Saalfelden. "Schon fertig?" Ja, so ist er, der neue Coach von RB Leipzig. Während sich Berufskollegen über jede Minute, die ein Interview kürzer dauert, freuen, fühlt sich der US-Amerikaner Jesse Marsch, 47, beim Frage-Antwort-Spiel gut aufgehoben. Das kann auch daran liegen, dass der frühere Profi der Major League Soccer (321 MLS-Spiele) einst im Auftrag seiner Klubs und der MLS um Aufmerksamkeit und jeden Fan gekämpft hat. Gespräch mit einem, der sein Glück gefunden hat, Leidenschaft und Lebensfreude vorlebt, hin und weg ist von der Qualität und vom Charakter seiner Männer - und den Spieltag vor allem als Tag der Spieler begreift.
Anzeige
Das Interview mit dem SPORTBUZZER, dem Sportportal des RedaktionsNetzwerks Deutschland, zum Abschluss des Trainingslagers dauerte eine Halbzeit plus Nachspielzeit. In den 48,5 Minuten wies Marsch nach, dass er seine Obsession, nahezu perfekt Deutsch zu sprechen, mit Leben gefüllt hat. Und weil man den Mann, der bei RB 2018/2019 Assistent von Ralf Rangnick war und als zweifacher Double-Sieger mit Red Bull Salzburg in Leipzig aufgeschlagen ist, nicht langweilen will, beginnen wir mit einer Frage nach dem Wohlbefinden.
SPORTBUZZER: Wie geht ́s, Jesse?
Jesse Marsch (47): Gut wäre untertrieben. Ich habe super Menschen um mich herum. Und damit meine ich nicht nur die Spieler. Alle haben Lust, sind motiviert, lieben ihren Job. Wir sind seit vier Wochen zusammen, haben auch hier im Camp hart gearbeitet, hatten viel Spaß. Ich bin glücklich, lebe meinen Traum. Unser Slogan "You can do anything" gefällt mir, passt zu uns und zu mir. Ich bin in Wisconsin geboren ...
DURCHKLICKEN: Die Bilder vom sechsten Tag des RB-Trainingslagers
Zur Galerie
Und täglich grüßt das Murmeltier: Auch am vorletzten Tag des Trainingslagers standen kraftraubende Übungen mit und ohne Ball auf dem Plan.
©
... was nicht gerade der Nabel der Fußball-Welt ist.
Genau. Ich wollte trotzdem Fußball-Profi werden und wurde Fußball-Profi. Dann war mein Traum, Trainer zu werden. In einer europäischen Top-Liga. Meine Chancen lagen dafür bei 0,0 Prozent. Jetzt bin ich Bundesliga-Trainer bei einem Superverein. You can do anything, es ist alles möglich. Mit Vollgas, Überzeugung, Menschlichkeit und Glück. Dass wir liefern müssen, wissen wir.
In Wisconsin wird man Footballer, Basketballer oder Eishockeyspieler. Was lief bei Ihnen falsch?
Ich habe Eishockey, Basketball, Golf und Tennis gespielt, aber Fußball war immer meine Leidenschaft. Das konnte ich am besten. Ich wollte werden wie John Harkes oder Eric Wynalda. Aber als ich in der Highschool einen Austauschschüler aus Argentinien kennenlernte, wurde ich Maradona-Fan. Mein größter Wunsch war es, ihn eines Tages zu treffen.
Getroffen haben Sie im Trikot von Chivas USA im Mai 2007 David Beckham, Star von LA Galaxy. In südliche Gefilde des Körpers. Das war Rot, Mister Marsch.
Es gab gelb, Mister Schäfer. Beckham hatte mich vorher zweimal aus meiner Sicht absichtlich im Gesicht getroffen. Ich habe den Schiri gefragt: "Unternimmst du etwas dagegen? Nein?" Dann habe ich mich selbst gewehrt gegen David.
Und danach standen Sie Nasenspitze an Nasenspitze.
Er fragte "Who the fuck are you?"
Was so viel heißt wie: Wer sind Sie und was wünschen Sie?
Ich hätte mir an seiner Stelle auch diese Frage gestellt. Er war weltberühmt, ich war Jesse aus Wisconsin und hatte ihn gerade getackelt. Wir waren ja alle froh, dass ein Weltstar wie David Beckham in der MLS spielt und die Liga nach vorn bringt. Aber auf dem Platz ist auf dem Platz. Ich habe David danach öfter getroffen, außerhalb des Platzes. Er ist sehr freundlich.
