von Andreas Weber
Ebola, Aids, Covid-19 – eines haben diese verheerenden Krankheiten gemein: Ihre Erreger sind vom Tier auf den Menschen übergesprungen. Forscher sehen in solchen Zoonosen die Seuchen des 21. Jahrhunderts
Elkerliek-Klinik, Helmond, Niederlande, 5. Juli 2008. Klein und zerbrechlich wirkt das Gesicht der 40-jährigen Frau auf dem Krankenhausbett, bleich trotz der Sonnenbräune, die einige Wochen Trekking-Urlaub in Ostafrika ihrer Haut verliehen haben. Erst vor Tagen ist die Niederländerin ins Städtchen Bakel zurückgekehrt.
Sie hatte Uganda durchquert und dabei die Python-Höhle im Queen-Elizabeth-Nationalpark besucht. Mit einem Führer war sie hinabgestiegen zu den dunklen Schlünden am Fuße eines Felsens, wo Tausende Flughunde der Art Rousettus aegyptiacus die Schlafstätte der Eindringlinge umschwirrten: ein exotisches Erlebnis, auf Tuchfühlung mit Afrikas entlegenster Natur.
Das beginnende Fieber hatte die Frau zunächst als Erkältung abgetan. Doch schnell folgten Schüttelfrost, lähmende Abgeschlagenheit.
Der Hausarzt wies die Patientin in die Notaufnahme des Provinzkrankenhauses Helmond ein. Als sie beginnt, aus Nase und Augen zu bluten, als sich dunkle Ergüsse unter der Haut ausbreiten, das Labor bedrohliche Leberwerte misst, wird sie in die Universitätsklinik Leiden verlegt. Am 11. Juli zeigt das EKG auf der Isolierstation die Nulllinie. Im Blut der Toten hat der Killer seine genetische Signatur hinterlassen: das Marburg-Virus.
Der 1967 entdeckte Erreger aus dem Herzen Afrikas gehört zu den Auslösern „hämorrhagischer Fieber“, bei denen die Blutgefäße durchlässig werden. Nur zwei von zehn Menschen überleben im Schnitt eine solche Infektion, deren Erreger für einige der größten Horrorszenarien der Medizin stehen: Marburg-, Ebola-, Lassa- und Krim-Kongo-Virus.
Viele dieser Krankheiten sind erst seit einigen Jahren überhaupt bekannt. Rätselhaft wie ein Fluch sind sie an irgendeinem Punkt des Globus aufgetaucht.
Unerklärlicherweise verschwanden sie wieder, nachdem sie eine örtliche Todesserie ausgelöst hatten.
Australien 1994: 16 Pferde und zwei Menschen werden Opfer des bis dahin unbekannten Hendra-Virus.
Angola 2004/2005: Über 300 Menschen sterben am Marburg-Virus.
Demokratische Republik Kongo 2007: 166 Dorfbewohner gehen am Ebola-Virus zugrunde.
Bangladesch 2001 bis 2007: 87 Menschen sterben am Nipah-Virus.
Westafrika 2014 bis 2016: Der bisher schwerwiegendste Ebola-Ausbruch rafft mehr als 11000 Menschen dahin.
Inzwischen kennen Forscher eine entscheidende Gemeinsamkeit der unheimlichen Fieber: Es sind sämtlich Zoonosen – Tierkrankheiten, die über Jahrtausende verborgen blieben in den Körpern von Affen, Vögeln, Fledermäusen.
Zoonosen ins Zentrum von Bedrohungsszenarien gerückt
Und in dem Maße, in dem Menschen noch die entlegensten Gebiete besiedeln, dort jagen und Land bestellen, in dem sie Abenteuerreisen in kaum berührte Naturräume unternehmen, exotische Lebewesen essen – in diesem Maße nehmen die Übergriffe von bislang unbekannten Erregern aus dem Tierreich zu. Auch das aktuelle Coronavirus ist einer von ihnen. Zoonosen sind ins Zentrum von Bedrohungsszenarien gerückt. Und längst ein wichtiger Krankheitstyp des 21. Jahrhunderts geworden. Weltweit.
