Dass da irgendetwas auf ihn zukommen würde, war Hans-Dieter Wilcken spätestens klar, als er während des Familienurlaubs in Malaysia einen Trip zur Schildkröteninsel gebucht hatte. Auf der Fahrt dorthin musste der Bootsführer alle paar Minuten den Außenborder von Plastik befreien. "Der lachte dabei immer", sagt Wilcken. Die anderen im Boot aber wussten, dass eine Grenze erreicht war. Dass es so nicht weitergeht mit unserem Müll, nicht mal in Asien.
Hans-Dieter Wilcken hat auch außerhalb von Urlaubsreisen mit Müll zu tun. Nicht dass ihm Plastikklumpen in Schiffsschrauben bekannt gewesen wären. Das nicht. Aber als Geschäftsführer der Firma Nehlsen, eines mittelständischen Entsorgungsunternehmens mit Sitz im Bremer Hafen, sammelt Wilcken jedes Jahr 25.000 Tonnen Plastikabfälle ein. Meist Verpackungsfolien, von Discountern. Die werden zu Ballen gepresst und an Abfallmakler verkauft. 8000 Tonnen davon gehen jährlich vor allem nach China.
"Gingen", sagt Wilcken. Von seinem Fenster aus schaut er auf die Rückwand eines Stahlwerks im Hafen. "
Stellen Sie sich vor, Sie rasen auf eine Wand zu. Und das mit Tempo 180. Und keine Ausfahrt in Sicht
."
Der Schrecken, der Wilcken noch immer im Körper zu sitzen scheint, hatte sich eher unspektakulär angekündigt, es war eine Mitteilung des Umweltschutzministeriums der Volksrepublik China, adressiert an die Welthandelsorganisation (WTO) und datiert auf den 18. Juli 2017. In dem Schreiben, WTO 17-3880, teilte China der Welt mit, dass es nach einer dreimonatigen Übergangszeit vom 1. Januar 2018 an die Einfuhr von 24 Abfallsorten verbieten werde. Darunter unsortiertes Altpapier, metallische Schlacken und Aschen, Textilien, Plastikabfälle und Plastikschnipsel, Plastikbruch aus alten Autos, CDs, Elektroschrott und unsortierte Folien, PET-Flaschen und Bobbycars, Shampooflaschen und Kabel und, und, und.
"Ich habe alle ins Besprechungszimmer gerufen und gesagt: ,Ich bitte um Vorschläge.'" Hans-Dieter Wilcken hatte ein Problem. Und nicht nur er.
Der Brief aus China hat die Abfallbranche weltweit in den Panikmodus versetzt.
In kein anderes Land ist in den vergangenen Jahren so viel Plastikabfall geliefert worden. Das meiste davon zwar nur Gewerbeabfall, nicht das liebevoll sortierte Material aus der guten alten Gelben Tonne. Aber Gewerbeabfall in Hülle und Fülle, allein 2016 elf Millionen Tonnen aus Europa. Und von der amerikanischen Westküste gehen täglich 1500 Container über den Pazifik.
Abfall ist das sechstwichtigste Exportgut der USA im chinesischen Markt. Das Verschiffen von Plastikabfall um die halbe Welt macht keinen geringen Teil des internationalen Frachtaufkommens aus.
China war, für Industrieabfall, der Gelbe Sack der Welt. Und der ist jetzt voll. Zugeschnürt, dichtgemacht.
Das WTO-Schreiben vom 18. Juli vergangenen Jahres betrifft jeden irgendwann und alles irgendwie. Es hat Auswirkung auf die Kantenschoner der Ikea-Backöfen und auf die Art, wie unser Kaffee verpackt ist. Es hat zur Folge, dass südlich von Kuala Lumpur ein Tiefwasserhafen ausgebaggert wird und in den USA der Börsenkurs von DowDuPont ansteigt.
