Wenn die Demokratisierung weit genug fortgeschritten ist, dann endet sie im kommunistischen Zwangsstaat. Franz Josef Strauss
Wissen Sie, unsereins hat in einer Region ohne Frank Castorf und Volksbühne keinen ideologischen Überbau, aus dem man sich hier ein Marxzitat und da eine Lenin-Handlungsanweisung ziehen kann. Wir haben keinen Soziologen, der bei der Stasi war und weiss, wo es nach den Beschlüssen des Staatsrates lang geht, und in unseren retardierten Gebieten, in denen Heimat noch etwas gilt, macht man das, was man macht, schon so lange, dass man gar nicht mehr darüber nachdenkt. Das ist ein wenig so wie mit dem Atmen, man macht das halt, weil man es gewohnt ist, aber wenn man daran gehindert wird, merkt man das schon und überlegt sich, warum jemand anderes einem das antut. Und dass es nicht nett ist und man eigentlich schon gern so weiteratmen täte. Deshalb ist einer wie ich immer im Nachteil, wenn er das Wort Heimat schreibt, ihm dafür “Nazi” und “Hatespeech” entgegen schallt und er dann erst einmal überlegen muss. Und überlegen. Und das dauert einfach. Obwohl das inzwischen recht oft passiert, weil andere woanders einen Überbau haben, der ihnen dieses üble Nachrufen anschafft.
Manchmal dauert es mit dem Antworten Jahre, bis es einem einfällt. Aber jetzt hat es geschnackelt, denn dieses Wochenende war wieder der Trachtenmarkt des hiesigen Trachtenerhaltungsvereins, und das muss man sich so vorstellen, dass es draußen Kuchen und drinnen Kleider und Helfer und Aufpasser gibt. An der Kasse sind die Frauen, die hier noch Weiberleit heissen und an der Tür die Männerleit, und dazwischen sind auch Weiberleit und Männerleit und geben Ratschläge zu Farben, Formen und Benutzung der jeweiligen Käufe. Ein so ein Mannerleit ist auch dort gewesen, der wo jetzt nicht ganz den Humor gehabt hat, den wo man auf der Volksbühne hätte spielen können, sondern allerhöchstens bei Terofals Bauerntheater drüben in Schliersee. Und es ist halt so, wie es ist: Er war auch so rein äußerlich zwar schon eine dominante Erscheinung, aber mit den Schnauzbart und den ungekampelten, renitenten Haaren und vor allem der deutlichen Ausprägung in der Körpermitte niemand, den man in einen jener Clubs bringen könnte, die ansonsten selbstverständlich einen ”refugees welcome” Aufkleber an der Tür haben. A rechts Mannsbild nach hiesigen Vorstellungen, humorig und nicht unkommod, aber ich kenne ja meine nördlichen Mitmenschen und ihr präferiertes Menschenbild. Ein paar von denen waren übrigens auch da und verdrehten die Augen bei manchem Ansagen des Mannes, weil so authentisch heimatlich haben sie sich das hier nie nicht vorstellen können.
Aber es ist halt so. Es gab im Saal nur einen Spiegel, alle Sachen für die Männerleit waren auf einem Haufen, und so kam ich öfters mit den Leuten aus der Stadt in Berührung. Der lustige Vogel lächelte sie an, sie waren angewidert. Und wenn der zugereiste Mann eine Joppn probierte, die etwas weit war, sagte seine Begleiterin ganz deutlich, dass das unmöglich aussieht und total fett macht. Das geht gar nicht. Tatsächlich gibt es in der Trachtenmode – nicht Tracht – momentan einen Trend zu dandyhaftem Slim Fit und langen, körpernahen Linien. Da ist so ein traditioneller Trachtenmarkt, auf dem die echten Trachtler ihre alten, zu eng gewordenen Stücke verkaufen, jetzt nicht ganz optimal, weil der durchschnittliche, gerade erst leicht aus der Form gehende Bayer schon ungefähr dreimal so breit wie Norddeutscher ist, bei 2/3 der Höhe. Ausserdem sind die Jacken hier im Oberland oft auch nur kurz wie ein Bolero, weil man zeigen will, was man als Hose darunter trägt. Und wie gut Beine und Schinkenregion geformt sind. Da war also ein Fisimatenten machenden Paar auf der Suche nach langen, schlanken Jacken in einem Saal mit vielen kurzen Joppen, Kleidergrösse 24-28, die aber auch bei 48-56 dem Manne keine geschwungene Linie, sondern ein doppelspitzkegeliges Aussehen verleihen.