Einige der verheerendsten Infektionskrankheiten stammen von Tieren. Etwa das HI-Virus, Auslöser der weltweit größten Pandemie: Deren Erreger vom Typ-1 sprang erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Zentralafrika von Schimpansen auf Jäger über, die sich am Blut infizierter Tiere ansteckten. Die in Afrika vorherrschende Malaria tropica ist ebenfalls eine Zoonose.
Vermutlich vor 10000 Jahren eroberte ihr aus Affen stammender Erreger, ein einzelliges Sporentierchen, den Menschenkörper. Auch die Pest ist eine Zoonose, ebenso die von Zecken übertragene Borreliose. Und an der Tollwut sterben mittlerweile jährlich 59000 Menschen.
Jedes Jahr werden etwa drei unbekannte Zoonosen bei Menschen gefunden, darunter auch immer wieder neue Varianten der Grippe. Jede von ihnen könnte – zufällig – eine Lücke in der menschlichen Immunabwehr offenbaren und große Teile der Weltbevölkerung krank machen. Das wäre 2003 beinahe schon einmal geschehen: Ein Coronavirus, das möglicherweise aus einer asiatischen Fledermaus- oder Schleichkatzenart stammte und mit der aktuellen Variante verwandt ist, infizierte Ende 2002 einen Bauern mit einer „atypischen“ Lungenentzündung.
Die Seuche, wegen ihrer Atemwegskomplikationen Sars (Severe Acute Respiratory Syndrome) genannt, breitete sich von Hongkong aus und forderte 744 Todesopfer.
Erst knapp vor dem Lawinenstadium einer weltweiten Pandemie konnte sie gestoppt werden. Anders als jetzt in Zeiten der von Corona ausgelösten Erkrankung Covid-19.
Nicht jeder tierische Erreger ist dabei gleich ein Seuchenkeim für Menschen. Er muss erst dazu werden. Viele der gefährlichen neuen Keime haben in anderen Lebewesen ihr unauffälliges natürliches „Reservoir“: Viren, Bakterien oder Einzeller haben sich mit ihren jeweiligen Wirten über Jahrmillionen gemeinsam entwickelt.
Damit sie sich so lange wie möglich im Wirtskörper vermehren können, bringen sie die Tiere, an die sie angepasst sind, nicht um – so wenig wie ein Schnupfenvirus Menschen tötet.
Ein zu 100 Prozent mörderisches Pathogen kann auf lange Sicht nur verlieren. Der Tod seines Wirts würde verhindern, dass das Virus seine Erbanlagen weitergeben kann. An einem Virus zu sterben ist aus dieser Perspektive gleichsam ein biologischer Unfall. Dieser droht dann, wenn die angepassten Erreger einer Art in fremde Lebewesen gelangen, wenn sich Keim und Wirt nie aufeinander abstimmen konnten. Der Körper des neuen Wirtstieres ist daher völlig unvorbereitet – und der Erreger entfaltet erst dort eine erhebliche Zerstörungskraft, die ihm selbst ebenso schadet wie dem Wirt.
Solche Zusammenstöße provoziert unsere Zivilisation immer häufiger. Ungebremst erschließen Menschen die allerletzten Winkel der Tropen. Und ahnen nicht, welche Risiken sie damit eingehen: In Tierarten, mit denen Menschen bisher wenig Kontakt hatten, schlummern womöglich noch Hunderte oder Tausende für uns potenziell mörderische Erreger, hat der Humanbiologe und Virenjäger Nathan Wolfe mal geschätzt.
Aber welche Keime werden uns gefährlich?
Weshalb springen manche von ihnen den Menschen an, andere nicht?
Welche Pathogene drohen, wie das neue Coronavirus, zum pandemischen Schrecken zu werden und warum? Die Fragen der Zoonose-Forschung sind für die Zukunft unserer verflochtenen Welt lebenswichtig. Doch die meisten Antworten lassen sich nicht vom Labortisch aus finden.