Mit dem Schreiben hat auch zu tun, dass die chinesische Familie Deng beim deutschen Recyclingkonzern Alba eingestiegen ist und dass in Schwerin seit Januar schon 20 Delegationen aufgetaucht sind, alle aus China und alle außerordentlich interessiert an einer Wundermaschine, die Müll wieder zu Rohstoff macht.
Es hat Frachtrouten umgeleitet, Verlierer zu Gewinnern gemacht und Abteilungen des Bundesumweltministeriums gegeneinander aufgebracht. Es hat mit vielem zu tun und sehr viel mit uns.
Abfall ist kein Müll. Abfall ist ein Gut wie jedes andere, nur besser.
Abfälle sind das Paralleluniversum zur Warenwelt, ein dunkles
und verborgenes, häufig übel riechendes anderes, ein Stoff, der in gewaltigen Strömen unaufhörlich um den Globus fließt, für den es Handelsagenturen gibt und Börsen, Spekulationen, Schwarzmärkte und Termingeschäfte.
Und das ist so seit dem 27. September 1994. Zu jenem Zeitpunkt erhob der damalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer weltweit erstmals den Abfall zur Ware, und zwar per Gesetz. Sein Kreislaufwirtschaftsgesetz erschuf eine Welt aus Grünem Punkt, Trennbehältern vor jedem Mietshaus und Parkbänken aus unschönem Material.
Es war eine Revolution, eine Wandlung, eine Transsubstantiation wie in der katholischen Messe: Aus Laib wird Leib, aus Dreck ein Sekundärrohstoff, mit dem sich handeln und viel Geld verdienen lässt. Aus Dreck wird Geld! Ein Wunder.
Ein ganzer Industriezweig ist entstanden, mit mehr als elf Milliarden Euro Umsatz allein in Deutschland.
Es gibt inzwischen einen Weltmarkt für gebrauchte PET-Flaschen, wie es einen für Weizen gibt. Auf Alibaba, dem chinesischen Ebay, wird Plastikabfall in jeder Art und Mischung angeboten, ballenweise oder per Container, "Mindestorder 1000 Tonnen", so eine aktuelle Kleinanzeige.
Man kann das "neue Seidenstraße" nennen. Man könnte auch sagen: Cloaca Maxima. Es war ein großes Abkoten in Richtung Morgenröte und kaum der Kreislauf, den sich Klaus Töpfer einmal gedacht hatte.
Das Geschäft funktionierte, weil alle Seiten etwas davon hatten. "Wir haben unseren chinesischen Geschäftspartnern den Plastikabfall ja nicht aufgedrängt", sagt Hans-Dieter Wilcken, der Mann von Nehlsen in Bremen. "Sie zahlten einfach den höchsten Preis pro Tonne."
400 Euro für die Tonne transparenter Packfolie. Fast das Doppelte von dem, was die deutschen Recycler bieten konnten. Die hatten teure Anlagen gebaut, mussten oft mangels Masse aufgeben oder ließen ihre Maschinen auf Minimalbetrieb laufen. China gründete spezielle Einkaufsagenturen in Europa, nur um Abfall aufzukaufen, zu kontrollieren und in verplombten Containern über Hongkong ins Land zu holen.
Denn China hat kein Öl, nicht in ausreichender Menge jedenfalls. Öl aber braucht man für die Herstellung jener Makromoleküle, die Polymere genannt werden, für Polyethylen, Polypropylen, PVC und PC, PVB und PET, mit einem Wort: für Plastik.
Statt sich das Rohplastik von den Chemiekonzernen im Ausland
neu und teuer liefern zu lassen, kaufte sich China gebrauchtes Plastik auf dem Weltmarkt zusammen, mehr oder weniger sauber sortiert. Verarbeitete es in eigenen Fabriken zu Sekundärrohstoff, presste es zu Granulatkugeln für all die Shampooflaschen (Polypropylen), Gießkannen (Polyethylen), Joghurtbecher (Polystyrol), die Fleecejacken (PET), die Handyhüllen und Campingmöbel, all das Zeug also, was - oft in denselben Containern, in denen es als Rohstoff kam - wieder nach Deutschland verschifft wird, zum Großteil über die Terminals von Bremen, direkt unter der Nase von Hans-Dieter Wilcken.