Und bescherzt wurden die Anwesenden von einem solchen doppelspitzkegeligen Mannsbild in einer solchen Joppn, das den Angereisten als Idealtypus dessen galt, was sie eher nicht sein wollten. Sie suchten vermutlich so etwas wie Landadelmode und fanden nur diese unkleidsamen Lodensäcke: Seitlich keine Taille, und statt dessen hinten auf der Höhe der Schulterblätter eine endende Naht, ein Stück Stoff und darunter die sogenannte Kellerfalte. Das kommt eigentlich von den Mänteln der adligen Damen des 18. Jahrhunderts, die einen Reifrock trugen und daher Mäntel brauchten, die sich nach unten weit öffneten. In der männlichen Tracht wird der kurze, maskuline Reifrock eher auf Höhe des Bauchnabels mit einem Futter aus Fett und Gedärm vermutet, weshalb man hier die Kellerfalte bei der kurzen Joppn übernimmt. Es schaut, wenn man es sonst nicht kennt, komisch aus. Es macht nicht dünn. Aber es ist praktisch. Versuchen Sie mal, mit einem Slim Fit Sakko einen Baum zu fällen, einen Vorderlader abzufeuern, ein Bierfass zu tragen, durch ein hohes Fenster in das Kammerl der Liebsten einzusteigen, oder bergab einem schlecht gelaunten Stier davon zu laufen. So eine sich automatisch öffnende Falte für mehr Beweglichkeit hat da schon ihre Vorteile.
Gut, es ist jetzt nicht so, dass man hier dauernd körperlichen Aktivitäten nachgeht. Aber wenn man einmal von der Optik absieht, stört die Kellerfalte nicht, und wenn man sie braucht, ist sie da. Steht man am See, hängt hintrücks mehr Stoff herunter, sitzt man auf dem Steg, geht die Falte auf. Es spannt nichts, denn es gibt mit der Kellerfalte variabel Platz für 20cm mehr Bauchumfang. Das ist ausreichend für den Unterschied zwischen unseren kalten Wintern und den Bergsommern, in denen man hier auf die Berge steigt und dabei dünner wird. Man kann eine Weile auseinander gehen, bis so eine Joppe wirklich zu eng wird. So eine Kellerfalte ist eine Art Freiraum für das, was das Leben so mit sich bringt. Unpassend mag es sein, wo man immer und überall schlanke Fitness zu zeigen hat, als Manager oder Landedelmanndarsteller, Aber hier regt sich niemand drüber auf, die Kellerfalte brauchen und haben viele, und wer genug Diridari hat, lässt sich an den Beginn der Falte betont das Seelaub als Zeichen der Seeherkunft nähen. Damit die Grattler aus Miesbach und Tölz gleich wissen, wer ihnen den Rücken zudreht.
Es gibt übrigens auch ein Gegenstück zur Kellerfalte – den Brotzwickl hinten an der Hose, mit dem man die Bundweite um ca. 10 cm variieren kann. Der Hiesige macht die Schnur hinten auf, während der vom Umfang der Mahlzeiten überraschte Gast gezwungen ist, vorne die Hose zu öffnen. Das sieht übrigens noch etwas unvorteilhafter als so eine Kellerfalte aus, aber ob Nazi oder Progressiver: Die Haxn liegt in jedem Bauche schwer, und jeder ist um Spielraum froh, um sein Wohlbefinden wieder zu erlangen. Das ist menschlich, das kennt jeder, diesen Moment, da die Spannung um den Magen nachlässt und man wieder schnaufen statt japsen und sotto voce noch eine Dampfnudel bestellen kann. Nichts drückt mehr, und wer eine Joppn mit Kellerfalte hat, bekommt sogar nachher noch die Joppn zu und niemand sieht, dass da etwas auseinander gegangen ist. Man sieht zwar doppelspitzkegelig aus, aber man fühlt sich wohl, und es ist einem egal, denn man kann es sich leisten. Ausserdem wissen alle anderen auch, dass es so ist, weil sie auch eine Kellerfalte haben, und in einer Region ohne Berufsjugendliche auch zugeben, dass man älter wird.
Also, das ist das, was ich sage. Dass es da diesen Freiraum für das Bauchgefühl gibt, und dass es einem gleichgültig sein kann, ob man doppelspitzkegelig aussieht oder nicht. So eine gewisse Abwesenheit von Einschnürung und Regeln, von Zwängen und Vorstellungen, die anderen wichtig sein mögen, einem selbst aber egal sind. So eine geistig moralische Kellerfalte. Ein eingebautes Hausrecht für ein klein wenig Sauerei und Unmoral, das ein jeder mit sich herumträgt. Ein persönliches Refugium, das garantiert wird, weil es ein jeder für sich in Anspruch nimmt. Das Recht, auch einmal in Ruhe gelassen zu werden und nicht immer gut und richtig sein zu müssen. Das alles ist Heimat. Es ist vielleicht kein sehr schönes Konzept. Aber es passt, und es funktioniert. Bis heute. Man muss es nicht gleich Toleranz nennen, das wäre vielleicht etwas zu viel, aber eine gewisse Liberalität und Selbstsicherheit, die man sich und anderen zugesteht. Wenn alle doppelspitzkegelig sind, muss sich keiner fremd fühlen.