Um mehr über die Herkunft und die Verbreitung der tierischen Erreger zu erfahren, müssen Forscher sie dort suchen, wo sie herkommen. Zu diesem Zwecke ist vor einiger Zeit auch eine Gruppe deutscher und afrikanischer Ökologen und Mediziner ins Hinterland Ghanas aufgebrochen, einen Reporter an ihrer Seite.
Mprisi Sacred Cave, Bouyem, Ghana. Als ich in den Schutzanzug klettere, wird die Hitze unerträglich. Bereits beim Abstieg in das kleine Flusstal ist uns der Schweiß aus allen Poren geschossen.
Am Maul der Höhle steht die Luft still, als hätte sie sich in eine erstickende Flüssigkeit verwandelt.
Ein stechender Geruch entsteigt dem Loch, das sich unter einer Felsplatte ins Erdinnere öffnet. Handtellergroße Geißelskorpione betasten die Höhlendecke.
Draußen, im Licht einer schnell fallenden Dämmerung, vibriert der Wald vom Schrillen unsichtbarer Insekten. Schwer atmend beobachten wir im Zwielicht, wie unser Führer einen klaren „Schnaps“ entkorkt. Eindringlich beschwört er den Beistand der Höhlengötter. Jeder der Anwesenden besiegelt den Pakt mit einem Schluck aus der Flasche, dann fliegt sie auf einen improvisierten Steinaltar.
Die von den Ökologen Antje Seebens und Florian Gloza-Rausch geleitete Gruppe beginnt, an langen Ständern einen feinmaschigen Netzvorhang vor dem hellen Spalt des Höhlenausgangs zu schließen. Ihr Ziel: so viele Fledermäuse wie möglich zu fangen und auf Krankheitskeime zu untersuchen.
Die Arbeit der Virenjäger ist Teil einer Kooperation zwischen deutschen Universitäten und dem Kumasi Centre for Collaborative Research in Tropical Medicine, einem Institut für Tropenmedizin in der zweitgrößten Stadt des Landes.
Gloza-Rausch und Seebens gehören damals zum Team des Virologen Christian Drosten, der 2003 das Sars-Virus erstmals identifizierte.
2005 haben chinesische Forscher nachgewiesen, dass dieses Virus ein Rückzugsreservoir im Blut von Hufeisennasen-Fledermäusen hat – einer verbreiteten Gruppe von Flattertieren, die auch die Höhlen von Buoyem bevölkert. Schon bei einer vorherigen Reise fanden Gloza-Rausch und Seebens hier in den Tieren Verwandte des hochinfektiösen Seuchenkeims – wenn auch ungefährliche Varianten, die beim Menschen allenfalls eine Erkältung auslösen. Anhand von deren Übertragungsmechanismen wollen die Forscher Hinweise gewinnen, wie und warum eine kleine Mutation harmlose Fledermausbewohner in Menschenkiller verwandeln kann. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte kaum einer die vielen Kolonien von Fledermäusen untersucht, die es im tropischen Afrika gibt.
Lincoln Gankpala, der Laborleiter, trägt die Fledermäuse, die Gloza-Rausch aus dem Netz entwirrt hat, in weichen Leinenbeuteln zum improvisierten Freiluftlabor.
Fledermäuse leben in den dichtesten Kolonien aller Säuger
Dort hängen sie dann an der Wäscheleine wie zappelnde Päckchen eines seltsamen Adventskalenders. Antje Seebens holt die wild um sich beißenden Kreaturen eine nach der anderen aus den Beuteln, bestimmt Art, Geschlecht, Alter, Gewicht und lässt sie dann wieder in die Nacht entfliehen. Ich sammle mit einer Pinzette den Kot vom Leinen in nummerierte Probengefäße, damit Laboranten in Deutschland mit molekularen Methoden auf Virensuche gehen können.
Vorsichtig greift Seebens in einen der Beutel, der besonders dick ausgebeult ist.
Als ihre behandschuhten Finger wieder erscheinen, halten sie einen großen Nilflughund gepackt. Es ist ein Vertreter jener Art, bei der sich die Niederländerin mutmaßlich am Marburg-Fieber ansteckte.