Anzeige
Oliver Mintzlaff hat Sie 2015 zum Cheftrainer von Red Bull New York gemacht. Ihre vorherige Station, Co-Trainer bei den Princeton University-Tigers, war wohl eher weniger ausschlaggebend.
Ich hatte zwei Vorstellungsgespräche in New York, beim zweiten war Oliver Mintzlaff dabei. Irgendetwas hat er in mir gesehen.
DURCHKLICKEN: Die Bilder zum Test von RB Leipzig gegen Ajax
Zur Galerie
RB Leipzig und Ajax Amsterdam trennen sich im österreichischen Grödig mit 1:1-Unentschieden. Torschützen waren Dusko Tadic auf niederländischer und Christopher Nkunku auf deutscher Seite.
©
Sie wurden nach Ihrem ersten Jahr am Big Apple zum MLS-Coach des Jahres gekürt. Man könnte ihre drei Jahre in New York mit "leerer Beutel, große Sprünge" überschreiben.
Ja, wir hatten mit einem vergleichsweise kleinen Etat und vielen jungen Spielern Erfolg.
Ralf Rangnick soll sich 2016 bei Ihnen erkundigt haben, ob Salzburg ein Thema werden könnte.
Ja, aber meine Arbeit in New York war nicht beendet, ich war erst ein Jahr dort. Ich wollte den Verein, der mir diese große Chance gegeben hatte, nicht im Stich lassen.
2018 waren Mintzlaff und Rangnick auf der Suche nach einem Nachfolger für Ralph Hasenhüttl in Leipzig. Sie winkten wieder ab. Klingt nach klarer Kante und Karriere-Plan.
Das hatte vor allem mit einer realistischen Selbsteinschätzung zu tun. 2018 war zu früh für mich als Cheftrainer in der Bundesliga, ich wollte zunächst Co-Trainer sein, lernen. Mein Deutsch war noch nicht gut genug, ich war insgesamt noch nicht so weit. Ralf wollte eigentlich nicht noch mal Cheftrainer werden, er hat es dann doch gemacht - es wurde eine erfolgreiche Saison.
Wie haben Sie Rangnick erlebt?
Er denkt fast 24/7 an Fußball. Das Jahr war nur Fußball, Ideen, Philosophie. Es ging immer darum, jedes Detail noch besser zu machen. Er saß im Cockpit und ist ziemlich schnell geflogen. In den seltenen ruhigen Stunden war er sehr sympathisch, hilfsbereit und ein guter Zuhörer. Sagen wir es so: Ohne diese sehr intensive, inspirierende und schöne Zeit mit Ralf und Helmut Groß (Rangnicks Mentor, Fußball-Philosoph; Anm. d. Red.) wäre ich ein anderer Trainer.
Ihr Deutsch ist beängstigend gut. Sind Sie ein Sprachen-Talent, fleißig oder beides?
Ich war fleißig. Gut Deutsch zu lernen war wie eine Obsession für mich. Das Lernen einer Sprache ist wie das wahre Leben, hat zu tun mit Selbstzweifeln, Motivation und Zielen. Man denkt erst, das lernst du nie, man macht Fehler, man macht dieselben Fehler nochmal - und dann irgendwann nicht mehr. Und wenn man hart arbeitet und sich nicht entmutigen lässt, wird man irgendwann besser. Ich träume manchmal vom Fußball und spreche im Schlaf, sagt meine Frau. Und zwar Deutsch! Das ist überragend.
Ihre Herangehensweise hat mit "back to the roots", zurück zu den Wurzeln der Balljagd zu tun.
Unsere Spieler haben viel von Julian Nagelsmann gelernt, Ballbesitz gespielt. Wir nehmen diese Dinge nicht raus, wollen aber vertikaler und schneller mit mehr Pressing und Gegenpressing nach vorne spielen. Wir wollen einen Mix aus Ballbesitz und Balljagd.
Hat Ihr Landsmann Tyler Adams gute Karten bei Ihnen?