Nach Artikel 34 f. der europäischen Abfallverbringungsverordnung darf Müll die EU verlassen, sofern er mengen- und qualitätsmäßig erfasst ist, "notifiziert", und der Abnehmer eine Lizenz zum Recyceln bekommen hat. Verboten ist nur, die Abfälle auf Deponien oder in Verbrennungsanlagen zu kippen.
Dann passierte, was auch in Mietshäusern passiert: Die Disziplin an der Tonne ließ nach. Schwarze Schafe gibt es überall, und so verkam der gelieferte Abfall immer mehr zu Dreck, unsauber getrennt, mit Störstoffen durchsetzt und unverwertbar. So kam es im Februar 2013 zur Operation "Grüner Zaun", womit ein hartes Durchgreifen des chinesischen Zolls gemeint ist.
Die Kontrollen in den Importhäfen Chinas wurden schärfer: "Die Chinesen erklärten, wir wollen euren Müll nicht mehr, wir wollen guten Kunststoff", sagt Wilcken. Manche Entsorgungsfirmen mussten ganze Frachtladungen zurückholen, auf eigene Kosten.
Das war absehbar - denn Dreck gab es inzwischen genug im Land, wozu sollten die Chinesen noch welchen dazukaufen? Ohnehin bleiben von einer Tonne Altplastik, je nach Güte, bis zu 30 Prozent als unverwertbar zurück. "Spuck- und Störstoffe" hat das die Branche getauft, also Heftklammern im Altpapier, Reißverschlüsse in Textilien, PP in PE und PET in PP.
Über kleine Mengen hatte man bisher kulant hinweggesehen. Aber nicht über "große Mengen von verschmutzten Abfällen oder sogar Gefahrenstoffe", die von Jahr zu Jahr mehr untergemischt waren. So steht es schließlich in dem WTO-Brief und: "Dies verschmutzte Chinas Umwelt ernsthaft."
Es wurde ernst. Dem Grünen Zaun folgte im Frühjahr 2017 die Politik "Nationales Schwert" zur Verstärkung, um "yang laji", Müll des Auslands, zurückzuhalten. Sämtliche Recyclingfabriken in China, knapp 1800 sind es, wurden kontrolliert, jede vierte wurde vorläufig geschlossen, aufgrund von Umweltverstößen. Es gab Verhaftungen und unschöne Bilder von Tischen, an denen Kinderhände Spuck- und Störstoffe herausklaubten.
Seit Herbst vergangenen Jahres sind die Grenzen Chinas für minderwertige Plastikabfälle faktisch dicht, seit Januar auch per Gesetz verriegelt.
"Wir haben noch bis Mitte Februar, bis zum chinesischen Neujahrsfest, gewartet,
ob sich da noch was ändert", sagt ein Großmakler, der auch von Nehlsen mit grob vorsortiertem Gewerbeabfall beliefert wird. "Gewöhnlich kommen dann neue Verordnungen. Aber die sind bei ihrem Beschluss geblieben. Die ziehen das wirklich durch."
Die Chinesen.
Auch die EU hatte auf eine Schonfrist von drei bis fünf Jahren gehofft, vergebens. Nicht einmal Peter Kurth konnte dagegen etwas ausrichten. Kurth ist so etwas wie ein Superfunktionär der internationalen Abfallwirtschaft, er sitzt im Präsidium der Europäischen Föderation der Entsorgungswirtschaft und im Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft. Er appellierte an die Kaufmannsehre der Chinesen, was aber keine Wirkung zeitigte. Kurth war früher einmal Finanzsenator in Berlin und weiß sich auch angesichts von Abgründen gefasst auszudrücken: "In Europa ist der Produzent verantwortlich für die spätere Entsorgung. In China gibt es dieses Prinzip nicht. Aber auch im internationalen Maßstab wäre es angebracht, die Produzentenverantwortung umzusetzen."