Seit einigen Jahren ist klar, dass in ganz Zentralafrika verbreitete Flughundarten und auch der Nilflughund ein maßgebliches Reservoir für Ebola-Erreger sind.
Langsam ordnet sich das Puzzle der Pathogene. Das entstehende Bild zeigt: Fledermäuse sind die Hauptakteure im Übertragungsgeschehen, unheimliche Krankheits-Shuttles zwischen Tier und Mensch. So stammt auch das Hendra- Virus aus Brisbane von Flughunden. Das Nipah-Virus in Bangladesch: von Flughunden übertragen. Und für eine der am meisten gefürchteten Zoonosen sind die Fledermäuse auch in unseren Breiten bekannt: Sie übertragen die Tollwut – unbehandelt die Infektion mit der höchsten Todesrate aller Viruskrankheiten.
Aber warum beginnen die Wege so vieler tödlicher Viren gerade bei den Fledertieren?
Was verbindet uns mit diesen Geschöpfen der Höhlen und des Dunkels?
„Fledermäuse gibt es seit 55 Millionen Jahren. Sie gehören zu den ältesten Säugetieren – und stellen zudem deren zweitgrößte Gruppe: Fast 20 Prozent aller Säugerarten sind Fledermäuse“, sagt Gloza-Rausch. Viel Zeit und viele Gelegenheiten also für eine gemeinsame Evolution.
Dazu kommt: Fledermäuse leben in den dichtesten Kolonien aller Säuger. Manche Höhlen sind wahre Megacitys mit mehr als zehn Millionen Einwohnern verschiedener Arten. Und die Nachtgleiter kommen weit herum, knabbern an Obst, das später auch Menschen verspeisen. Kot, Urin und Speichel tropfen auf den Boden und werden von anderen Tieren aufgenommen: von Nagern, Raubtieren, Schlangen, Huftieren, Affen – und von uns.
„Wir wissen nie, worauf wir in einer Höhle stoßen“, sagt Gloza-Rausch hinter seinem Mundschutz. Der Forscher spannt die Schwinge eines Flughunds aus, damit seine Kollegin mit feiner Kanüle etwas Blut abzapfen kann. Jedes Tier könnte eine der gefürchtetsten Tropenvirenarten beherbergen – oder sogar ganz neue, bisher unbekannte Mega-Pathogene.
Das wäre einerseits gefährlich – andererseits ein Segen für die Wissenschaftler.
Jedes neu entdeckte Wirtstier für ein tropisches Virus ist ein Hauptgewinn im Forschungslotto. Ein Puzzleteil im bis- lang kaum bekannten Gesamtbild der Erreger-Ökologie.
Allerdings setzt sich unsere Zivilisation tierischen Keimen nicht nur in der Wildnis aus. Wir tun auch vor der Haustür alles dafür, ihnen die Verbreitung zu erleichtern.
Granjas Carroll de México, nahe La Gloria, Mexiko. Eine Mastfabrik des weltgrößten Schweinefleischproduzenten Smithfield Foods. An einem Samstagnachmittag im März 2009 vermuten mexikanische Gesundheitsbeamte, dass in La Gloria etwas nicht stimmt. Eine seltsame Atemwegserkrankung grassiert im 3000-Einwohner-Städtchen, zwölf Meilen entfernt von den Ställen des Schweinefleischgiganten Smithfield, der hier in Fabrikhallen über 50000 Schweine mästet.
Als zwei Säuglinge in La Gloria sterben, senden die Behörden Krankenschwestern und Ärzte aus. 60 Prozent der Einwohner sind schon krank. Blutproben werden zur Analyse in die USA geschickt.
Der vierjährige Edgar Hernández, der die Ansteckung überlebt, scheint der erste Erkrankte mit einem neuartigen Grippevirenstamm zu sein: Das Virus wird später bei zwei Patienten aus den USA als Subtyp „A/California/7/2009“ des H1N1- Virus identifiziert.