Alle Spieler haben bei mir gute Karten. Oder denken Sie im Ernst, dass ich Tyler spielen lassen, weil wir uns aus New York kennen? Ich habe auch schon mit vielen anderen unserer Spieler zusammengearbeitet. Als Cheftrainer in Salzburg und als Co-Trainer in Leipzig. Es ist also kein komplett neuer Start, ich bin nur in einer anderen Rolle. Es ist cool zu sehen, wie wunderbar sich die Jungs seit 2019 entwickelt haben. Da ist Talent, Ehrgeiz und mittlerweile auch Erfahrung.
Wie hat man sich Ihren Umgang mit den Referees vorzustellen? Diskutieren Sie wegen eines Einwurfs bis aufs Messer?
Schiedsrichter können nie allen alles Recht machen, haben einen schweren Job, den ich respektiere. Normalerweise bin ich ruhig. Wenn ich das Gefühl habe, dass unsere Mannschaft benachteiligt wird, kann schon mal ein emotionaler Impuls vom Seitenrand kommen.
DURCHKLICKEN: RB Leipzigs Zu- und Abgänge im Sommer 2021
Zur Galerie
Der Kader von RB Leipzig bleibt (natürlich) nicht unverändert. Folgende Zugänge zur Saison 2021/22 stehen bereits fest.
©
Der Videobeweis ist ...
... gut, wenn er richtig und für alle nachvollziehbar ein- und umgesetzt wird. Die meisten der falschen Entscheidungen werden einkassiert, das macht das Spiel an manchen Stellen langsamer, aber gerechter.
Wie läuft ein Spieltag bei Ihnen?
Vorm Spiel jogge ich, das lüftet den Kopf. Ich habe als Trainer am Spieltag sieben Patronen. Die letzte Besprechung mit den Jungs, die Halbzeit, plus fünf Wechsel. Der Rest ist am Spieltag für die Spieler. Wir haben die Arbeit in der Woche gemacht, die Spieler wissen, was wir wollen. Am Spieltag geht es um Eigenverantwortung, Klarheit und Mentalität. Wenn sie Unterstützung brauchen, kriegen sie die. Für mich ist Fußball ein Spiel für die Spieler. Mein Ziel ist, dass sie mich am Spieltag so wenig wie möglich brauchen.
Es gibt Trainer, die winken am Seitenrand Flugzeuge ein, hampeln herum, stellen 34 Mal um und lassen sich hinterher als Matchwinner feiern.
Ich spreche nur für mich, meine Überzeugung und unser Team. Natürlich kann und muss es auch taktische Veränderungen geben. Aber wir werfen nicht alle fünf Minuten unsere Strategie um. Football oder Basketball ist ein Spiel für Trainer, da gibt es Hunderte einstudierte Spielzüge. Fußball ist anders, lebt bei aller Ordnung beispielsweise bei Standards auch und vor allem von der Intuition. Ich kann doch einem Emil Forsberg nicht vorgeben, ob er rechts oder links an seinem Gegenspieler vorbeiläuft, ob er schießt, dribbelt oder flankt. Das weiß er in diesem Moment ja selbst nicht. Wir wollen und brauchen Unberechenbarkeit und Überraschungen in unserem Spiel. So schaffen wir neue Spielsituationen und Raum.
Der Sportkamerad Brian Brobbey ist höchst beeindruckt von Ihrer millionenfach geklickten "It ́s not a fucking Freundschaftsspiel"-Andacht an der Anfield Road. Sie selbst hätten den Clip nicht viral gehen lassen.
Hätte ich nicht. Das ist zu oft das F-Wort gefallen. Und dann kam der Eindruck auf, als wenn der Trainer alles gemacht und das Spiel beinahe gedreht hätte. Nein, das war nicht ich, das waren die Jungs, die standen in Liverpool auf dem Platz. Ich habe das Video vorher nicht gesehen, es war trotzdem kurz nach dem Spiel im Netz. Sie haben es zwar wieder rausgenommen, aber es hatte sich schon verbreitet.
Wie stehen Sie zum Thema disziplinarische Maßnahmen?
