sie werden erlebt wie die sprichwörtlichen Lichter am Ende des Tunnels. Um mit Jochen Kleppers Lied zu sprechen: „Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.“ Die Kinder saugen das auf, machen es sich zu eigen. Dazu kommt ihr unbeschwertes Anfangen, von dem Hannah Arendt spricht. Ist es für die Eltern furchtbar, sich nach dem Krieg in Trümmerlandschaften bewegen zu müssen, sehen die Neugeborenen, die nichts anderes kennen, nur herrliche Abenteuerspielplätze. Und wachsen dann auf parallel zur Errichtung der neuen Städte, deren Ästhetik immer kühner wird. Unter diesem Gesichtspunkt stimmen die 68er mit ihrer ganzen Generation überein. Bei ihnen kommt aber noch die mentale Stärkung hinzu, die der so grundsätzliche Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus all denen verlieh, die sich ihm anschlossen in der Vorstellung, sie würden das ganz Neue, endlich Gerechte, nie Dagewesene mit hervorbringen.
Nicht zuletzt die neue Frauenbewegung hat daran teilgehabt. Man denke an den Film Das Wunder von Bern, der es illustriert: Der Vater kommt endlich aus der Kriegsgefangenschaft zurück, Frau und Kinder freuen sich, aber der Vater muss lernen, dass die Mutter auch ohne ihn leben konnte und sich nun nichts mehr vorschreiben lässt. Viele Ehen werden damit nicht fertig, aber wie auch immer, die Töchter erleben es, ziehen ihre Schlüsse.
Was hat dagegen die heute jüngere Generation? Die „Systemauseinandersetzung“ kennen sie nicht, politisch geprägt können sie nur von der Enttäuschung der Folgen der „Wende“ 1990, dem Terroranschlag des 11. Septembers 2001 oder der Wirtschaftskrise in den Jahren nach 2008 sein. Statt aufregender Trümmerhöhlen hätten sie nur langweiliges Konsumspielzeug bekommen, wären nicht die Computer und das Smartphone gewesen. So mussten sie Hoffnung mehr in technische Errungenschaften setzen, wodurch sie im Grunde den jungen Westbürger:innen der 1950er-Jahre ähneln, die alle politische Hoffnung als Ideologie abtaten und sich dafür der neuen Autos, Kühlschränke, Waschmaschinen und Fernseher erfreuten. Und doch sind sie wieder im Begriff, eine politische Avantgarde zu bilden, diesmal um die ökologische Wende herbeizuführen. Aber sie sehen sich mit den Baby-Boomern konfrontiert – nicht nur mit deren Mehrzahl, sondern auch mit einem Selbstbewusstsein, das ihnen fehlt. Es fehlt auch einer Annalena Baerbock, die immerhin 41 Jahre alt ist. Wer erlebt hat, wie einst 68er-Studentenführer auftraten, kann das nicht übersehen.
Wer damals selbstbewusst war, war es als einzelne Person, die allein handeln konnte, aber im Bewusstsein, dass es Andere gab, die in derselben politischen Absicht handelten und sich auf dieselbe weltgeschichtliche Konstellation stützten. Davon ist heute fast nur noch die „Individualisierung“ übriggeblieben, die schon damals weit fortgeschritten, aber eben nicht alles war. Man sieht es auch daran, dass sich die 68er, bei aller Egozentrik, auch zu sozialen Verbänden zusammentun konnten, dem SDS, den maoistischen Parteien, zuletzt noch den Grünen. Den „Piraten“, der AfD, auch der Linkspartei gelingt es heute weit weniger gut. Schlechte Voraussetzungen also für jüngere Ökolog:innen, die Trägheit der Boomer zu überwinden.
Aber kein Grund, nicht an sich selbst zu glauben. Man kann sich eben die historischen Umstände, in die man geworfen wird, nicht aussuchen. Allein wenn jemand begreift, dass sein oder ihr Befinden historisch bedingt, also nicht einfach „selbstverschuldet“ ist, kann sich Schwäche in Stärke umkehren – gegen Menschen, deren Selbstbewusstsein hohl ist, weil sie falsche Ziele verfolgen.
Was wollen die Mütter?
Die Unionsparteien denken jetzt über eine Erhöhung der Mütterrente nach. Alle Mütter sollen unabhängig vom Geburtsjahr ihrer Kinder dieselbe Rente bekommen, fordert CSU-Chef Söder. Schon 2013 und 2017 hatten sie mit dem Thema zu punkten versucht. Zeigt das nicht ihre Schwäche, dass sie derart um die Boomer buhlen? Die wie gesagt schon auf dem Sprung sind, aus ihrem ökologischen Gewissen endlich auch parteipolitische Konsequenzen zu ziehen? Warum werden die älter gewordenen Mütter nicht eher dazu gedrängt, ans Wohl ihrer Kinder und Enkel zu denken, damit die nicht in der ökologischen Katastrophe leben müssen?
Aber das wäre ja die Aufforderung, die Unionsparteien gerade nicht zu wählen. Denn auch Armin Laschet, der Söders Forderung abweist, tut es nur deshalb, weil er sie nicht für finanzierbar hält. Und Söder selbst sagt, sie stehe unter dem Vorbehalt des „Kassensturzes“ nach der Wahl. Als ob er nicht jetzt schon Einblick hätte! Ein Schauspieler eben, wenn auch mit noch so viel Selbstbewusstsein. Gegen diese versammelte Hohlheit sollte ein Wahlsieg doch möglich sein.