Seit Jahren klagen die Bewohner von La Gloria damals schon über Gestank aus den offenen Gülletanks, in denen sich die Exkremente aus dem Mastbetrieb sammeln, der fast 20-mal so viele Bewohner zählt wie die angrenzende Siedlung. Dabei ist die Smithfield-Mast nur Mittelmaß: Manche Schweinebetriebe in den USA produzieren mehr Gülle als eine Millionenmetropole Abwasser. Auch in manchen deutschen Landkreisen ist die Schweinedichte höher als die der menschlichen Bewohner.
Und jedes warmblütige Lebewesen ist ein potenzieller Bioreaktor, in dem durch Mutationen und Gen-Austausch zwischen unterschiedlichen tierischen Erregern neue Viren entstehen können, die auch für Menschen gefährlich sind. Genau das ist im Frühling 2009 in Mexiko geschehen: Wie in einem natürlichen Reagenzglas hat sich im Körper eines Schweins ein nie da gewesenes Virus sortiert – der H1N1-Stamm der „Neuen Grippe“.
Dessen Erbgut enthält unter anderem Bausteine einer Viren-Linie, die schon 1998 in den Mastfabriken North Carolinas aus einer Kombination von tierischen und menschlichen Grippeerregern entsprungen ist. Schon diese „Vorläufer-Schweinegrippe“ infizierte im vergangenen Jahrzehnt immer wieder einzelne Menschen, aber ohne dass es zum großen Ausbruch, einer Ansteckungswelle zwischen Personen, kam. Dazu fehlte noch die Gen-Komponente eines Vogelgrippevirus, die sich dann, im Körper eines Schweins, in das Genom des milden Erregers eingeschleust hatte – und die dem H1N1-Virus zu hoher Infektiosität bei Tier und Mensch gleichermaßen verholfen hat.
So haben sich im Frühjahr 2009 nicht nur mutmaßlich die Einwohner von La Gloria, sondern auch zwei Gesundheitsinspektoren im kanadischen Alberta an den kranken Schweinen einer Fleischmastfarm angesteckt. Als die stinkend-feuchte Luft ihre Gesichtsmasken beschlagen ließ, rissen die Beamten ihre Schutzausrüstung entnervt ab. Die Tiere waren offenbar ihrerseits von H1N1-kranken Farmarbeitern infiziert worden. Ein Experiment des Friedrich-Loeffler-Instituts auf der Ostseeinsel Riems bestätigte diese Möglichkeit: Menschen können sich mit der H1N1-Grippe nicht nur bei anderen Menschen anstecken, sondern wie in Kanada und Mexiko auch bei Schweinen – und Schweine stecken sich beim Menschen an.
Reichlich Möglichkeiten für ein Virus, Schwung zu nehmen und eine Pandemie ins Rollen zu bringen. Spielen Menschen und Schweine, begünstigt durch industrielle Mastanlagen, einander das Virus ständig wieder zu, so steigt die Gefahr enorm, dass der Erreger dabei rasch neue, womöglich gefährliche Eigenschaften erwirbt. Im Körper der jeweils anderen Art kann er sich immer wieder mit neuen Pathogenen vermischen. Noch riskanter wird es, wenn Vögel ihren Erreger-Pool in den zoonotischen Kreislauf einbringen.
In Chile konnte schon nachgewiesen werden, dass der H1N1-Stamm seinerseits wieder Geflügel befällt. Der Zyklus für ein gefährliches Pingpongspiel zwischen den Arten ist damit etabliert.
Was bei solchen Entwicklungen herauskommt?
Welche Wesen künftig die Brücke zwischen Tier und Mensch überqueren?
Es ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Überall auf der Welt.
Waldkirch bei Freiburg. Morgentau liegt auf dem Gesträuch, schwer hängt der Nebel an den Schwarzwaldhängen. Wie die Virologen Frank Hufert und Gerhard Dobler habe auch ich mir meine Hosenbeine mit vielen Wickeln Klebeband an den Stiefelschäften befestigt.
Unsere Aufmachung erinnert an Wandersleute in Knickerbockern – wäre da nicht das Laken, das einer der Forscher hinter sich durch den Krautwuchs schleift. „Das letzte Mal hatten wir die weißen Ganzkörper-Overalls an“, erinnert sich Hufert – da aber rief einer der Passanten, der den durchs Gebüsch schleichenden Vermummten begegnete, die Polizei.