Ich versuche sie proaktiv zu verhindern, Dinge, die nicht gut sind und sich entwickeln, zu erkennen und frühzeitig anzusprechen. Ich kann mich furchtbar aufregen, wenn die Spieler nach dem Training alles stehen und liegen lassen statt den Betreuern zu helfen und mit anzupacken. Diese Woche hat Emil 40 Leibchen eingesammelt und die jungen Spieler haben ihm dabei zugeschaut. Das geht nicht, da werde ich böse, das hat mit Teamspirit und Disziplin zu tun. Ein anderes Beispiel: Wenn Spieler bei Standardsituationen im Training nicht unseren Plan befolgen, wie soll das dann im Spiel funktionieren? Die Gruppe funktioniert nur, wenn sich jeder Einzelne seiner Verantwortung für das große Ganze bewusst ist. Das alles ist ein steter Prozess, auf den man permanent achten muss.
Ständige Wiederholungen festigen Abläufe. Bei einem Freistoß, beim Gegen-Pressing und beim Einsammeln der Leibchen?
So kann man das sagen.
LVZ-Direktabnahme
Jeden Freitag neu: Melde Dich hier für unseren RB-Leipzig-Newsletter an.
By subscribing, you agree with Revue’s Terms and Privacy Policy.
Der american way of life handelt von Optimismus, Aktivität, Freiheitsliebe und Lockerheit. Stimmt die Beschreibung?
Also das mit der Lockerheit ändert sich je nach Küste. An der Ost-Küste geht es verbissen und streng zu. Je weiter man Richtung Westen kommt, desto lockerer wird es. Meine Familie und ich haben sechs Jahre in Los Angeles gelebt, da habe ich gelernt, das Leben zu genießen. Ohne Freude im Leben ist alles nichts wert.
Wenn Sie abends mit Ihrer Frau in Ihrem Gohliser Wohnzimmer sitzen ...
... oder in einem der tollen Leipziger Restaurants ...
... kommt dann auch die Reise Los Angeles, New York, Salzburg, Leipzig zur Sprache?
Wir haben überall viel erlebt und uns wohlgefühlt. Der Fußball hat uns diese Türen geöffnet - Wahnsinn. Dafür sind wir dankbar.
Stimmt es, dass Sie Tür an Tür mit Christopher Nkunku leben?
Christo wohnt ganz oben im Haus, ich zwei Etagen tiefer. Ich habe ihn vorher gefragt, ob er ein Problem hat, mit dem Coach in einem Haus zu wohnen. Hat er nicht. Das Haus ist groß, man läuft sich nicht ständig über den Weg.
Sie pflegen einen intensiven Kontakt mit den Fans. Rührt das noch aus MLS-Zeiten?
Ich bin grundsätzlich kontaktfreudig, interessiere mich für andere Trainer, Sportarten, die Meinung der Fans. In der MLS waren wir Spieler und Trainer Werbeträger, haben öffentlich um jeden Fan gekämpft.
Sind Ihnen Spieler, die Frau und Kind haben, lieber als Singles, die ab und an nicht im eigenen Bett aufwachen?
Das ist mir egal. Die Jungs sollen leben, Erfahrungen sammeln, ihr Leben als Individuum genießen. Das kann man mit einem seriösen Profi-Leben und der richtigen Vorbereitung auf den Job durchaus verbinden.
Die heutige Spieler-Generation ist mitteilungsbedürftig, fährt auf Social Media ab. Im Fall von Angelino führte das zu Irritationen.
Wenn die Spieler der Meinung sind, dass Instagram, Twitter und Co. wichtig für sie ist, sollen sie es tun. Es geht aber auch immer um Respekt. Gegenüber den Teamkollegen und dem Verein. Ich habe mit Angel über seine Botschaften gesprochen - und er hat es eingesehen.
Wie wichtig sind Ihnen Geld und Luxus?
Nicht wichtig. Wir hatten nie viel Geld, wir können uns jetzt mehr erlauben, als wir brauchen. Schmuck? Auto? Nein. Für uns sind Urlaube wichtig. Und genügend Platz im Haus für Besuch. Und ein gutes Abendessen. Mexikanisch, vietnamesisch, italienisch, deutsch. Ich mag Wiener Schnitzel. Und Rote Beete.
Die Saison wird wie?
Spannend. Viele Top-Vereine haben neue Trainer. Alle wollen einen guten Start, wir natürlich auch. Es ist ein Vorteil, dass ich hier schon mal gearbeitet habe. Ich kenne viele Spieler, viele aus dem Staff, die Abläufe. Es ist eine deutsche Phrase, aber sie passt: Wir gehen Schritt für Schritt.