Das ist eigentlich banal, und ein banales Konzept von Heimat, selbst wenn die ein oder andere individuelle Freiheit darin anderen als verächtlich und verdammenswert erscheinen mag. Aber wie es so ist mit den banalen Dingen, andere sehen es anders, und da reicht dann schon die kleinste Abweichung für drakonische Reaktionen. Man durfte da in den letzten Jahren gewisse Erfahrungen machen, wenn man hier den Eindruck hatte, man werde überfremdet und gar nicht mehr gefragt – damals wurde schnell geurteilt, über die Dunkeldeutschen, die nicht verstehen, wie wichtig das alles für die bunte, offene Gesellschaft ist. Das rigorose Heimat-Leben der Anderen bringt nun der rücktrittsgeforderte Justizbelastungsminister Heiko Maas auf eine neue Ebene, ein Mann mit eng geschnittenem Anzug und dem Wunsch, Aussagen ohne gerichtliche Prüfung von sozialen Netzwerken sofort und ohne Debatte löschen zu lassen. Wem das nicht passt, der kann seine etwaige Meinungsfreiheit nachträglich erklagen.
In der schlechten Zeit unter Franz Josef hat die Trachtenfraktion in diesem Land noch versucht, Leute um die Existenz zu bringen, die “Stoppt Strauss”-Buttons trugen. In der schlechten Zeit durfte man den Söhnen der Kellerfalte gegenüber nicht die Staatsdoktrin anzweifeln, dass Atomkraft frei von Risiken ist – wer das im Unterricht gemacht hat, bekam halt schlechte Noten. Heute schlägt der Maas kurz vor dem 100jährigen Noskejubiläum wegen dem, was seine Kaste als “Hasskommentare” bezeichnet, hartes Durchgreifen vor. Es erinnert einen überdeutlich an die ganz schlechten Zeiten, als die Biermöslblosn hier zwar nicht gesetzlich verboten war, aber die Lieder beim Bayerischen Staatsrundfunk trotzdem nicht gespielt werden durften. Weil sie zwar nicht illegal waren, aber als Hass galten. Auch die Staatspartei in Bayern war erfahren darin, zwischen dem klar Verbotenen und dem, was man gefahrlos sagen konnte, einen grossen Graubereich zu installieren.
Es hat lange gedauert, das zu überwinden. Es war ein weiter Weg der gegenseitigen Verständigung, bis sich hier auch die Grantler, die Renitenten und die Unangepassten so etwas wie eine soziale Kellerfalte erkämpfen und gemütlich fühlen konnten. Letztes Jahr war ich auf einer Bürgerversammlung wegen der Asylkrise, und da stand der Sohn eines bekannten Bauern in seinem Trachtenanzug auf und sagte Dinge, die manche Kollegen sicher zu einem Reichsbürgerskandal gemacht hätten. Er sagte verschwörungstheoretischen Schmarrn, der bei Facebook mit dem neuen Gesetzesvorhaben vermutlich sofort gelöscht werden müsste. Er hat geredet, und andere haben etwas anderes gesagt, und inzwischen haben wir regional die Asylkrise recht gut verdaut. Ich bin selbst überrascht, wie gut Heimat in einer Ausnahmesituation in einem kleinen Dorf selbst mit Leuten funktioniert, bei denen andere die Augen verdrehen. Man verdammt sie, weil sie einen anderen Humor haben, weil sie nicht überfremdet werden wollen, weil ihnen das Aufgesetzte der Willkommenskultur gegen den Strich geht, oder weil sie einen Schnurrbart von jener Form tragen, mit der Heiko Maas wie der etwas jüngere Erdogan aussehen würde. Diese Heimat konnte die staatlich erzeugte Asylkrise nur mit einer gewissen Flexibilität, viel Offenheit, Pragmatismus und Fehlertoleranz verdauen.
Also mit allem, was Maas und seinem obrigkeitsstaatlichen Gesetzesentwurf aus dem Wahrheitsministerium abgeht. Ich bin weiss Gott kein Freund der CSU, aber jede Bürgerversammlung, die ich hier erlebt habe, ging mit abweichenden Meinungen erheblich klüger um – das liegt vielleicht auch daran, dass hier keiner auf den ideologischen Überbau einer Ex-Stasi-IM wie Anetta Kahane zurückgreifen kann. Es ist halt Land. Man kann hier schon reden und gut leben. Und Nazivorwürfe sind heute ohnehin zum Erdogan abgesunken.
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Maas und die Heimat der doppelspitzkegeligen Männer
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Don Alphonso
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