Hufert und Dobler sind auf der Suche nach Zecken und ihrer Erreger-Fracht. Hier, am Rande des badischen Städtchens, erstreckt sich zur Zeit der Recherche eines der bedeutendsten Endemie-Gebiete der Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). 2009 erkrankten 300 Menschen in Deutschland, im Jahr 2018 bereits 584 Personen. Als Folge droht eine schwere Entzündung des Gehirns und der Hirnhaut. Aber nur 40 Prozent aller Fälle werden durch bekannte Erreger ausgelöst. Der Rest geht auf das Konto bislang namenloser Keime. Nach solchen suchen Hufert, Professor an der Universitätsmedizin Göttingen, und Dobler, der am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr arbeitet, an diesem Morgen.
„Krankheiten sind immer ein ökologisches Phänomen“
Dobler war als Entdecker schon oft erfolgreich: Er konnte etwa zeigen, dass im Oberrheingraben auch das aus dem Mittelmeerraum stammende Toskana- Fieber übertragen wird – von 2001 eingewanderten Sandmücken.
Schuld an solcher Entwicklung ist auch das wärmere Klima, das in den gemäßigten Breiten tropische und subtropische Krankheiten begünstigt. So brach 1999 zum ersten Mal das West-Nil-Fieber in New York aus, 2007 das Chikungunya-Fieber, übertragen durch italienische Exemplare der Asiatischen Tigermücke, in der Po-Ebene. Bei zunehmend milden Wintern in Europa ist selbst eine Rückkehr der hier erst in den 1960er Jahren ausgerotteten Malaria denkbar.
„Als Nächstes könnte das Rifttal-Fieber aus Ostafrika nach Europa kommen“, mutmaßt Hufert. Betrübt mustert er sein Laken. In der Nacht hat sich ein Gewitter über die Rheinebene ergossen, die Gräser sind so nass, dass kaum Zecken hängen bleiben. Das Rifttal-Virus, so Hufert, ist ursprünglich bei Rindern und anderen Wiederkäuern Afrikas endemisch – bei Menschen löst es eine grippeähnliche Erkrankung aus, die zu hämorrhagischem Fieber führen kann. Infizierte Kälber sterben zu etwa 70 Prozent. Über Tiertransporte ist der Erreger bis auf die Arabische Halbinsel gekommen. Er ist nicht wählerisch, was seine Überträger angeht, und kann von vielen Mückenarten weitergegeben werden.
Solche Abläufe, befürchten Mediziner, könnten künftig zur Normalität werden: In Naturräumen, in der sich die angestammten Grenzen von Ökosystemen immer weiter verschieben, öffnen sich auch immer wieder neue, freie Nischen, in die Lebewesen oft schon nach geringfügigen Anpassungen vorstoßen.
Insbesondere Viren mit hoher genetischer Variabilität können solche Freiräume oft rasch und effektiv nutzen.
Äffchen, die auf einem Markt im indonesischen Jakarta angeboten werden – und womöglich ein tödliches Risiko in sich bergen
© AHMAD ZAMRONI/AFP via Getty Images
Kumasi Zoological Gardens, Ghana. Die Dämmerung wirft ein gelbliches Licht über die Hochhäuser und Baracken. Auf dem größten Markt Westafrikas drängen sich Menschen um Tausende von Ständen aus Holz, Planen und Wellblech. Über dem Leibergewirr haben Palmenflughunde ihre Abendrunden begonnen, sich mit rüttelnden Flügelschlägen aus den kargen Bäumen am Rande des Zoos abgestoßen. Eidolon helvum, der Palmenflughund, schwingt sich schwerfällig in die Dämmerung hinauf.
Erst 2009 haben die Forscher um Christian Drosten auch in den Großmarkt-Flughunden von Kumasi Hendra- und Nipah-Viren nachweisen können.
Die hämorrhagischen Fieber sind vielerorts zwischen den Menschen angekommen.