Das Problem, vor dem die deutsche Abfallwirtschaft steht, lässt sich ziemlich genau berechnen: Es wiegt 560.000 Tonnen. Das ist die Menge von Altkunststoffen, die 2016 nach Auskunft des Bundesumweltamts zur Verwertung nach China exportiert wurde. Das sind rund 25.000 mit Altplastik vollgestopfte Container, die jetzt irgendwohin müssen.
Und das ausgerechnet in einem Land, das sich als weltbester Müllmann versteht, wo mit philatelistischer Hingabe gesammelt und sortiert wird.
Die Branche macht, was auch der Bürger täte: Sie verfeuert den Kram. Große Entsorger wie Remondis oder die kommunalen Betriebe verfügen über eigene Müllverbrennungsanlagen, die sie jetzt - den Chinesen sei Dank - auf Volllast laufen lassen können.
Das werden sie so nicht zugeben. Aber man darf davon ausgehen, dass Peter Kurth, der Superfunktionär, die richtigen Zahlen kennt. Kurth also sagt: "Ich schätze, dass jetzt 65 bis 70 Prozent unseres Altplastiks als Ersatzbrennstoff, beispielsweise in der Zementindustrie, verwendet oder anderweitig thermisch verwertet wird."
Das wären Hunderttausende Tonnen. Vor allem wäre es das Gegenteil der Politik der Bundesregierung. Gewerbeabfall aus Kunststoff sei, so erklärt schriftlich das Ministerium, "nach Maßgabe des Kreislaufwirtschaftsgesetzes vorrangig einer stofflichen Verwertung zuzuführen, also zur Wiederverwendung und zum Recycling". Und: "Eine energetische (thermische) Verwertung wird nur in Ausnahmefällen zugelassen." Das ist der Sinn der gerade novellierten Gewerbeabfallverordnung.
Man ahnt einen gewissen Handlungsbedarf. Massenweises Verbrennen, und seien die Anlagen auch noch so modern und stubenrein, ist jedenfalls keine Lösung auf lange Sicht. Die Deutsche Umwelthilfe hält diese Entwicklung für "sehr besorgniserregend" und spricht von "Verbrennungsexzess": "Die dabei entstehenden Giftschlacken und Stäube bleiben auch nach ihrer Endlagerung für alle Zeit gefährlich", sagt ihr Abfallexperte Thomas Fischer.
Die Abfallbranche wird sich neu definieren müssen.
Wenn man beim Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung nachfragt, was das genau heißt, bekommt man zur Antwort: "Kunststoffverpackungen müssen jetzt zeitnah in großen Mengen in Europa recycelt werden."
Es wird darum gehen, wie besser getrennt werden kann, von Konsumenten und Produzenten, und wie das Verpackungsdesign dabei helfen kann. Es wird um Quoten gehen, um Marktanteile und um neue Ideen. Dem Weltmarkt für Plastikabfälle passiert gerade das, was sonst Müllsäcken passiert. Er wird geschreddert, durchgepustet, neu sortiert und eingepreist, auf alternative Verwendung getestet.
Und genau deswegen stand am Donnerstagmorgen vergangener Woche eine Gruppe gejetlagter, aber höflicher Herren im Büro von Michael Hofmann in Schwerin.
Die Gruppe kam aus Jinan, der Stadt am Gelben Fluss. Es war bereits die 21. Delegation in diesem Jahr. Allesamt Besucher aus China, meist Kunden, aber auch Investoren.
Michael Hofmann sah vergangenes Jahr keine Wand vor sich auftauchen wie Hans-Dieter Wilcken in Bremen. Im Gegenteil. Hofmann ist seither in Goldrauschstimmung. Er sagt: "Der China-Exit ist eine Jahrhundertchance."