Mediziner wollen herausfinden, ob diese Situation das Potenzial hat, gefährlich zu werden. „Das Gruselszenario besteht darin, dass eine Seuche nicht in einem entlegenen Dschungelnest, sondern in einer Millionenstadt wie Kumasi ausbricht – mit ihrer Anbindung an die Hauptstadt Accra – und von dort in die ganze Welt gelangt“, sagt Frank Hünger vom Forschungszentrum in Kumasi.
Mit dem fortschreitenden Schwund ihrer Lebensräume haben sich die Fledermäuse dem Menschen angeschlossen.
Statt einsamer Baumsavannen bewohnen sie nun Obstgärten und verwilderte Parks – wie die baumbestandenen Flächen des hiesigen Zoos. Um die Flughunde hier auf Erreger zu testen, nutzen die Wissenschaftler die Hilfe der Zoowärter. Diese schießen Fledermäuse häufig mit Zwillen von den Bäumen – als Abendessen.
In einer Befragung durch Drostens Team bejahten auch die Dörfler nahe den untersuchten Höhlen die Frage, ob sie Fledermausfleisch äßen. Die Hälfte nannte als Grund dafür, das Nachtgeflügel sei eine Delikatesse.
Die anderen sagten: „Wieso? Wir essen doch überhaupt kein anderes Fleisch.“ Wildtiere sind eine der wichtigsten Proteinquellen für die Menschen in Afrika. Vielen gilt alles als „Bushmeat“ – vom Flughund über das junge Krokodil bis zum Menschenaffen.
Auf der Straße zwischen Accra und Kumasi sehen wir immer wieder Kinder, die auf Holzrahmen gespannte gedörrte „Grasscutter“, große Rohrratten, verkaufen. In einem Jahr verspeisen allein die Ghanaer über 380000 Tonnen Bushmeat – mehr als 15 Kilogramm pro Person.
Damit bietet sich neuen Keimen eine Eintrittspforte in die Bevölkerung. So wurden die Aids-Erreger HIV-1 und HIV-2 (sogenannte Retroviren) im 20. Jahrhundert mindestens zehnmal von Affen auf Menschen übertragen, hat der Virenjäger Nathan Wolfe geschätzt. Irgendwann explodierte eine dieser Ansteckungen zur globalen Aids-Pandemie, weil der davon Befallene in ein dichter besiedeltes Gebiet reiste oder das Virus in seinem Körper durch neue Komponenten gefährlicher geworden war. Eine Ebola-Epidemie brach 1996 in Gabun aus, als Dörfler einen am Virus verendeten Schimpansen verspeisten.
Auch in China, wo die Sars-Katastrophe von 2002 ihren Ausgang nahm, stehen neben infizierten Schleichkatzen virentragende Fledermäuse auf dem Speiseplan. Und die Corona-Epidemie könnte ebenfalls auf einem Tiermarkt, im chinesischen Wuhan, entstanden sein.
Die Dezimierung wilder Arten durch das Bushmeat-Geschäft erhöht zudem auf indirekte Weise die Gefahr einer Seuche.
Denn nur bei einer hohen Biodiversität, wenn also viele Säugerspezies in einem Gebiet zusammenleben, sind zuverlässig auch Arten darunter, in denen sich ein Virus nicht vermehren kann.
Diese Arten blockieren dann eine Durchseuchung der gesamten Säugerpopulation – so ähnlich, wie es Geimpfte während einer Epidemie beim Menschen tun. Je weniger vielfältig aber ein Ökosystem ist, desto höher die Infektionsrate seiner Bewohner. Ein derartiger Verlust an biologischem Reichtum hat in den ausgeräumten Landschaften Europas und Nordamerikas in den vergangenen Jahren bereits eine Zoonose zur Epidemie anschwellen lassen: die von Zecken übertragene Borreliose, deren Reservoir in Nagetieren liegt.
„Krankheiten sind immer ein ökologisches Phänomen“, hat der kanadische Virenspezialist Tim Brewer mal gesagt. Erreger werden zu Seuchen, weil sie ihren angestammten Lebensraum verlieren. Dort hatten sie sich mit den übrigen Bewohnern über Jahrmillionen gemeinsam entwickelt, sodass die Erreger ihre Opfer normalerweise nicht umbrachten. Erst wenn dieses Gleichgewicht aus dem Lot gerät, kippt die Balance der Keime.
Dabei ist eine infektiöse Krankheit nur der Nebeneffekt einer tiefer liegenden Rolle, die viele Erreger in den Naturkreisläufen spielen. Der Veterinär William Karesh von der Wildlife Conservation Society hat es mal auf diese Formel gebracht: „Jedes gesunde Ökosystem hat seine Pathogene.“
Viren sind gleichsam „Gene auf Wanderschaft“. Sie vermehren sich nur in den Zel- len der befallenen Lebewesen. Einigen Virenarten gelang es, eigenes Erbgut fest in dem ihrer Wirte zu verankern und von ihnen vervielfältigen zu lassen. Studien zeigen auch, dass verschiedene virale Gene unterschiedlicher Viren in Säugetiergenomen vorkommen – so auch Gene des tödlichen Ebola-Virus im menschlichen Erbgut.
Viren haben so ihren Anteil an der Evolution und sind die Kommunikatoren der Stammesgeschichte, Antreiber des Informationsaustausches zwischen den Arten. Solche Austauschprozesse führten zum Beispiel dazu, dass unser menschliches Erbgut zu gut einem Zwanzigstel aus Retroviren stammt – einer Gruppe, zu der etwa das HI-Virus gehört.
Seit es Menschen gibt, sind sie diesem genetischen Bombardement ausgesetzt, haben es sogar vielfach zu ihrem Vorteil nutzen können. Doch je mehr wir durch unseren Lebensstil in die Natur eingegriffen haben, je mehr Arten wir als Haustiere halten oder als Speisen aus der Wildnis verzehren und je weiter wir in bislang ungestörte Ökosysteme von fremden Arten und ihren Keimen vordringen, desto stärker verändern wir die Bedingungen, unter denen wir mit neuen Pathogenen in Berührung kommen.
Für den Virologen Christian Drosten sind Krankheiten daher eine Folge un- serer jeweiligen Kultur – der Rolle also, die wir selbst in einem Ökosystem einnehmen.
Die Pathogene, die uns bedrohen, verändern sich mit und durch uns.
Und das kann schnell gehen.
Verhältnis zu Infektionskrankheiten neu überdenken
So sind viele Krankheiten kaum älter als 11000 Jahre. Pocken, Tetanus, Pest, Grippe und Masern entstanden erst, als die Menschen sich in Städten und Dörfern ansiedelten. Ihre Erreger stammen oft vom Vieh, das auf einmal in dichtem Kontakt zu Menschen stand. Doch die kleinräumige, artenreiche Agrarlandschaft der vergangenen Jahrtausende ist im Verschwinden begriffen.
Mit ihr geht ein historisches Ökosystem der Pathogene und ihrer Wirte unter. Im Zeitalter der Globalisierung werden die Karten des Infektionsquartetts neu gemischt – so wild wie seit Sesshaftwerdung der Menschheit nicht mehr.
Mehr als 140 Jahre nachdem Robert Koch, der Entdecker des Tuberkulose-Erregers, die Seuchenbekämpfung wie einen Krieg nach den Gesetzen der preußischen Landesverteidigung organisierte, müssen wir unser Verhältnis zu Infektionskrankheiten ganz neu überdenken.
„Viren werden immer als das Böse dargestellt, als die Eindringlinge in unsere angeblich so friedliche Welt“, hat der Bundeswehrforscher Gerhard Dobler mal gesagt.
Aber die Feinde lauern nicht „dort draußen“ und warten. Ihre Gefährlichkeit entsteht erst aus der Reibung unserer Zivilisation mit den biologischen Gesetzen. Die viel zitierten „Killer aus dem Dschungel“ – das sind wir häufig selbst.
Andreas Weber ist Biologe und freier Autor. Sein Text "Angriff aus dem Tierreich" erschien erstmals 2011 in GEO und nun in aktualisierter Form im Stern Sonderheft "Corona". Das Heft können Sie hier bestellen.
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